Abschied vom gestrigen Fortschritt

Die SPD will wieder fortschrittlich sein. Doch der jetzt vorgelegte Entwurf eines "Fortschrittsprogramms" ist alter Wein in neuen Schläuchen. Die Sozialdemokratie muss ihr materialistisches Bild von Wachstum und Wohlstand hinter sich lassen

Anfang Januar hat der SPD-Parteivorstand den Entwurf eines „Fortschrittsprogramms“ vorgelegt, das der Parteitag im Dezember beschließen soll. Angesichts wachsender Skepsis über Zukunft und Nutzen des technisch-ökonomischen Fortschritts soll das Dokument die Diskussion über einen neuen Fortschrittsbegriff anregen. Zugleich sucht die SPD-Führung ein Thema, um die Stagnation der Partei zu überwinden. Die Überzeugung, dass wissenschaftlich-technische Entwicklung zu gesellschaftlichem Fortschritt führt, ist in keiner anderen Partei so stark ausgeprägt wie in der SPD. Für Sozialdemokraten setzt gesellschaftlicher Fortschritt seit jeher voraus, den materiellen Wohlstand und die Konsummöglichkeiten der Lohnabhängigen zu mehren. Deshalb baut die SPD traditionell auf die Steigerung des technologisch-wissenschaftlichen Fortschritts und auf ökonomisches Wachstum. In ihrem Fortschrittsprogramm liest sich das Ziel des „neuen und umfassenden gesellschaftlichen Fortschritts“ dann so: „Eine solidarische Gesellschaft, die individuelle Freiheit mit gemeinsamer Verantwortung aller für alle verbindet. Und in der wirtschaftlicher und technologischer Fortschritt mit individuellem und sozialem Wohlstand, ökologischer Nachhaltigkeit und demokratischer Teilhabe verbunden wird.“

Kein Programm ohne Legowörter

So weit, so gut. Kaum jemand wird dieser allgemeinen Formel widersprechen. Sie besteht aus einer dieser typischen Sequenzen aus „Legowörtern“ (Erhard Eppler), ohne die anscheinend kein Programm auskommt und die in Wirklichkeit wenig erklären. Ist der neue Fortschrittsbegriff der SPD wirklich neu, oder handelt es sich um alten Wein in neuen Schläuchen? Wer es schafft, sich durch die 43 Seiten spröder Prosa zu beißen, wird kaum Neues entdecken. Es ist deshalb auch kein Wunder, dass dieses Papier in der Öffentlichkeit so schwachen Nachhall gefunden hat: Es inspiriert nicht. Und es enthält kein Ziel, für das sich die Menschen begeistern lassen.

Im Unterschied zu den Autoren des Dokuments zweifeln immer mehr Menschen mit guten Gründen daran, dass technologisch-wissenschaftlicher Fortschritt und Wachstum die unabdingbaren Voraussetzungen für gesellschaftlichen Fortschritt sind, und dass auf diese Weise persönliches Glück gemehrt werden kann. Dagegen ist die SPD- Führung überzeugt, die aktuellen großen Menschheitsprobleme ließen sich mithilfe des wissenschaftlich-technischen Fortschritts und mit „gutem Wachstum“ bewältigen: effizientere Energietechnologien gegen die Klimaerwärmung; Wachstum gegen den Hunger in der Welt; Vollbeschäftigung durch „grüne“ Technologien; Wohlstand für neun Milliarden Menschen auf der Erde durch mehr nachhaltiges Wachstum. Das sind Technikfantasien, aber keine Visionen! Die Sorge von immer mehr Menschen, dass sich das bisherige Konsum- und Lebensmodell des Westens angesichts der Grenzen der Natur und der Bevölkerungsentwicklung auf der Erde nicht mehr fortsetzen lässt, soll mit einem solchen prometheischen Machbarkeitsglauben wohl verscheucht werden. Damit bleibt die SPD dem alten Fortschrittscredo und dem Konsum- und Wachstumsmodell des 20. Jahrhunderts trotzig verhaftet.

Unser Lebensstil ist nicht exportierbar

Eine verantwortungsvolle politische Diskussion über unsere Zukunft kann nicht geführt werden, ohne die Tatsache anzuerkennen, dass die Umwelt dem Wirtschaftswachstum und unserem westlichen Konsummodell Grenzen setzt. Das heutige Konsumniveau ist in einer Welt mit demnächst neun Milliarden Menschen nicht haltbar. Unser Lebensstil ist nicht globalisierungsfähig. Wenn zum Beispiel alle Menschen so viel Fleisch äßen und so viele benzingetriebene Autos führen wie wir, wäre der Kollaps der Lebensgrundlagen bald erreicht. Zu glauben, diese Grenzen seien durch wissenschaftlichen Fortschritt unendlich weit ausdehnbar, ist fahrlässig, bestenfalls naiv.

Das Glück der größeren Gleichheit

Eine wichtige Erkenntnis aus der Glücksforschung sollte sich auch in der SPD herumsprechen: Sobald eine Gesellschaft ein bestimmtes Maß an ökonomischem Wohlstand erreicht hat, führen weitere Einkommenssteigerungen und zusätzliches Wachstum kaum mehr zur Steigerung des Glücks. Diese empirische Tatsache lässt sich nach der Lektüre des Buches Gleichheit ist Glück der britischen Epidemiologen Kate Pickett und Richard Wilkinson noch präzisieren: Glück ist keine Frage des persönlichen Reichtums, sondern hängt vom Grad der Gleichheit einer Gesellschaft ab. Und so lange wir unsere sozialen Entbehrungen, etwa fehlende Zeit für menschliche Beziehungen, mit Warenkonsum zu kompensieren versuchen, so lange werden die Menschen auch durch noch so viel Konsum nicht glücklich werden.

Die SPD drückt sich vor der Verantwortung, wenn sie die Menschen glauben machen will, unser Wohlstands- und Konsummodell ließe sich unverändert fortsetzen. Die SPD sollte den Menschen sagen, dass wir eine solidarische Welt nur erreichen können, wenn es uns gelingt, ein neues Wohlstandsmodell zu entwickeln, das nicht-materiellen Zielen folgt – und dass dies Verhaltensänderungen voraussetzt. Darin liegen aber bisher ungenutzte Chancen, unser Leben zu bereichern.

Was bedeutet heute wahrer Wohlstand? Immer mehr Menschen sehnen sich nach mehr Zeit für die wichtigen Dinge des Lebens, besonders nach mehr Zeit für die Pflege von Freundschaften. Wahrer Wohlstand bedeutet, Muße zu haben und die eigene Kraft für etwas einsetzen zu können, das dem Leben Sinn gibt. Wohlstand besteht darin, keine existenzielle Angst haben zu müssen, auch keine Statusangst. Misst man unseren Reichtum an diesen Erwartungen, dann sind wir ein armes Land.

Wahren Wohlstand finden wir jenseits materieller Güter, und es stimmt noch nicht einmal, dass materieller Wohlstand die Voraussetzung dafür ist. Selbst für Arbeitslose gilt: Der materielle Mangel, den sie erleiden, ist nicht das Schlimmste. Das Schlimmste ist das Gefühl, nicht gebraucht zu werden, die Zeit nutzlos zu vergeuden und keine Perspektive zu besitzen. Von alldem ist in dem SPD-Papier leider nicht die Rede. In der Diskussion der Linkspartei über ein Grundsatzprogramm übrigens auch nicht.

Ein gutes Leben für möglichst viele

Was aber könnte der spezifisch linke Beitrag in einer solchen Debatte sein, die mittlerweile in allen Gesellschaftskreisen geführt wird? Die SPD sollte sich daran erinnern, dass ihre Grundwerte – Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität – seit jeher dem Ziel eines besseren Lebens für jeden Einzelnen verpflichtet sind. Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität bleiben so lange unmöglich, wie der Mensch als homo oeconomicus – in seiner doppelten Abhängigkeit als Arbeiter und Konsument – nur dafür da ist, das eingesetzte Kapital zu mehren und den Plunder zu kaufen, der dafür notwendigerweise auf den Markt muss. Um ein gutes Leben für möglichst viele zu ermöglichen, müssen wir den ökonomischen, technologischen und wissenschaftlichen Fortschritt nicht-materiellen Wohlstandszielen unterordnen. Ohne einen Bruch mit der kapitalistischen Logik, wonach alles dem Ziel der Kapitalmehrung dienen soll, wird es ein humanes und solidarisches Wohlstandsmodell nicht geben. Und ohne die Vision eines neuen Wohlstandsmodells werden die Menschen nicht einsehen, dass dieser Bruch notwendig ist.

Wir müssen unser Leben ändern

Mit der Orientierung am Ziel des guten Lebens und dem Glück der Vielen kann die Linke an dem emphatischen Postulat der humanen Gründungsideen der Moderne und der Aufklärung, aber auch der sozialistischen Arbeiterbewegung festhalten. Allerdings verlangt ein gutes Leben in einer guten Welt den Abschied von unserem prometheischen Selbstbild, vom entgrenzten Produktivismus, der die Triebfeder des Kapitalismus ist, von der rücksichtslosen Vernutzung der Natur und von einer Kultur des Konsumismus, die uns nicht glücklich macht. Das ist mehr als die Überwindung der kapitalistischen Eigentumsverhältnisse.

Willy Brandt hat in seinem Vermächtnis an seine Partei gemahnt, „dass jede Zeit eigene Antworten will und man auf ihrer Höhe zu sein hat, wenn Gutes bewirkt werden soll“. An diesem Anspruch gemessen, muss man leider feststellen, dass die Urenkel im Willy-Brandt-Haus unsere Zeit nicht verstanden haben. Will die SPD wieder auf die Höhe unserer Zeit gelangen, dann muss sie zweierlei wagen: Erstens sollte sie die nun wirklich nicht mehr zu leugnenden Erkenntnisse über die Grenzen unseres materialistischen Wohlstandsmodells zur Kenntnis nehmen, anstatt sie als Zivilisationspessimismus abzutun. Zweitens sollte sie einen gesellschaftlichen Verständigungsprozess darüber eröffnen, wie wir künftig in einer Welt mit demnächst neun Milliarden Menschen zusammenleben können, ohne die Grundsätze der Freiheit, der Gerechtigkeit und der Solidarität aufzugeben.

Es mag sein, dass die Menschen unangenehme Wahrheiten nicht hören wollen, aber das hohl gewordene Fortschrittsdogma des 20. Jahrhunderts können viele auch nicht mehr hören. Im Übrigen bleibt der SPD keine andere Wahl, als das Wohlstands- und Konsummodell des 20. Jahrhunderts in Frage zu stellen, wenn sie politisch demnächst überhaupt noch eine Rolle spielen will. Wenn es nämlich nicht gelingt, ein nicht-materielles Wohlstandsmodell zu entwickeln und die Menschen dafür zu gewinnen, und wenn es nicht gelingt, Wirtschaft, Technik und Wissenschaft nicht-ökonomischen Zielen des guten Lebens für eine solidarische Welt unterzuordnen, werden sich in den absehbaren harten Verteilungskämpfen der nächsten Jahrzehnte diejenigen durchsetzen, die heute bereits über die ökonomischen Machtmittel verfügen. Eine solidarische Welt ist nur möglich, wenn wir uns von unserem heutigen Konsum- und Lebensstil verabschieden und ein neues Wohlstandsmodell politisch mehrheitsfähig machen. Die Alternative dazu ist eine Verschärfung der sozialen Gegensätze und Kämpfe. «

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