68/89 - ein doppelter Aufbruch

1968 bedeutete viel mehr als Ho-Ho-Ho Chi Minh rufende Demonstranten. Es war zugleich das Jahr, in dem sich die Traditionslinien "links und frei" verbanden. Von hier aus führte ein gerader Weg zu den europäischen Revolutionen von 1989

Als vor einigen Jahren die Kulturstiftung des Bundes gegründet wurde, bekam sie den Auftrag mit auf den Weg, sich in besonderem Maße der kulturellen Zusammenarbeit mit den mittel- und osteuropäischen Ländern zu widmen. In dieser Linie steht ihr Projekt „crossing 68/89 – Prag und Berlin zwischen Reform und Revolution“. Es eröffnet die Möglichkeit vielfältiger Perspektivwechsel: von Ost nach West und wieder zurück, von 1968 auf 1989 und umgekehrt. Damit bietet es die Chance, unsere oft sehr binnenbezogene deutsche Debatte aufzubrechen und überraschende Wechselwirkungen und Beziehungen zu erkennen.

So wird die Blickrichtung auf die beiden Daten 1969 und 1989 plötzlich eine europäische. Wir in Deutschland können diese Perspektive nutzen, um uns noch einmal in Erinnerung zu rufen, dass der Mauerfall 1989, die Einheit unseres Landes und die Einheit Europas nicht denkbar wären ohne die Zivilcourage, den Mut und die Solidarität der Bürgerinnen und Bürger in den mittel- und osteuropäischen Ländern.

„Wir sind Europa“, so lautete eine der Losungen während der Demonstrationen 1989 von Ungarn bis Rumänien. Ein Ruf, dessen Nachhall und Verwirklichung ich als deutscher Außenminister ganz persönlich erleben durfte, als ich zum Jahreswechsel 2006/2007 – sozusagen als Einstieg in die deutsche EU-Ratspräsidentschaft – zu den Beitrittsfeierlichkeiten in Sofia und Bukarest war.

Dieser europäischen Bewegung haben wir Deutschen viel zu verdanken. Deshalb wollen wir am 20. Jahrestag des Mauerfalles im kommenden Jahr ganz besonders den streikenden Arbeitern in Danzig danken, den mutigen ungarischen Politikern und Bürgern, die im Sommer 1989 den Eisernen Vorhang durchschnitten, den Freunden in Tschechien, die mit der ersten Demonstration im Sommer 1988 und dem Manifest „Einige Sätze“ ein Jahr später den Weg bereiteten für die Ausreise der Botschaftsflüchtlinge und die „samtene Revolution“. Und ganz besonders all denen, die „1989“ erst ermöglicht haben, indem sie seit den sechziger Jahren für Freiheit, Bürgerrechte, Demokratie, Solidarität und ein geeintes Europa stritten. Adam Michnik, Jiri Grusa, Friedrich Schorlemmer und Oskar Negt, mit denen ich vor kurzem in der Akademie der Künste diskutiert habe, stehen stellvertretend für diese Menschen. Deren Einsatz als Bürger, als „Citoyen“ seit zum Teil mehr als vierzig Jahren zeigt: Der Aufbruch, den die Zahl „1968“ symbolisiert, ist Teil unseres europäischen Erbes.

Nicht bloß Che Guevara und Wasserwerfer

Insofern lohnt es sich, Verbindungslinien nachzuzeichnen, die vom gesellschaftlichen Aufbruch der sechziger Jahre hinführen zu den friedlichen Revolutionen des Jahres 1989. Aus diesen Verbindungslinien sollten wir Mut schöpfen für die Zukunft: Mut zur Zivilcourage, zum Kampf um Teilhabe und Gerechtigkeit, Mut zur Gestaltung der großen Aufgaben, die heute vor uns liegen.

In der öffentlichen Diskussion in Deutschland kommt dieser Gedanke viel zu kurz: Wer in die deutschen Tageszeitungen oder Fernsehsendungen schaut, für den besteht „1968“ aus knüppelnden Polizisten, Wasserwerfern und Demonstranten, die „Ho-Ho-Ho Chi Minh“ rufen, Che Guevara für eine Art neuen Messias halten und im Übrigen Hörsaalschlachten veranstalten. Bei der Analyse der Ereignisse stehen dann auf der einen Seite ältere Herrschaften, die sich gern an die Zeiten erinnern, in denen sie jung waren, und die zumindest verbal noch einmal den „Street Fighting Man“ der Rolling Stones geben wollen. Und auf der anderen Seite befinden sich diejenigen, die „1968“ schon immer oder – noch schlimmer – kraft später Bekehrung für den Untergang des Abendlandes halten und die, wie es der französische Staatspräsident Nicolas Sarkozy im Präsidentschaftswahlkampf formulierte, „das Erbe von 1968 liquidieren“ wollen.

Trotzkisten, Maoisten, Stalinisten und andere

In einem solchen „Geschichtsverständnis“ ist kein Platz für den gesellschaftlichen Aufbruch von 1968 und in den Jahren danach. Mittels Geschichtsumdeutung wird versucht, in Deutschland eine ungebrochene, störungsfreie Traditionslinie von Konrad Adenauer bis zu Helmut Kohl zu konstruieren – mit den evidenten politischen Implikationen, die das für die Deutung des Jahres 1989 hat. Was „links und frei“ ist und sich unter dieser Losung versammelte, das stört in einer solchen Konstruktion, so wie die Einsicht stört, dass es auch in unserer Gesellschaft eine Traditionslinie des Einsatzes für bürgerliche Freiheitsrechte, Teilhabe und Demokratie gibt, die von den sechziger Jahren zu 1989 führt.

Diese sozialdemokratische und liberale Traditionslinie ist in unserem Land vor allem mit den Namen Willy Brandt und Gustav Heinemann verbunden. Sie hat nichts zu tun mit den Irrwegen der Trotzkisten, Maoisten, Stalinisten und anderen, für die Sozialdemokraten Verräter im Klassenkampf waren. Sondern sie hat viel mit Sozialdemokraten wie Richard Löwenthal oder Uwe Wesel zu tun, die unter der Brutalität politischer Ausgrenzung durch genau diese unfreie Linke gelitten haben.

Diese Verbindung von „links und frei“ sollten wir auch in der deutschen öffentlichen Diskussion deutlicher konturieren. Sie gab es nicht nur in Deutschland, sondern sie prägte auch viele andere europäische Gesellschaften in Ost und West. Dabei ging es nicht so sehr um Vergleichbarkeiten in den politischen Zuständen, sondern um Gemeinsamkeiten in der Haltung: zu Autoritäten und Machtstrukturen, und eben auch um die Haltung als Bürger, als „Citoyen“.

Nie vor „1968“ jedenfalls schien eine Generation über Grenzen hinweg so viel zu einen, schienen Ziele wie Freiheit, Teilhabe und Transparenz so universell wie damals. Politische Autoritäten, tradierte gesellschaftliche Normen oder private Lebensstile auf den Prüfstand und mitunter auf den Kopf zu stellen, war Teil dieses Lebensgefühls. So ist es kein Wunder, dass die Beat-Musik in der damaligen DDR schon im Jahr 1965 verboten wurde und Jeans-Hosen von Prag bis Paris Zeichen der Rebellion waren. „Seid Realisten, verlangt das Unmögliche“, hieß es bei den Demonstrationen in Paris, und rund um den Globus herrschte auch nach zeitgenössischem Empfinden Aufbruchstimmung. Sie war für die einen Zeichen der Hoffnung, für die anderen eher eine Bedrohung, und oft genug blieb sie auch ambivalent.

„Ich sage nur China, China, China!“

Dabei waren die Ereignisse des Jahres 1968 nur der Kulminationspunkt einer längeren Entwicklung: Die Krisen der alten Imperien, von den Kolonialmächten bis hin zum Sowjetimperium und China, begannen spätestens Ende der fünfziger Jahre. Der Aufstand in Ungarn fand 1956 statt, die Unruhen in Posen und Prag, die Kriege in Vietnam und Algerien, Angola, Mozambique, auch die Rassenunruhen in den Vereinigten Staaten waren Fanale des Wandels schon lange vor 1968. Aber der Kulminationspunkt dieser Entwicklungen lag nun einmal im Jahr 1968, von Prag bis Paris, von Mexiko bis Vietnam.

Ein ganz neuer und vielleicht entscheidender Aspekt waren dabei die transnationalen Austauschbeziehungen und Netzwerke, die sich außerhalb der herkömmlichen, fest gefügten Strukturen und offiziellen Kontakte formten. Junge Menschen in Europa griffen Slogans gegen den Vietnam-Krieg auf, die Tage zuvor amerikanische Studenten erfunden hatten; die „Praxis-Gruppe“ im damaligen Jugoslawien suchte in der Zusammenarbeit zwischen Ost und West einen gemeinsamen neuen Weg; die französischen Demonstranten des Mai 1968 riefen aus Paris der polnischen Regierung zu: „Befreit Kuron, befreit Modzelewski!“ Und eine der großen Figuren des Prager Frühlings, Jiri Pelikan, 1968 Chef des Staatsfernsehens, wurde später Abgeordneter im Europäischen Parlament für die italienischen Sozialisten – all dies sind Elemente neuer Netzwerke und Strukturen, die zuvor undenkbar gewesen wären.

In dieser internationalen, globalen Dimension zivilgesellschaftlicher Zusammenarbeit lag ein damals ganz neues und bis heute prägendes Moment von Aufbruch und Wandel, dem besonders die Konservativen oft mit Unverständnis begegneten. Eines der bezeichnenden Zeugnisse bleibt hier in Deutschland der bekannte Ausruf des damaligen Bundeskanzlers Kiesinger in einer Debatte über die Studentenbewegung: „Ich sage nur China, China, China!“

Um einem solchen Unverständnis in der heutigen Debatte abzuhelfen, schlage ich vor, dass wir das Vexierspiel der Zahlen 68/89 nutzen und den Aufbruch der sechziger Jahre, die zivilgesellschaftliche Entwicklung, die schließlich zum Regierungswechsel 1969 führte, im Jahr 2009 noch einmal besonders würdigen: Hier beginnt eine gesellschaftliche Entwicklung, in der fortschrittliches Denken ganz entscheidend nicht mehr in einer im Nationalstaat verfassten und oft genug verhafteten Politik stattfindet, sondern in zivilgesellschaftlichen Strukturen. Hier liegt das Fundament für eine Entwicklung, die in Deutschland einmündete in die spätere Verbindung von Rot und Grün und die von Gerhard Schröder und Joschka Fischer verantwortete Modernisierungspolitik.

Entspannung zwischen Staat und Gesellschaft

In der Revolte gegen verkrustete Machtstrukturen, gegen mangelnde soziale Durchlässigkeit und mangelnde Teilhabe an Bildung und Wohlstand und – bei uns in Deutschland – in der Kritik an der mangelnden Auseinandersetzung mit den dunklen Seiten unserer Geschichte lag und liegt seit den sechziger Jahren auch die Forderung nach einem moderneren Staat und nach neuen Freiheitsräumen für die Gesellschaft – kurz: nach einem Entspannungsprozess zwischen Staat und Gesellschaft. Ganz besonders deutlich wird das, wenn wir uns in diesem Jahr, in dem wir den 60. Geburtstag des Staates Israel feiern, daran erinnern, dass die Wiedereinbürgerung jüdischer Intellektueller hier in Deutschland – von Herbert Marcuse über Erich Fromm bis zu Karl A. Wittfogel – ohne diesen gesellschaftlichen Aufbruch wohl nie erfolgt wäre.

Gute Gründe sprechen dafür, in diesen Phänomenen der Selbstorganisation, der Modernisierung und der Neubestimmung von Freiheitsräumen den Beginn einer civil society zu sehen, einer Zivilgesellschaft im Sinne einer engagierten Gesellschaft der Bürgerinnen und Bürger, wie sie zum Beispiel der kanadische Philosoph Charles Taylor begründet hat.

Was die vermuffte Republik veränderte

Die Deutschen im Westen unseres Landes hatten das Glück, dass es Politiker gab, die diese Forderung nach Modernisierung und Entspannung verstanden hatten, im wörtlichen Sinne 1969 zur Wahl stellten und mit der sozialliberalen Koalition unter Willy Brandt in Regierungsverantwortung führten. „Wir schaffen das moderne Deutschland“ – dieses sozialdemokratische Versprechen Willy Brandts hieß, sich der Vergangenheit zu stellen, aus ihr zu lernen und für die Zukunft mehr gesellschaftliche Freiheit und Teilhabe zu wagen. Es war sozusagen die Konkretisierung des positiven Freiheitsbegriffes, der den engagierten Bürger, den Citoyen auszeichnet. Und diese Konkretisierung ging einher mit der intellektuellen Aussöhnung der Gesellschaft mit ihren eigenen Wurzeln und mit neuen Möglichkeiten für verschiedenartige und neue Lebensentwürfe. Was uns heute als selbstverständlich erscheint, war damals noch nahezu unvorstellbar. Viele Biografien wären ohne „1968“ wohl ganz anders verlaufen – auch die der Nach-Achtundsechziger, wie meine eigene.

An erster Stelle war hierfür eine neue Bildungspolitik ausschlaggebend, die die vermuffte Bundesrepublik zu einem anderen Land machte. War der Besuch höherer und höchster Schulen bis in diese Zeit weitgehend das Privileg einiger weniger, der happy few, so öffneten sich mit der sozialliberalen Koalition Gymnasien und Universitäten auch für die Kinder weniger begüterter oder gebildeter Elternhäuser. Chancengleichheit und sozialer Aufstieg wurden in den folgenden Jahrzehnten für Millionen Menschen zur Realität. Hingegen hängt der Bildungserfolg in Deutschland heute wieder von sozialer und auch ethnischer Herkunft ab. Es ist daher höchste Zeit, dass wir dieses sozialdemokratische Versprechen der Teilhabe und Modernisierung erneuern.

Moderne Politik überwindet alte Feindbilder

Aber Willy Brandt, Gustav Heinemann und Hans-Dietrich Genscher betrieben nicht nur die innergesellschaftliche Modernisierung und Entspannung. Sie begannen auch den Entspannungsprozess mit den Staaten jenseits des Eisernen Vorhangs, der diese Gesellschaften von Innen veränderte. Der „goldene Angelhaken“ für Demokratie und Menschenrechte, wie das einmal genannt wurde, war der so genannte Korb 3 des Helsinki-Prozesses: Um den Preis der politischen Entspannung mussten sich die Unterzeichnerstaaten zur Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten bekennen. Dieser Ansatz war nicht nur damals neu und modern, er ist es auch heute noch. Moderne Politik überwindet Blockdenken und alte Feindbilder, selbst wenn sie in neuen medialen Schläuchen daherkommen. Nur im Dialog kann man seine Werte vertreten, Belastungsgrenzen des anderen ausloten und vor allem: das Notwendige tun, um konkrete Verbesserungen zu erreichen für die Menschen, für bürgerliche Freiheiten und für politische wie soziale Teilhabe.

Manche wollten diesen Zusammenhang nicht verstehen – und einige verstehen ihn noch immer nicht. In den siebziger Jahren jedenfalls waren in Europa zwei Parteien bis zum Schluss gegen die Zeichnung der KSZE-Schlussakte: die albanischen Kommunisten und die deutsche CDU/CSU. Umso wichtiger ist es, dass wir die richtigen Schlüsse aus dieser historischen Erfahrung ziehen. Wir wissen heute: Mit der Ostpolitik Willy Brandts begann durch politische Annäherung auch ein gesellschaftlicher Wandel in den Staaten des damaligen Warschauer Paktes.

Wir wissen aber ebenfalls, dass es zu den großen Versäumnissen der linken westeuropäischen Parteien gehört, über die Realpolitik diese Kraft des Wandels aus dem Blick verloren zu haben – und damit auch das Vertrauen in die Kraft der Zivilgesellschaft, obwohl diese gerade erst durch die Entspannungspolitik ermöglicht und gestützt wurde. Aus diesem historischen Irrtum sollten wir heute lernen: Ohne den Aufbruch von „1968“ und ohne die Achtundsechziger keine Entspannungspolitik Willy Brandts. Ohne Willy Brandt kein KSZE-Prozess, und ohne KSZE und die Achtundsechziger im Osten keine Gazeta Wyborcza und keine Bürgerrechtsbewegungen – von der Charta-Bewegung in Tschechien über KOR in Polen bis zum Helsinki-Komitee in der Sowjetunion, die ihrerseits wieder die Forderung nach innergesellschaftlicher Entspannung erhoben. Diese historischen Wechselwirkungen müssen immer wieder herausgearbeitet werden. Denn dass die Sprache des Rechts und der Bürgergesellschaft zu Schlüsselelementen einer demokratischen Politik wurden, dass die europäische Einigung zu einem Symbol der Hoffnung auch jenseits des Eisernen Vorhanges wurde – das ist genau diesen Ansätzen zu verdanken.

Eine neue Ära der Entspannung und Freiheit

Der Traditionslinie von 1968 nach 1989 sollten wir uns würdig zeigen, indem wir nicht eine neue Ära der Blöcke, sondern eine neue Ära der Entspannungspolitik einleiten. Und indem wir den Aufschwung, den wir seit zwei bis drei Jahren verzeichnen, auch nutzen zu einem Aufbruch zu mehr Teilhabe und Freiheit – in Europa und in Deutschland.

Überarbeitete Fassung der Ansprache zur Eröffnung von „crossing 68/89 – Prag und Berlin zwischen Reform und Revolution“ der Kulturstiftung des Bundes am 30. Mai 2008.

zurück zur Person