"Nach der Vorrunde ist Klinsmann auf Hartz IV"

Was haben eigentlich Politik und der Lieblingssport der Deutschen miteinander zu tun? Eine Berliner Republik-Exklusivrecherche

In Deutschland ist der Blick aufwärts gerichtet. Die Gäste der Sportsbar Hally Gally verfolgen eine Fußballübertragung auf drei Bildschirmen unter der Decke. Wir Nachtleben-Reporter diskutieren den Zusammenhang zwischen der Verfassung unserer Gesellschaft und der Performance der Nationalmannschaft. Das Wunder von Bern symbolisiert das Wir-sind-wieder-wer-Gefühl der Wirtschaftswunderzeit, das Jahr 1974 mit seinen langhaarigen Helden Beckenbauer, Breitner und Netzer steht für die gesellschaftliche Öffnung der sozialliberalen Ära, die gewonnene Weltmeisterschaft im Jahr 1990 für ein erstarktes Deutschland nach der Wiedervereinigung.

Weiter geht’s in die Union Tanke auf halber Strecke zwischen der S-Bahn-Station Köpenick und dem legendären Stadion An der alten Försterei. Hier glühen die Fans des alten Berliner Arbeitervereins 1. FC Union vor. Wir treffen auf Toni, der über zwei Stunden Anreise aus Neustadt an der Dosse hinter sich hat: „Bei Union gibt es ein paar Glatzen und ein paar Langhaarige, alles sehr gemischt.“ Politik sei ihm aber egal. Was zählt, ist Fußball: Seit frühester Kind-heit ist er Fan. Neben der Union Tanke steht ein Fanartikel-Stand. Auf einem Schal steht: „Fußball, Bier und geile Bräute – Das ist unser Leben.“

Wir machen uns auf ins Stadion. Knapp 6.000 Zuschauer werden hier später sein. Vor dem Spiel läuft im Hintergrund Musik von Keimzeit und Rammstein. An der Würstchenbude erklärt uns Gerd die Zusammenhänge: „Im Spiel ist es leichter als in der Politik: Beim Fußball zählen am Ende nur die Tore.“ Auf der Tribüne verkündet ein Banner „Venceremos“, ein anderes zeigt das Eiserne Kreuz. Tor! 2:1 durch Torsten Mattuschka. Union Berlin ist neuer Tabellenführer der Oberliga Nord. Mit dem traditionellen Schlachtruf „Eisern Union“ peitschen die Anhänger ihre Mannschaft nach vorn.

„Den Sieg vor den Augen, den Blick weit nach vorn“, heißt es in der Club-Hymne, gesungen von Nina Hagen. Wir fragen einen Ordner, ob Deutschland bei der Fußball-WM erfolgreich sein wird: „Nee, nee, nach der Vorrunde ist Schluss.“ Die gegenwärtigen Leistungen der Nationalmannschaft seien Ausdruck der deutschen Misere. Auch Uwe, den wir später in der Vereinskneipe Abseitsfalle treffen, glaubt nicht an einen Erfolg: „Nach der Vorrunde ist Klinsmann auf Hartz IV.“ Der ehemalige Juso-Aktivist ist seit 30 Jahren Anhänger von Union. Im Jahr 1980 saß er mit anderen Union-Fans im Knast, weil sie nach einem Spiel die Stasi verhöhnt hatten.

Im Café King geht es um die kroatische Liga

Auch Natascha erinnert sich, dass der Verein von der DDR-Obrigkeit nicht gerade geliebt wurde: „Manchmal sind die Spiele erst 20 Minuten später abgepfiffen worden, damit Mielkes BFC noch gewinnt.“ Natascha hofft, dass Deutschland bei der WM möglichst weit kommt, da sich ihre Weltmeister-Bahncard bei jedem gewonnenen Spiel um einen Monat verlängert. „Wenn wir Weltmeister werden, dann glauben die Leute wieder an sich, arbeiten anders und konsumieren wieder mehr.“

Von Köpenick in den alten Westen. Was für die Politik Kohls Spendenaffäre war, ist für den Fußball der Schiedsrichterbestechungsskandal. Wir besuchen einen der dunkelsten Orte von Fußballdeutschland, das Café King. Hier wurde gleich seitab von der Gedächtniskirche gewettet und bestochen. Am Nachbartisch sitzen ein paar Russen, eine Flasche Dom Perignon auf dem Tisch. Zum Interieur passt der Eighties-Drink Blue Curaçao. In den runden Lederecken fachsimpeln ein paar Männer über die kroatische Liga, Tipps und Quoten und „den Freigänger“ – wir vermuten, sie meinen den Schiedsrichter Robert Hoyzer. Wir kommen wieder mit unserer Frage nach der Politik. Das findet man hier doof und winkt ab.

Deshalb fahren wir weiter, um uns mit Markus und Sybille vom SC Freiburg-Fanclub „Spree-Bobbele“ in ihrer Stammkneipe zu treffen, dem Szenelokal Schwarzwaldstuben in Mitte. Freiburger Ex-Studenten, die es nach Berlin verschlug, haben den Verein gegründet. Auch die badischen Bundestagsabgeordneten Gernot Erler und Jörg Tauss sind Mitglieder. Der moderne Fußball, findet Markus, sei gekennzeichnet durch das Ende der Ideologien. Es gebe kein Aufeinandertreffen der Systeme mehr. Zwischen der Politik in Zeiten der Großen Koalition und der Spielweise der Nationalmannschaft sieht er eine klare Analogie: „Alle Spiele werden aus der Abwehr gewonnen. So wie die Große Koalition muss die Nationalmannschaft versuchen, aus einer gefestigten Defensive nach vorne zu spielen. Beide müssen versuchen, hinten die Schotten dicht zu machen. Keine Experimente und dann pragmatisch nach vorne.“

Auch Tillmann, der Wirt der Schwarzwaldstuben, erkennt eine Analogie: „In Deutschland wie bei der Nationalmannschaft gibt es derzeit eine gefühlte Krise, die herbeigeredet worden ist.“ Sollte die deutsche Elf bei der WM erfolgreich sein, sei umgekehrt auch neue Euphorie vorstellbar. Tillmann kennt das Phänomen: Als die deutsche Mannschaft bei der letzten WM wider Erwarten bis ins Finale kam, brummte das Geschäft.

Gemeinsam ziehen wir weiter in die Berliner Hansa-Rostock-Kneipe Schuppe’s Sportklause. Markus erzählt von Auswärtsfahrten nach Rostock. Dort singen die Fans „Wir kommen aus dem Osten, wir leben auf Eure Kosten“. Die Einrichtung der Sportklause ist konsequent in blau-weiß gehalten. Wimpel und Fanartikel zieren die Wände. Obwohl die Rostock-Fans als gewaltbereit gelten, gibt es bei Schuppe’s keine Probleme, erzählt Abgeordnetenmitarbeiterin Sybille. Sie findet es schade, dass man auch im Bundestag erklären müsse, dass Deutschland ja schon Fußballweltmeister sei. Mit der Frauenmannschaft. „Das läuft aber leider unter ferner liefen.“ Warum sie für Freiburg hält? „Ich kann mich mit meinem Verein identifizieren. Das Profiteam ist jung und im Stadion herrscht eine gewaltfreie Atmosphäre.“

Beim Fußball gibt es keine Große Koalition

Im Kreuzberger Kiez findet ein SPD-Jugendfußballturnier statt. Acht Vereine spielen gegeneinander. Am Ende überreicht Franz Müntefering die Pokale. Ahmet, der Organisator, ist zuversichtlich, dass die Nationalmannschaft mindestens ins Viertelfinale kommt. „Falls sie bei der WM gewinnt, wird die Große Koalition davon profitieren.“ Wir kommen zurück auf unsere Ausgangsfrage: Was hat Politik mit Fußball zu tun? Für Zuschauer Stefan, Mitglied des Abgeordnetenhauses, ist die Antwort klar: „Bei beidem gibt es Gewinner und Verlierer, beim Fußball aber keine Große Koalition.“

ABSEITSFALLE – Vereinsheim und Kneipe des 1. FC Union Berlin – Hämmerlingstraße 80, Berlin-Köpenick
CAFÉ KING – Szenetreff – Rankestraße 23, Berlin-Charlottenburg
HALLY GALLY – Sportsbar – Hufelandstraße 38, Berlin-Prenzlauer Berg
SCHUPPE´S SPORTKLAUSE – Hansa-Rostock-Kneipe – Torstraße 151, Berlin-Mitte
SCHWARZWALDSTUBEN – Tucholskystraße/Ecke Linienstraße, Berlin-Mitte
UNION TANKE – Aufwärmstation – Am Bahndamm/ Ecke Alte Kaulsdorfer Straße, Berlin-Köpenick

zurück zur Person