Wenn sich der Exportweltmeister selbst besiegt

Die Kritik an Deutschlands Handelsüberschüssen wird hierzulande reflexartig als Angriff auf unsere Stärken verurteilt. Dabei würde eine Kurswende vor allem uns selbst vor künftigen Krisen schützen

Bei alten Ehepaaren reicht gelegentlich ein Reizwort, und schon ist der Streit wieder da, mit den immer gleichen Vorwürfen. So ähnlich ist das mittlerweile, wenn amerikanische Politiker, internationale Ökonomen und seit kurzem auch EU-Beamte diese Sache mit den deutschen Exporten ansprechen – und dass wir einfach zu viel Überschuss haben. Sofort kommt völlig entrüstet der Konter: „Die sind nur neidisch!“ Meist werden noch hastig deutsche Tugenden zitiert. Und über das Böse im ausländischen Politiker gemutmaßt. Fertig. Kritik abgewehrt.

Nun ist es durchaus möglich, dass nicht alle Politiker im Ausland uns immer nur Gutes wollen. Ob deshalb die Dauerkritik an historisch hohen deutschen Handelsüberschüssen so grundlos boshaft ist, lässt sich bei etwas nüchterner Betrachtung dennoch bezweifeln. Gut möglich sogar, dass es sich als unser ureigenes Interesse erweist, das Problem zu beheben.

Wir importieren einfach zu wenig

Wer die Kritik auf die plumpe Aussage reduziert, dass wir angeblich zu viel exportieren, macht es sich zu einfach. Es gibt ökonomisch natürlich keinen triftigen Grund, die Höhe von Exporten per se einschränken zu wollen. Den gewissenhaften Kritikern geht es aber darum, dass wir sehr viel weniger bei anderen einkaufen, als wir dort verkaufen. Vergangenes Jahr haben wir sage und schreibe 200 Milliarden Euro mehr exportiert als importiert. Das ist absoluter nationaler Rekord und Weltrekord zugleich. Man könnte auch sagen: Gemessen an unseren Exporten importieren wir einfach zu wenig. Und das ist auf Dauer schon ein Problem, auch für uns.

Hinter den enormen Überschüssen von Exporten gegenüber eigenen Käufen im Ausland steckt zum einen, dass wir mittlerweile in zweifelhaft-gefährlichem Ausmaß abhängig von der Konjunktur in anderen Ländern sind. Was das bedeuten kann, haben deutsche Firmen in den vergangenen Jahren bereits zweimal in Ansätzen zu spüren bekommen. Kaum ein anderes Land hat Exporte und Wirtschaftsleistung in der großen Rezession 2009 so einbrechen sehen. Auch die Eurokrise hat unsere angeblich so starken Exporte 2012 zeitweise gefährlich sinken lassen – und ganz schnell dazu geführt, dass die gesamte Wirtschaft 2013 kaum mehr wuchs. Ein Warnschuss. Was ist, wenn die globale Konjunktur einmal ernsthafter kriselt und Notenbanken und Regierungen nicht so schnelle und teure Rettungsmaßnahmen ergreifen können wie 2009? Die Verkäufe im Ausland entsprechen mittlerweile mehr als der Hälfte dessen, was hierzulande produziert wird; im Jahr 2000 war es gerade einmal ein Drittel, nach der Einheit sogar nur ein Viertel. Solche Abhängigkeitswerte haben sonst nur kleine Länder, denen der entsprechend große Binnenmarkt fehlt.

De facto lebt Deutschlands Exportwirtschaft damit immer auch von Ausgabenpartys anderer – mit entsprechender Rückfallgefahr. Genau hier liegt die zweite, noch größere Tücke allzu hoher Exportüberschüsse. Wenn ein so großes Land wie Deutschland jährlich eine Fünftel Billion Euro mehr im Ausland absetzt als dort auszugeben, heißt das ökonomisch, dass der Rest der Welt sich per Saldo mit eben diesen 200 Milliarden Euro verschulden muss, also mehr Geld ausgibt als bei uns umsetzen zu können. Anders gesagt: Es muss dann rein logisch auf der Erde Länder geben, die insgesamt entsprechend hohe Defizite in ihrem Außenhandel haben (zumindest solange wir Made in Germany noch nicht auf dem Mars verkauft bekommen). Das ist ein Exporttanz auf dem Vulkan.

All das wäre halb so schlimm, wenn der Überschuss um einiges kleiner wäre oder nur mal in einem Jahr auftritt. Bei den Deutschen ist das Ding aber riesig und ein Dauerrenner. Zählt man die Überschüsse zusammen, die Jahr für Jahr seit 2000 eingefahren wurden, ergibt das die enorme Summe von mehr als 1,5 Billionen Euro. Eineinhalb Billionen Defizit und Schulden bei anderen.

Erst mitgeboomt, dann mitgecrasht

Es wäre fahrlässig und naiv, dies als Problem der anderen abzutun. Wer Jahr für Jahr so viele Verbindlichkeiten anhäuft – also anderen Kredite gibt – kann anschließend nicht so tun, als hätte er mit dem Schuldenproblem nichts zu tun. Wer derartig hohe Einnahmeüberschüsse hat, der verfügt auch über entsprechend viel Geld, das er rund um den Globus anlegen muss. Und je höher die Summen, desto unwahrscheinlicher ist es einfach, dass das Geld nicht auch dazu gebraucht wird, um in gefährliche Blasen einzusteigen und zu spekulieren – also genau das zu tun, was deutsche Banken in den nuller Jahren mit den Überschüssen gemacht haben, indem sie am amerikanischen Subprimemarkt investiert oder spanische Immobilien gekauft haben. Mitgeboomt. Mitgecrasht.

Wie sonst lässt sich erklären, dass deutsche Banken derartig stark von der globalen Finanzkrise erfasst wurden, obwohl die hiesige Wirtschaft doch als so solide aufgestellt galt? Dazu kommt: Die Erfahrung lehrt, dass Defizitländer die Korrektur selten hinbekommen, wenn ihnen nicht geholfen wird und andere bereit sind, dort einzukaufen.

Gern wenden die Gralshüter unserer Exportüberschüsse mit viel Verve ein, dass sich die Exporte nun einmal am freien Markt ergeben. Botschaft: Da kann (und darf) man nichts machen. Wirklich? Bei näherer Betrachtung ist der Befund vom quasi-natürlichen Entstehen des Phänomens entweder blauäugig oder frech. Es war ja über viele Jahre das ausdrückliche politische Ziel, die deutsche Wirtschaft via Agenda 2010 um jeden Preis wettbewerbsfähiger zu machen und, wo es geht, Kosten zu kürzen, auch wenn das Kürzen von Gehältern und anderen Kosten in aller Regel gleichbedeutend mit einer gekürzten Binnennachfrage war. In dem tiefen Glauben, dass die Binnennachfrage dann schon irgendwann nachzieht. Das kann man machen. Nur darf man sich dann nicht wundern, wenn am Ende dramatisch viel mehr Exporte als Importe herauskommen, weil die Nachfrage eben doch nicht automatisch nachzieht. Das ist kein spontanes Marktresultat, sondern das Ergebnis einer wirtschaftspolitischen Strategie. Eine Strategie, für die sich die Beteiligten ja auch gern feiern lassen – und den Kollateralschaden wegdenken.

Warum wir im Inland Dynamik brauchen

Von allein wird sich das Problem nicht mehr beheben. Da die Importe mittlerweile so niedrig sind, müssten sie rein arithmetisch sehr viel höhere Prozentzuwächse verzeichnen als die Exporte, um das reine Volumen des Überschusses überhaupt sinken zu lassen. Und: Anders als es mancher Prognostiker seit geraumer Zeit schönzureden versucht, ist in Deutschland die Binnennachfrage gar nicht so eindrucksvoll nachgezogen. Es ist ja grotesk, einen Bonsai-Zuwachs der Konsumausgaben von nicht einmal einem Prozent im Jahr 2013 als boomende Binnennachfrage hochzuloben. Ein solcher Wert gilt anderswo als Krise. Selten haben Unternehmen in einem Aufschwung so viele Investitionen gekappt wie die deutschen in den vergangenen beiden Jahren. Von wegen Boom. Hätte die Dynamik im Inland so stark angezogen, müsste es mehr Importe und sinkende Überschüsse im Außenhandel geben – und nicht steigende. Da stimmt etwas nicht.

Als trügerisch droht sich gerade für uns Deutsche das Kalkül zu erweisen, die Ungleichgewichte verschwänden schon, wenn nur die Defizitländer ihre Wettbewerbsfähigkeit verbessern. Allerdings würde die Verschuldung dort ja nur dann sinken, wenn sich unsere Wettbewerbsfähigkeit entsprechend verschlechterte; bliebe sie bei uns unverändert stark, würden unsere Überschüsse auch nicht sinken. Wollen wir das wirklich? Alle historische Erfahrung lehrt, dass Länder ihre Außendefizite auf Dauer nur abgebaut bekommen, wenn ihre Produkte von anderen Ländern ausreichend gekauft und importiert werden.

Der eindeutig galantere Weg wäre es, die Strategie endlich zu korrigieren, die Agenda umzudrehen und für ein paar Jahre einmal alle wirtschaftspolitische Energie darauf zu verwenden, so effektiv wie möglich im Inland für Dynamik zu sorgen. Potenzial dafür gäbe es allemal. Warum nicht zögernde Investoren locken, indem man ihnen zeitlich begrenzt Sonderabschreibungen gewährt? So wie das – Zufall oder nicht – die vorige Große Koalition Ende 2005 beschlossen und ziemlich erfolgreich in die Tat umgesetzt hat. Damals zogen die Investitionen auch deshalb kurz darauf kräftig an, und die Sache finanzierte sich über steigende Steuereinnahmen schnell selbst.

Zeit für eine richtige Agenda 2020

Warum nicht Klimaschecks verschicken und dafür sorgen, dass die Leute im Land als Ausgleich für Kaufkraftverluste durch steigende Energiepreise zusätzliches Geld erhalten? Dieses Instrument würde auch die Akzeptanz der Energiewende wieder steigen lassen, zu strategisch wichtigen Investitionen in eine bessere Zukunft beitragen – und sich im Zweifel über kurz oder lang ebenfalls selbst finanzieren.

Mit einem Progrämmchen hier oder da wird es aber nicht getan sein. Dafür sind die Importe schon viel zu lange viel zu langsam gestiegen. Dafür hat Deutschland schon zu lange auf ein viel zu gefährliches, einseitig definiertes Erfolgsmodell gesetzt. Vonnöten wäre ein auf Jahre angelegtes Projekt, das die deutsche Wirtschaft am Ende viel ausgeglichener expandieren lässt und Deutschlands Wirtschaftsmodell auf eine langfristig tragfähigere Grundlage stellt. Der Versuch lohnt sich. Sonst droht dem vermeintlichen Wirtschaftswunder in ein paar Jahren das ganz böse Erwachen, etwa wenn die ach so tollen Überschüsse irgendwo anders zur nächsten Überschuldungskrise führen und die deutsche Exportblase erneut platzt. Höchste Zeit für eine neue, eine richtige Agenda 2020.

Auch bei älteren Pärchen kommt es ja gelegentlich vor, dass einer von beiden mal richtig gute Argumente hat – und der andere sie dann irgendwann einsieht. Wie gesagt, gelegentlich.

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