Was wir von den Briten lernen können - gerade jetzt

Wie lassen sich Freiheit und Solidarität in einer kosmopolitischen Welt auf einen Nenner bringen? Der britische Sozialstaat setzt auf universelle Rechte statt individuelle Statussicherung. Für das soziale Europa könnte das ein Vorbild sein

Die heftige Debatte um das Für und Wider eines Brexit hat in Großbritannien einen Lernprozess ausgelöst, der deutsche Europabefürworter ermutigen und anspornen sollte. Jeremy Corbyn, der neue Vorsitzende der Labour Party wandelte sich dabei vom Saulus zum Paulus. Der zunächst entschiedene Gegner der Europäischen Union sieht in einer „socially progressive EU“ mittlerweile die einzige Chance für einen besseren Schutz der arbeitenden Bevölkerung in einer globalisierten Welt. Genauer gesagt: In einer Welt, die zunehmend „kosmopolitisch“ wird, wie es Jeremy Cliffe in der Berliner Republik 1/2016 formulierte, und in der die ethnische und kulturelle Diversität weiter wächst, in der junge Erwachsene stärker auf Autonomie pochen und Möglichkeiten zur Selbstverwirklichung zunehmend in Großstädten suchen. „Auf welche Weise“, fragt Cliffe konsequent weiter, „können in einer bunten, großstädtisch geprägten Gesellschaft Mechanismen der Solidarität bewahrt und ausgebaut werden?“

Die Integration der vielen Einwanderer und Flüchtlinge wird unsere Gesellschaft noch kosmopolitischer machen. Dabei kann es nicht, wie in einem Schmelztiegel, um die Assimilation an eine wie auch immer definierte „europäische Kultur“ gehen, sondern um die Aufnahme verschiedener Kulturen auf Augenhöhe. Die damit verbundenen Spannungen können nur durch ein hohes Maß an Toleranz, wenn nicht gar mit einem guten Schuss ironischer Lebensauffassung ausgehalten werden. Diese Anforderung formulierte schon Randolph Bourne 1916 in seinem berühmten Aufsatz „Transnationales Amerika“. Bourne forderte darin, dass die Vereinigten Staaten die Kulturen der Einwanderer aufnehmen und ein „kosmopolitisches Amerika“ schaffen sollten, statt sie zu zwingen, sich an eine „anglophile Kultur“ anzupassen. Nur Ironie, schrieb er ein Jahr später in Krieg und die Intellektuellen, mache es möglich, die dabei auftretenden Widersprüche kritisch und geduldig auszuhalten, ohne sich ihnen zu ergeben. In dieser Hinsicht hat nicht nur der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan ein zentrales Kriterium für die Aufnahme in die EU noch nicht erfüllt.

Wie das Debakel bei den Landtagswahlen im März und ihre Dauerkrise in den Meinungsumfragen zeigen, hat die Sozial­demokratie noch kein überzeugendes Konzept gefunden, Freiheit und Solidarität in einer kosmopolitisch werdenden Welt auf einen Nenner zu bringen, obwohl sie diese Begriffe auf ihren Fahnen trägt. Die Antwort auf diese Herausforderung dürfen wir nicht mehr nur auf nationaler Ebene suchen. Da wir aber von einer demokratisch geordneten Weltregierung noch weit entfernt sind, muss sie für uns vor allem in Europa gefunden werden. Bei allen Schwächen dieses Europas, vor allem seiner demokratischen Defizite, haben unsere (Vor-)Väter und (Vor-)Mütter ein Vermögen an europäischen Institutionen aufgebaut, für das uns die außereuropäische Welt bewundert, wie jüngst auch Barack Obamas Besuch in Hannover zeigte: eine effiziente, wenn auch oft autoritäre Europäische Kommission; ein selbstbewusstes, wenn auch oft noch zahnloses Europäisches Parlament; ein hochprofessioneller, wenn auch oft nur neoliberal argumentierender Europäischer Gerichtshof; eine unabhängige, wenn auch oft bloß monetär denkende Europäische Zentralbank. Dies alles aufs Spiel zu setzen, wäre politisches Harakiri.

»Wieso bekommen Flüchtlinge Sozialleistungen?«

Die Antwort darf aber auch nicht in der Wiederbelebung von Gerechtigkeitsvorstellungen gesucht werden, die allein auf unmittelbarer Gegenseitigkeit (Reziprozität) beharren. Der Grundgedanke der Sozialversicherung, übrigens eine Antwort auf die erste Globalisierungswelle vor dem Ersten Weltkrieg, beruht auf solidarischer Risikoteilung und nicht auf einem Geschäft: Alle, auch die Glücklichen, die von Arbeitsunfällen, Krankheit und Arbeitslosigkeit verschont werden, zahlen vorab in eine Kasse ein, die den von Pech Verfolgten unter die Arme greift. Die Vorstellung, „ich habe schon so lange in die Versicherung eingezahlt, jetzt will ich auch etwas davon haben“, passt nicht zum Gedanken solidarischer Risikoteilung. Der Versuch einer Wiederbelebung der deutschen Sozialdemokratie durch eine Verlängerung der Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes ist nicht auf der Höhe der Zeit: Die vordergründig gerecht erscheinende Idee, wer länger einbezahlt hat, soll auch länger Lohnersatzleistung erhalten, hält weder der sozialversicherungsrechtlichen Logik stand, noch wird sie der SPD neue Wähler oder gar Mitglieder bescheren. Im Gegenteil, der Schritt zur Ausländerfeindlichkeit ist in einer solchen Vorstellungswelt nicht mehr weit: Wieso kommen da Flüchtlinge, „gegen die wir ja eigentlich nichts haben“, und verlangen soziale Transfers, obwohl sie noch nie etwas in die Kasse gezahlt haben? Gewiss: Gegenleistung und Gegenseitigkeit bleiben zentrale Prinzipien des modernen Sozialstaats, etwa die Forderung nach gleichem Lohn für gleiche Arbeit. Solidarität geht jedoch darüber hinaus: Sie ist die Bereitschaft, anderen beizustehen, auch wenn sie es – krass gesagt – nicht „verdient“ haben. So überraschend, ja paradox es für deutsche Ohren klingen mag: In dieser Hinsicht können wir von den Briten lernen.

Wie der Mindestlohn zum Verkaufsschlager wurde

Die Konzentration auf individuelle Statussicherung war den Briten schon immer fremd. Für Lord William Beveridge, den intellektuellen Kopf des britischen Sozialstaats, standen universelle Sozialrechte im Vordergrund, etwa gleiche Gesundheitsleistungen und ein Mindesteinkommen für alle, unabhängig vom Status. Begrifflich knüpft Jeremy Corbyn daran an, wenn er für „universal workers’ rights“ in Europa plädiert. In einer Welt, die sich dauernd wandelt, muss der wirtschaftlich und sozial erworbene Status immer wieder neu verteidigt werden. Aber dies ist freien Individuen nur zuzumuten, wenn sie eine verlässliche soziale Grundsicherung haben. Beveridges Devise lautete daher: Von der Freiheit unmittelbarer Bedürfnisse wie Nahrung, Wasser, Wohnung und Gesundheit (freedom from want) zur Freiheit zum Handeln: Mitbestimmung, Risiken eingehen, Neues entdecken und eigene Ideen ausprobieren (freedom to act). Deshalb konnte die Forderung nach einem gesetzlichen Mindestlohn ein Verkaufsschlager werden, als die britische Labour Party in den neunziger Jahren am Boden lag. Die Einführung des gesetzlichen Mindestlohns im Jahr 1999 erfolgte unter den wachsamen Augen einer unabhängigen Niedriglohnkommission, die ihre Vorschläge zur Erhöhung des Mindestlohns auf Basis wissenschaftlicher Evidenz – hier vor allem der Beschäftigungswirkung – formuliert. Vom Erfolg dieser Kommission ließ sich schließlich nicht nur die SPD, sondern auch die damalige konservative Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen inspirieren.

Die konservative britische Regierung hat beim Regierungswechsel 2010 nicht an dieser Institution gerüttelt. Im Gegenteil: Mittlerweile erkennt sie im gesetzlichen Mindestlohn die stärkste Waffe, um der oppositionellen Labour Party sozial­politisch das Wasser abzugraben. Seit dem 1. April dieses Jahres gilt für die Briten eine gesetzliche Lohnuntergrenze für alle abhängig Beschäftigten im Alter von mindestens 25 Jahren in Höhe von 7,20 britischen Pfund pro Stunde (circa 9,20 Euro). Diese nennt sich nun nicht mehr Mindestlohn, sondern ­Lebenslohn (national living wage). Festgelegt wurde der neue Mindestlohn allerdings nicht allein von der Regierung und auch nicht, wie sonst üblich, auf Empfehlung der unabhängigen Niedriglohnkommission. Anders als beim Mindestlohn hat die Regierung zudem ein Ziel für die Höhe des Lebenslohns vorgegeben: Im Jahr 2020 soll er mehr als 9 Pfund pro Stunde betragen; dies entspräche rund 60 Prozent des Medianlohnes und umgerechnet etwa 11,50 Euro. Um die Mindestbezahlung an einer anständigen Lebenshaltung ausrichten zu können, will die Regierung sogar ausdrücklich eine gewisse Erhöhung der Arbeitslosigkeit in Kauf nehmen.

Der europäische Mindestlohn – eine richtige Idee

Die britische Labour Party hatte sich schon bei den vergangenen Wahlen für einen entsprechend höheren Mindestlohn eingesetzt; dass sie damals die Wahl verlor, lag weniger an dieser Forderung als am britischen Wahlsystem. Deshalb ist es nur konsequent, dass Jeremy Corbyn seine Unterstützung für die EU an die Forderung nach einem europäischen Mindestlohn knüpft. Dieser soll die Idee des universellen Rechts auf eine würdige Lebensführung verwirklichen: Zwar kann es – aufgrund unterschiedlicher Niveaus wirtschaftlicher Entwicklung – keinen einheitlichen europäischen Mindestlohn geben, aber die nationalen Mindestlöhne sollten an die entsprechenden Lebenshaltungskosten im jeweiligen Land gebunden werden. Diese regulative Idee könnten auch deutsche Sozialdemokraten in ihr Programm aufnehmen. Dies wäre eine angemessene Reaktion auf die Furcht vor allem mittlerer Einkommensbezieher, dass Unternehmen die Integration weiterer Flüchtlinge zu einem großen Programm des Lohndumpings nutzen könnten.

Diskussionswürdig ist auch Corbyns Überlegung, dass der Abstand zwischen Höchst- und Niedrigeinkommen ein gewisses Verhältnis nicht überschreiten darf – eine Gerechtigkeitserwägung, die schon Platon anstellte. Ihm schwebte ein Verhältnis von eins zu vier vor. Schweizer Gewerkschaften und Sozialdemokraten kämpften für ein Verhältnis von eins zu zwölf; ein entsprechendes Referendum im November 2013 scheiterte, weil es nur von einem Drittel der Abstimmenden befürwortet wurde (immerhin mehr als die 20 Prozent, die die SPD derzeit in Meinungsumfragen erhält).

Lernen können wir auch bei der Lektüre eines großen Briten, Sir Anthony B. Atkinson, dem „Vater der modernen Ungleich­heitsforschung“. Sein vor einem Jahr erschienenes Buch Inequality – What Can Be Done? ist die notwendige Ergänzung zu Thomas Pikettys Das Kapital im 21. Jahrhundert. Der mittlerweile zum Star avancierte französische Ökonom hat bei Atkinson gelernt und mit ihm veröffentlicht. Pikettys berühmte Formel, dass die Kapitalrendite r höher ist als die Wachstumsrate g, ziert mittlerweile sogar T-Shirts. Im Kern besagt sie, dass die Rendite r aus Aktien, Anleihen oder Immobilien im langjährigen Schnitt viereinhalb bis fünf Prozent beträgt. Die übliche Produktivitätssteigerung g – und damit der Ertrag aus Arbeit – beträgt dagegen auf lange Sicht nur ein bis eineinhalb Prozent. Nur Katastrophen wie Kriege oder Wirtschaftskrisen unterbrechen dieses Gesetz. Darum herrscht derzeit eine krasse Vermö-gensungleichheit, die nur durch eine hohe Vermögenssteuer wieder ausgeglichen werden kann.

Atkinsons Buch hingegen wurde fast übersehen, obwohl es für die arbeitende Bevölkerung weit wichtiger ist. Piketty konzentriert sich auf den Vermögensanteil des Kapitals. Davon haben aber Normalverdienende wenig, so dass sie an diesem Kapitaleinkommen kaum teilhaben, bei Nullzinsen sogar verlieren. Atkinson konzentriert sich dagegen auf das produktive Kapital, also auf Maschinen, Technologie, Infrastruktur und Arbeitsvermögen. Dieses Kapital ist für die Verteilung des verfügbaren Haushaltseinkommens entscheidender. Darüber hinaus weisen Kritiker von Piketty darauf hin, dass der drastische Anstieg der Vermögensungleichheit zum großen Teil auf Immobilienbesitz zurückzuführen ist. In sorgfältiger Analyse und meist im Vergleich aller OECD-Länder arbeitet Atkinson dagegen heraus, warum sich die verfügbaren Haushaltseinkommen in den fünfziger und sechziger Jahren eher anglichen, und erst seit den achtziger Jahren drastisch auseinanderentwickelt haben. Die Entwicklung der Vermögenseinkommen spielte dabei eine geringere Rolle als die Entwicklung der Lohnquote und der Umverteilung über Steuern, Abgaben und Transfers.

Auf Bildungsinvestitionen kommt es an

Atkinsons Vorschläge, um diesen Trends entgegenzusteuern, sind zum Teil zwar auf Großbritannien zugeschnitten, aber in der strategischen Orientierung auch für die Diskussion über das soziale Europa relevant. Auf deutscher Seite ist seine Diagnose von DIW-Präsident Marcel Fratzscher in dessen neuem Buch Verteilungskampf detailliert ausgeführt worden: Für die steigende Ungleichverteilung des verfügbaren Haushaltseinkommens ist nicht allein der Rückgang der Umverteilungskapazität über Steuern und Transfers verantwortlich. Langfristig gesehen spielt vor allem der Anstieg in der Ungleichverteilung der Markteinkommen eine Rolle. Der Ginikoeffizient ist ein Maß für die Ungleichverteilung: Ein Wert von 0 zeigt absolute Gleichheit, ein Wert von 1 höchste Ungleichheit an. Seit der Jahrtausendwende ist der Ginikoeffizient für die Einkommensverteilung nach Umverteilung hierzulande von etwa 0,22 auf 0,29 gestiegen. Der Ginikoeffizient für die Einkommensverteilung vor Umverteilung stieg von etwa 0,47 auf 0,51. Das verfügbare Einkommen der ärmsten zehn Prozent der Haushalte ist um etwa zwei Prozent geschrumpft, während die reichsten zehn Prozent mehr als 16 Prozent Einkommen hinzugewinnen konnten.

Eine sozialdemokratische Politik, die sich gegen diese Ungleichverteilung stemmen möchte, muss also die staatliche Umverteilungskapazität wieder stabilisieren (Sekundärverteilung), vor allem aber die Einkommenskapazität der arbeitenden Bevölkerung verbessern (Primärverteilung). Dazu hat der Brite Atkinson 15 kostenneutrale Vorschläge entwickelt, von denen die deutschen Sozialdemokraten lernen könnten. Einige sollen hier kurz aufgelistet und zur Diskussion gestellt werden, auch wenn ich nicht alle Vorschläge teile. Aber die Richtung stimmt.

Erstens müsste der Staat mehr in die Beschäftigungsfähigkeit und humane Dienstleistungen investieren. Mit diesem Vorschlag reagiert Atkinson auf die 2015 veröffentlichte Diagnose der OECD In It Together, dass steigende Ungleichheit auch das Wachstum und damit den allgemeinen Wohlstand beeinträchtigt. Die Ursache für diesen negativen Zusammenhang sind vor allem die mangelnden Investitionen in Bildung. Dies gilt nicht nur für den unteren und mittleren Bildungsbereich, sondern auch für die frühkindliche und ältere Lebensphase. Zur Umsetzung höherer Bildungsinvestitionen brauchen wir mehr qualifiziertes Lehr-, Erziehungs- und Pflegepersonal. Da es sich dabei überwiegend um kollektive Güter handelt, muss die Beschäftigung im öffentlichen Dienst wieder ausgebaut werden.

Zweitens sollte die von vielen Ökonomen verachtete Einkommenspolitik wieder revitalisiert werden. Dazu gehören Mindestlöhne, die sich stärker als bisher an den Lebenshaltungskosten orientieren, die Stärkung von Gewerkschaften (etwa über den Hebel der gesetzlichen Ausdehnung von Tarif­verträgen oder staatliche Kofinanzierung tariflicher Investitionsfonds) sowie Leitlinien für die Entlohnung auch im ­hohen Einkommensbereich und Lohngleichheit zwischen den Geschlechtern. Nach den Analysen von Atkinson trägt die „Superstar-Ökonomie“ etliches zum Auseinanderdriften der Erwerbseinkommen bei: Überproportional hohe Bezüge haben mit Wettbewerb oder Produktivität nichts mehr zu tun, sie sind nur noch Statussymbole.

Drittens wäre das Beschäftigungsziel auf die Minimierung von Arbeitslosigkeit anstelle der bloßen Maximierung von Beschäftigung auszurichten, denn diese geht oft auf Kosten der Qualität (atypische Beschäftigungsverhältnisse). Wie bei der Inflation sollte es auch bei der Arbeitslosigkeit eine Zielgröße geben, Atkinson nennt zwei Prozent. Neben der Intensivierung der Arbeitsförderung für Arbeitslose im privaten Beschäftigungsbereich plädiert Atkinson daher vehement für eine öffentliche Beschäftigungsgarantie, also für Arbeits- und Bildungsangebote, und dies besonders für Jugendliche und für Ältere mit eingeschränkter Einkommenskapazität. Selbstverständlich muss die Annahme solcher Angebote freiwillig bleiben.

Kindergeld: deutlich höher, aber steuerpflichtig

Viertens sollte für Kleinanleger ein positiver Realzins garantiert werden. Zudem sollten alle jungen Erwachsenen mit einem Mindestkapital ausgestattet werden, während der Staat über einen Sozialkapitalfonds Anteile am gesamtwirtschaft­lichen Produktivvermögen hält und ausbaut, um die Gemeinschaft an den Kapitalerträgen teilhaben zu lassen.

Fünftens könnte die Einkommensteuer deutlich progressiver gestaltet und der Spitzensteuersatz auf das Niveau von etwa 65 Prozent angehoben werden. Eine Differenz der höchsten Grenzsteuersätze zwischen Kapital- und Arbeitseinkommen ist sozialökonomisch nicht gerechtfertigt. Die Erbschafts- und Schenkungssteuer sollte auf sämtliche im Lebensverlauf zufließenden Erwerbe entrichtet und die Grundsteuer unter Zugrunde­legung realistischer und zeitnaher Immobilienwerte erhoben werden.

Sechstens sollte ein erheblich höheres, aber steuerpflichtiges Kindergeld für alle Kinder gezahlt werden, nicht zuletzt auch deswegen, um Alleinerziehende und junge Eltern mit Kindern von dem Druck zu entlasten, prekäre oder gar unwür­dige Arbeitsverhältnisse anzunehmen. Diese Transfers sollten nicht durch ein bedingungsloses, sondern durch ein bedingtes Grundeinkommen ergänzt werden, das auf sozialer Teilnahme beruht – also auf Arbeit in jeder Form: von der Erwerbstätigkeit im engeren Sinne bis zu Ehrenämtern und häuslicher Pflege. Wenn die Verwirklichung eines solchen Grundeinkommens, dessen Höhe Atkinson in der realistischen Größenordnung von 300 Euro pro Monat sieht, gesellschaftlich keine Mehrheit findet, sollten alternativ wenigstens die mit Partizipation zusammenhängenden Sozialtransfers großzügiger ausgestaltet werden, besonders der Zugang und die Höhe des Arbeitslosengeldes. Eine zukunftsweisende Verknüpfung beider Überlegungen könnten individuelle Ziehungsrechte aus einem Weiterbildungsfonds sein. Diese würden es allen Erwerbspersonen erlauben, aufgrund eigener Initiative in die lebenslange Beschäftigungsfähigkeit zu investieren, um die steigenden Übergangsrisiken im Lebensverlauf zu meistern.

Allen Vorschlägen von Atkinson liegt ein Menschenbild zugrunde, in dessen Zentrum die Stärkung der Freiheit im Sinne von Selbstverwirklichung und Entscheidungsautonomie steht. Immer wieder weist er nicht nur auf die Kostspieligkeit bedarfsgeprüfter Programme hin (die Klageflut bei Hartz IV spricht Bände), sondern auch auf die in vielen Fällen unwürdige Situation, in die sich Menschen begeben müssen, um diese Ansprüche einzuholen. Um dem Stigma der Abhängigkeit zu entgehen, nehmen viele Bürger solche Ansprüche gar nicht wahr. Darüber hinaus entpuppen sich solche Programme oft als Armutsfallen, weil die Grenzsteuersätze für reguläre Erwerbseinkommen so hoch sind, dass sich Erwerbsarbeit für Geringverdienende nicht lohnt. Auf der anderen Seite steht für Atkinson der solidarische Ausgleich von ungleichen Lebenschancen im Vordergrund, und zwar nicht nur auf lokaler, regionaler und nationaler Ebene, sondern auch global. Es geht dabei nicht nur um Chancengleichheit, sondern auch um ein gewisses Maß an Ergebnisgleichheit, also um ein Mindestmaß an gleicher Lebensqualität. Diese Gleichheit ist auch ethisch begründet. Individuelle Talente sind im moralischen Sinne keine Rechtstitel, sondern das Ergebnis von Glück. Dies gilt zum großen Teil auch für das Vermögen: Eigentum verpflichtet!

Daher möchte ich noch einen weiteren Vorschlag von Atkinson erwähnen, der für einen Großteil der kosmopolitisch orientierten jungen Erwachsenen bestimmt attraktiv ist: Demnach sollte sich die Staatengemeinschaft reicher Industriegesellschaften verpflichten, mindestens ein Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts in die Entwicklung ärmerer Länder zu investieren. Deutschland schafft es zurzeit – im Gegensatz zu Großbritannien und anderen Ländern – nicht einmal, die zugesagten 0,7 Prozent umzusetzen. Eine solche Vorsorge muss sich neben der Modernisierung der Landwirtschaft (auch zur Milderung der Landflucht) vor allem auf Investitionen in die Bewohner großstädtischer Slums konzentrieren. Nur so können wir dem zunehmenden Druck der Migration junger Erwachsener aus den Ländern der armen Welt begegnen.

zurück zur Ausgabe