Jetzt bloß nicht konservativ werden!

Was Westeuropas Gesellschaften heute kennzeichnet, ist ihre tiefgreifende »Kosmopolitisierung«. Für sozialdemokratische Parteien ist das ein Problem. Historisch haben sie sich stets auf der Rechts-links-Achse verortet, doch inzwischen ist die libertär-autoritäre Konfliktlinie wichtiger geworden. Wie können Sozialdemokraten diese Veränderung produktiv bewältigen?

In den vergangenen Jahren ist viel über die Probleme der europäischen Sozialdemokraten geschrieben worden. Beispielsweise darüber, dass aufstrebende Wirtschaftsmächte wie China und Indien die alten Bollwerke der Sozialdemokratie unter Druck setzen: die Schwerindus­trie und den Wohlfahrtsstaat; dass neue Technologien und Produktionsprozesse die Arbeitskraft traditioneller sozialdemokratischer Wählerschichten entwerten; oder darüber, dass populistische Parteien und Bewegungen den Sozialdemokraten zusetzen, indem sie deren Alleinvertretungsanspruch bei Wählern mit geringem und mittlerem Einkommen unterminieren. All diese Faktoren sind fundierte Erklärungen dafür, warum die Parteien der linken Mitte (mit wenigen Ausnahmen) grandios daran gescheitert sind, die Finanz- und Wirtschaftskrise und deren Folgewirkungen zu einem „sozialdemokratischen Moment“ zu machen.

Entwurzelung und Beschleunigung

Jedoch werden in diesen Diskussionen häufig die langfristigen Veränderungen in den Alltagserfahrungen und Einstellungen der Wähler übersehen. Die Beziehungen der Menschen untereinander verändern sich durch eine ­Reihe neuer Entwicklungen, die mit den oben beschriebenen ökonomischen und ­politischen Veränderungen verbunden sind, sich aber dennoch von ihnen unterscheiden. Es lockern sich die gesellschaftlichen Bindungen, mit denen jene Wählerkoalitionen zusammengehalten werden, die der linken Mitte traditionell zur Macht verhelfen. Der durchschnittliche Bürger ist weniger verwurzelt und zugleich weltoffener als früher. Ich habe diese Veränderungsprozesse mit dem Begriff der „Kosmopolitisierung“ zusammengefasst, unter anderem in einem Papier für den Londoner Think Tank Policy Network.

Was genau ist damit gemeint? Nehmen wir das britische Beispiel: In Großbritannien wächst der Anteil der ethnischen Minderheiten an der Gesamtbevölkerung rasant, ebenso wie der Anteil der im Ausland geborenen Einwohner. Zudem finden die wirtschaftlichen Aktivitäten und das nationale gesellschaftliche ­Leben immer stärker in den großen Städten statt. Parallel dazu werden die Einstellungen der Menschen immer liberaler, und zwar in jeder nur denkbaren Weise. Ein Grund dafür ist, dass immer mehr junge Menschen zur Universität gehen. Die Lebensstile werden heterogener, die Leute ziehen häufiger um und machen mehr Erfahrungen mit der Außenwelt. Das Leben beschleunigt sich. Diese Entwicklungen finden nicht in allen europäischen Ländern in gleichem Maße statt, aber die meisten von ihnen sind in der Mehrzahl der Staaten anzutreffen.

Aufgrund von Einwanderung und des demografischen Wandels wird die nicht-weiße Bevölkerung Großbritanniens im Jahr 2050 voraussichtlich zwischen einem Drittel und 40 Prozent der Gesamtbevölkerung betragen und könnte einer Prognose zufolge im Jahr 2070 die Mehrheit stellen. Damit bildet das Vereinigte Königreich in Europa zwar eine Ausnahme; im Jahr 2040 wird es ungefähr so vielfältig sein wie die Vereinigten Staaten heute. Aber dasselbe Grundmuster lässt sich in allen westeuropäischen Ländern beobachten. Und die vielen Flüchtlinge, die in den vergangenen Monaten nach Kontinentaleuropa gekommen sind, werden diese Entwicklung noch verstärken.

Der Pluralismus erreicht die Provinz

Hinzu kommt ein weiterer Trend: Zumindest in Großbritannien ziehen Menschen unterschiedlicher Herkunft und Kultur aus den Großstädten in die kleinen Städte und Vororte. Dem Geografen Philip Rees von der Leeds University zufolge wird im Jahr 2050 die Hälfte aller Kommunen des Landes so bunt gemischt sein wie die heutigen Gegenden mit hoher Diversität, etwa London und Birmingham. Obwohl es in Staaten wie Deutschland, Dänemark oder Schweden eine ­andere Arbeitsmarktdynamik gibt, wäre es überraschend, wenn dasselbe Muster der Aufwärtsmobilität, das in Großbritannien zu beobachten ist, nicht auch in diesen Ländern gelten würde: Die zweite und dritte Generation der Einwanderer assimiliert sich, zieht auf der Suche nach einem bürgerlichen Leben in die Vororte und Kleinstädte – und steigt die soziale Leiter allmählich hinauf.

Somit erleben immer mehr Menschen in ihrem Alltag Pluralismus. Verstärkend kommt hinzu, dass sich zugleich immer mehr Menschen in den großen Städten niederlassen oder dort aufwachsen. In diesem Jahr hat London die Marke von 8,6 Millionen Einwohnern überschritten, im Jahr 2030 dürften in der britischen Hauptstadt rund 10 Millionen Menschen leben. Andere britische Großstädte wie Manchester oder Leeds wachsen sehr viel schneller als ihre umliegenden Regionen. In Ländern wie Deutschland mit einem anderen demografischen Profil wird dieser Prozess vielleicht nicht ganz so stark verlaufen. Dennoch wächst der Anteil der Stadtbewohner an der Bevölkerung, zugleich findet das Wirtschaftsleben zunehmend in den Städten statt. Der Grund liegt auf der Hand: In der globalen Wirtschaft werden die wissensintensiven Industrien, auf die sich die Städte spezialisieren, immer wichtiger. Die Städte ziehen Jobs und Arbeitskräfte aus kleineren Orten an, die weniger gut vernetzt sind und nicht über die notwendige kritische Masse an Menschen verfügen.

Damit gehen mehrere Wertverschiebungen einher: In Großbritannien ist der Aufstieg der Dienstleistungsökonomie mit der Zunahme universitärer Bildung verknüpft. Dies lässt sich auch in Ländern beobachten, die einen größeren Anteil an konventioneller verarbeitender Industrie haben, beispielsweise Frankreich, Schweden und Spanien. ­Beide Entwicklungen korrelieren mit der zunehmenden Verbreitung sozialliberaler, universitär geprägter Werte. Bildung führt zu mehr Offenheit, und die europäischen Gesellschaften werden immer gebildeter. Religion wird zunehmend zu einer Angelegenheit individueller Wahlmöglichkeit und hat immer seltener ­etwas mit aufgezwungenen Schuldgefühlen und sozialer Orientierung zu tun.

Wie Deutschland berlinisiert wird

Dies führt zu einem allmählichen gesellschaftlichen Wertewandel: Die Toleranz gegenüber Menschen mit anderen ­sexuellen Orientierungen und anderen ethnischen Gruppen wächst. Wer sich in traditionelle Strukturen (wie die Kernfamilie) nicht einfügt, muss sich dafür nicht mehr rechtfertigen. Die Bürger legen mehr Wert auf das Recht des Einzelnen, sich für einen individuellen way of living zu entscheiden. Alle entsprechenden Umfragen zeigen, dass sich eine Kultur des „Leben und leben lassen“ ausbreitet. Die andere Seite dieser Kultur besteht in einem zunehmenden ökonomischen Individualismus: „Leben und leben lassen“ bezieht sich auch auf Fragen der Verteilung und der staatlichen Eingriffe in die Wirtschaft.

Diese Veränderungen lassen sich besser verstehen, wenn man diejenigen Merkmale in den Blick nimmt, die Städte wie London, Paris, Berlin oder Stockholm so besonders machen. Ganze Länder, oder zumindest große Teile davon, ähneln zunehmend ihren großen Städten. Kosmopolitisierung bedeutet also Londonisierung, Parisierung, Berlinisierung und so weiter. Mein Punkt ist: Auch wenn diese Entwicklungen nicht immer kausal miteinander zusammenhängen (und in einigen Fällen sogar im Widerspruch zueinander stehen, etwa beim Spannungsfeld zwischen Liberalisierung und der Zuwanderung sozialkonservativer Migranten), addieren sie sich zu einem größeren Ganzen, welches unsere Zeit prägt und die Geschäftsgrundlage für ­sozialdemokratische Parteien verändert.

Diese Entwicklungen stellen die ­linke Mitte vor zwei große Herausforderungen: Zum einen gewinnt die so genannte autoritär-libertäre Achse der Mobilisierung an Bedeutung. Sie tritt zunehmend an die Stelle der ökonomischen Rechts-links-Achse. Die autoritär-libertäre ­Achse spaltet liberale Wähler der urbanen Mittelschicht und autoritäre Wähler der ­Arbeiterklasse voneinander und sprengt damit die traditionelle sozialdemokratische Wählerkoalition. Zum anderen stellt der zunehmende Individualismus eine vielleicht sogar existenzielle Bedrohung für eine politische Grundüberzeugung dar, die auf einem Gemeinschaftsgefühl beruht. Beispielsweise argumentiert der britische Intellektuelle David Goodhart, der meine positive Haltung zu den oben beschriebenen Veränderungen kritisiert hat, dass ethnische und soziale Vielfalt die gesellschaftliche Solidarität unterminiere. Man muss Goodharts Skepsis gegenüber Einwanderung nicht teilen, um dennoch anzuerkennen, dass Empathie zwischen Menschen die Anerkennung von Ähnlichkeit voraussetzt. Deshalb könnte eine Gesellschaft, deren Bürger sich untereinander weniger ähnlich sind, eine rücksichtslosere Gesellschaft werden.

Auf diese Herausforderungen müssen Sozialdemokraten Antworten finden. Welche Antworten dies genau sein könnten, darüber muss intensiv diskutiert werden. Hier kommen einige Antworten, die ich vielversprechend finde: Sozialdemokraten sollten den graduellen Verschiebungen in den europäischen Wählerschaften vorauseilen und sich stärker um diejenigen kümmern, die an der Spitze der Veränderungen stehen: um die jungen Menschen. In vielen Ländern, auch in Deutschland und Großbritannien, ist die Wahlbeteiligung der „Babyboomer“ und der „Generation X“ höher als die der „Generation Y“. Um die spezifischen Sorgen und Interessen der Jüngeren anzusprechen, sollten Sozialdemokraten eine Mischung aus politischen Lösungsansätzen und Innovationen anbieten. So könnte ein erklärtes Ziel darin bestehen, es jungen Menschen leichter zu machen, ihr Elternhaus zu verlassen und in eine eigene Wohnung zu ziehen. Eine attraktive politische Innovation könnte die Möglichkeit der Online-Wahl sein.

Solidarität im Pluralismus – geht das?

Darüber hinaus müssen Sozialdemokraten Antworten auf die negativen Nebeneffekte des kosmopolitischen Wandels ersinnen. Wenn die Städte boomen, müssen die digitale Infrastruktur und die Verkehrswege im Land verbessert werden, damit die abgelegenen Orte mit den Städten verbunden werden können und die dort lebenden Menschen sich nicht zurückgelassen fühlen. Vorbehalte gegenüber Einwanderung lassen sich durch entschlossenes politisches Handeln zerstreuen, zum Beispiel durch den Bau von Wohnungen, einen besseren Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen und durch Maßnahmen gegen den Rechtsextremismus. Der Staat muss so reformiert werden, dass die Empfänger von Dienstleistungen mehr Macht und Wahlmöglichkeiten erhalten – genauso wie sie es in ihrem alltäglichen Leben als Konsumenten zunehmend erleben. Bildungs- und Ausbildungssysteme können die Menschen für eine Welt im Wandel vorbereiten, in der die Anpassungs- und Widerstandsfähigkeit immer wichtiger wird.

Schließlich – und das ist vielleicht am schwierigsten – müssen Sozialdemokraten die beschriebenen Veränderungen ­positiv annehmen. Wenn es schlecht läuft, sind Sozialdemokraten nämlich konservativer als die Konservativen. Im besten Fall versetzt sie ihre Zielstrebigkeit und das Vertrauen in die eigenen Werte in die Lage, auf der Höhe der Zeit zu sein und soziale und ökonomische Veränderungen so zu gestalten, dass möglichst vielen Menschen ein besseres Leben ermöglicht wird.

Somit verlangen ernste langfristige Fragen nach sozialdemokratischer Aufmerksamkeit: Wie kann der Wohlfahrtsstaat des Industriezeitalters an das postindustrielle Zeitalter, in dem Menschen mit sehr unterschiedlichen Biografien zusammenleben, angepasst werden? Wie können die wichtigsten Traditionen der europäischen Aufklärung aufrechterhalten werden und sich Menschen nichtwestlicher Herkunft bei uns trotzdem willkommen fühlen? Auf welche Weise können in einer bunten, großstädtisch geprägten Gesellschaft Mechanismen der Solidarität bewahrt und ausgebaut werden?

Es ist nicht möglich, der allmählich und ungleichmäßig stattfindenden Kosmopolitisierung zu entgehen. Aber es ist möglich – und wünschenswert – sich ihr anzupassen.

Aus dem Englischen von Michael Miebach

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