Der Stammwähler lebt hier nicht mehr

Wahlforscher verzeichnen Wanderungsbewegungen in alle Richtungen wie noch nie. Hat das Wahljahr 2017 das Ende des »normalen« Parteienwettbewerbs besiegelt?

Ein spannendes Wahljahr mit vielen Wendungen geht zu Ende. Mag der Ausgang der Landtagswahl im Saarland und der Wahlerfolg von CDU und Ministerpräsidentin Annegret Kramp-Karrenbauer für viele Beobachter noch erwartbar gewesen sein, so überraschend fielen die Wahlerfolge der CDU in Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein aus. In beiden Ländern kam es in der Folge zum Regierungswechsel unter Führung der CDU. Ebenso unerwartet waren auch die Ergebnisse der Volksparteien bei der Bundestagswahl; beide erlitten Einbußen. Dennoch schnitt die Union bei der Bundestagswahl am besten ab und erhielt damit den Auftrag, eine Regierung zu bilden – nach zwölf Jahren im Amt keine Selbstverständlichkeit.

Dennoch eignet sich das Wahljahr nicht für Trendanalysen der Parteien. Dem guten Abschneiden der FDP auf der Bundesebene steht der verfehlte Einzug im Saarland gegenüber. Die AfD kam in Schleswig-Holstein nur knapp über fünf Prozent, und die Grünen mussten im Saarland und in Nordrhein-Westfalen schlechte Ergebnisse verkraften. Die Wahlbeteiligung ist zwar bei allen Wahlen gestiegen, doch profitierte bei den Landtagswahlen im Saarland, Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen vor allem die CDU von Stimmen früherer Nichtwähler. Bei der Bundestagswahl konnte die AfD den stärksten Zustrom aus den Reihen der Nichtwähler verzeichnen, während es in Niedersachsen die SPD war, die von den Stimmen ehemaliger Nichtwähler profitierte.

Die Ungebundenheit der Wähler ist wahrlich kein neues Phänomen. Die meisten Wähler können sich vorstellen, mehrere Parteien zu wählen. Diese müssen nicht einmal der gleichen Parteifamilie angehören. Die Wähler entscheiden sich jenseits klassischer ideologischer Verortungen. Sie sind derart flexibel geworden, dass selbst Hochburgen innerhalb kürzester Zeit geschleift werden können. Die Verluste, welche die CDU bei den Erststimmen in einigen Wahlkreisen zu verzeichnen hat, verdeutlichen das Ausmaß des erdrutschartigen Wechsels: In den Wahlkreisen Mittelsachsen, Sächsische Schweiz-Ost-erzgebirge, Dresden I, Görlitz und Bautzen hat die CDU etwa 20 Prozentpunkte bei den Erststimmen eingebüßt. Dort hat die AfD auch drei Direktmandate gegen populäre und langjährig aktive Abgeordnete der CDU gewonnen.

Auch sonst war das Wahljahr – entgegen der immer wieder zu lesenden Einschätzung von Journalisten – alles andere als langweilig. Die unerwartete Nominierung von Martin Schulz führte im Meinungsklima zwischen den beiden Volksparteien zu einem Umschwung, der sowohl den SPD-Kanzlerkandidaten als auch seine Partei in Umfragen kurzfristig an Angela Merkel und der Union vorbeiziehen ließ. Wenngleich dieser Umschwung nur kurz ausfiel, verdeutlichte er doch, mit welcher Wählerdynamik zu rechnen war.

Niemand glaubte an einen Sieg der SPD

Schulz gelang es während der Kampagne allerdings nicht, die anfängliche Euphorie zu stabilisieren. Merkel hingegen profitierte von der ungebrochen positiven Wahrnehmung ihrer Person und ihres Regierungsstils. Die Wahrnehmung der erfreulichen wirtschaftlichen Situation in Deutschland verdrängte „große“ Fragen von der politischen Agenda. Lediglich das Flüchtlingsthema war noch präsent, obwohl auf sinkendem Niveau. Erst gegen Ende des Wahlkampfes gab es hier einen erneuten Aufschwung, der seine Ursache vermutlich im Agenda-Setting der Medien hatte. Hier ist die – nicht vollständig überprüfbare – These angebracht, dass eben dies der AfD den nötigen Rückenwind verschaffte, um mit einem zweistelligen Ergebnis ins Parlament einzuziehen.

Insgesamt gab es drei strukturelle Momente, die für das Abschneiden der Parteien maßgeblich waren. Zum einen glaubte niemand an einen Wahlerfolg der SPD beziehungsweise ihres Spitzenkandidaten, zum anderen fehlte auch jede Form von Wechselstimmung. Man erwartete, dass die Union weiter regieren werde und wünschte dies überwiegend auch. Hinzu kommt, dass Große Koalitionen für kleine Parteien recht gute Ausgangsbedingungen schaffen. Dies zeigte sich bereits zur Zeit der ersten Großen Koalition von 1966 bis 1969, als APO und NPD reüssierten, aber auch während der zweiten Großen Koalition von 2004 bis 2009, in deren Folge alle kleinen Parteien ihr jeweils bestes Ergebnis überhaupt bei einer Bundestagswahl erzielen konnten. Die Ex-post-Betrachtung bedeutet jedoch keine Prognose für die Zukunft, sondern nur eine Analogie.

In der Medienlandschaft galt und gilt die stärkste Aufmerksamkeit dem nicht gerade überraschenden Einzug der AfD in den Bundestag. Auch die Parteien suchen nach strategischen Ansätzen, um Wähler der AfD wieder für sich zu gewinnen. So kursieren in den Parteien unterschiedliche Meinungen darüber, warum sich die vermeintlich „eigenen“ Wähler abgewandt hätten – ungeachtet der Tatsache, dass Stammwähler seit langer Zeit eine seltene Spezies sind und daher der Begriff „eigene“ Wähler als untauglich eingestuft werden muss.

Ein Blick auf die Wählerwanderung zeigt, dass keine Partei mit einer einzigen stimmigen Strategie in der Lage sein wird, dieses Ziel zu erreichen. Der Zustrom zur AfD erfolgte aus allen politischen Richtungen. Und auch wenn „Enttäuschung“ das Hauptmotiv der AfD-Wähler ist, dürften sich je nach Herkunftspartei doch sehr unterschiedliche Enttäuschungen dahinter verbergen. Der proportionale Zuwachs der AfD und die damit verbundenen strukturellen Verluste aller Parteien erschweren die übliche Gewinn- und Verlustanalyse, da das heterogene Protestwahlverhalten die Regeln des „normalen“ Parteienwettbewerbs überlagert hat. Dass eine Partei mittels gezielter Ansprache vermeintlicher Wahlmotive „ihr“ Tortenstück aus dem Wählerkuchen herausschneiden könnte, erscheint angesichts der Heterogenität der Zusammensetzung der Wählerschaft als tendenziell aussichtsloses Unterfangen. Doch bestehen für alle Parteien die gleichen Chancen, ihre Attraktivität zu steigern.

Wer Probleme löst, schafft neues Vertrauen

Nicht nur hierzulande wurden bereits viele Strategien ausprobiert, um populistische Parteien klein zu halten. Doch fallen die Erfolge eher bescheiden aus. Ob Kritik an politischen Entscheidungen der Regierung, Übernahme von Positionen der Populisten, Moralisierung „gegen Rechts“, Empörung und Ausgrenzung oder Einbindung in Regierungsverantwortung – keine einzige der angewandten Strategien hat die Populisten nachhaltig begrenzt. Einfache Antworten gibt es genau so wenig wie einen praktikablen Königsweg. Die ruhige Auseinandersetzung mit den Positionen der AfD und die Verdeutlichung, welcher Beitrag zur Problemlösung geleistet wird, scheinen auf der parlamentarischen Ebene angebracht. Da die meisten Wähler meinen, die AfD spreche zwar Probleme an, sei aber zu deren Lösung nicht in der Lage, erwarten sie von den etablierten Parteien weiterhin Problemlösungen. Hieraus kann neue Attraktivität erwachsen.

Man sollte die AfD-Wähler behandeln wie alle anderen auch. Sie haben keine amoralische oder verwerfliche Entscheidung getroffen. Parteien mit ihren Wählern gleichzusetzen, verbietet sich ohnehin. Und dass Wähler Entscheidungen auf Basis einer abwägend-rationalen Analyse von Wahlprogrammen und politischem Personal treffen, gehört wohl in das Reich der Legenden. In dieser Hinsicht unterscheiden sich die Wähler nicht voneinander. Sicherlich haben die AfD-Wähler eigene Sorgen und Befürchtungen, sicherlich richten sie spezifische Ansprüche an die Politik, und sicherlich ist die Ansprache schwierig. Dennoch scheint es lohnenswert, das Gespräch mit ihnen zu suchen. Vorschnelle Urteile sind dabei wenig hilfreich.

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