Gesellschaft ohne Kompass

Alte Orientierungsmuster gelten nicht mehr. Und weil die Menschen inzwischen fast alles tolerieren, fehlt es auch an polarisierenden Themen oder widerstreitenden Werten, die Wahlkämpfe strukturieren und entscheiden könnten

Auch wenn die Berliner Republik nicht die Bonner Republik ist: Das rheinische Gebot „et kütt wie et kütt“ (es kommt, wie es kommt) hat sich auch bei dieser Bundestagswahl als treffsicher erwiesen. Spätestens seit der Wiedervereinigung haben Wahlen auf allen Ebenen eines gemeinsam: Sie sind immer für eine Überraschung gut. Und je unkalkulierbarer der Wahlausgang, desto kühner die Auguren, die meistens im Gewand von Journalisten oder Politikwissenschaftlern auftreten. „Es wird keine absoluten Mehrheiten mehr geben“ oder „die Zukunft gehört Dreierkoalitionen“ – solche Thesen wurden in den vergangenen Jahren gern verbreitet. Auch galt es als ausgemacht, dass den Volksparteien ein langsamer, aber sicherer Tod bevorstehe und die Grünen die Volkspartei der Zukunft seien. Die meisten politischen Beobachter hielten das Ausscheiden der FDP aus dem Parlament für unwahrscheinlich (schließlich war sie ja schon immer dabei gewesen). Hingegen wird der Erfolg einer populistischen Partei schon seit längerer Zeit fest erwartet, und die Beobachter sind erstaunt, dass Deutschland vom Phänomen Populismus bisher weitgehend verschont wurde.

Keine Umfrage sah die Union über 40 Prozent

Ebenfalls wie immer: Nur die Ergebnisse der „Exit-Polls“ der Meinungsforschungsinstitute überzeugten bei der Bundestagswahl 2013, die übrigens im Vorfeld nicht müde werden, permanent zu erklären, dass Umfragen keine Prognosen sind (was jedoch gerne ignoriert wird). Andere „Prognosen“ wie die PESM-Wahlbörse, Prognosy-Master-Vote, Pollyvote, oder der „Wahl-Radar“ lagen vom tatsächlichen Ausgang recht weit entfernt, obwohl sie teilweise noch am Wahltag eine Prognose veröffentlichten. Die Union wurde übrigens nirgendwo über 40 Prozent gehandelt.

Der Wähler nimmt bislang keine größere Rücksicht auf Prophezeiungen und zeigt sich gegenüber strategischen Überlegungen und taktischen Manövern der Parteizentralen relativ unbeeindruckt. Die Wahlentscheidung wird eher aus situativen, lebensweltlichen und pragmatischen Gesichtspunkten, aber auch aus dem Bauch heraus getroffen. Zudem entscheiden sich die Bürger spät und verändern ihre Absichten bis zum Wahltag mehrfach. Dabei schwanken die Wähler zwar nicht willkürlich hin und her, doch die meisten Menschen können sich durchaus vorstellen, wenigstens zwei Parteien gleichermaßen zu wählen.

Warum Zielgruppenstrategien nicht aufgehen

Insgesamt scheint die Strategiefähigkeit von Parteien gelegentlich überbewertet zu werden. Das zeigt sich am Beispiel des Begriffs „asymmetrische Demobilisierung“. Zuerst wurde er in einer Analyse der Forschungsgruppe Wahlen zur Bundestagswahl 2009 verwendet. Angesichts einer „behutsamen Neupositionierung“ sei der CDU nicht viel mehr als eine „asymmetrische Demobilisierung“ möglich gewesen. Journalisten neigen dazu, von „asymmetrischer Demobilisierung“ zu sprechen, wenn sie sich im Wahlkampf langweilen. Dann wird argumentiert, die Wahlkampfstrategie (meistens der Union) setze auf eine Demobilisierung der Anhängerschaft der politischen Mitbewerber mittels der Methode systematischer Betäubung. Vorausgesetzt wird dabei, dass dies in bestimmten Zielgruppen problemlos funktioniert. Betrachtet man hingegen das Wahlverhalten in sozialen Gruppen über einen längeren Zeitraum, so ergeben sich andere Befunde: Es gibt bestimmte Gruppen, in denen Parteien eine größere oder kleinere Anhängerschaft finden. Seit der Wiedervereinigung ist bei jeder Wahl ein Trend sichtbar (von dem es natürlich gelegentlich Ausnahmen gibt): Wenn eine Partei verliert, dann verhältnismäßig gleichförmig in allen Gruppen, wenn sie gewinnt, findet sie auch überall mehr Zuspruch. Nur das Ausgangsniveau ist unterschiedlich. Man könnte auch sagen, die Wähler fahren im Aufzug rauf und runter. Nur bei manchen Wählern startet der Parteiaufzug in einer höheren Etage. Diese großen homogenen und auch nivellierenden Bewegungen der Wählerschaft lassen es eher als unwahrscheinlich erscheinen, dass „Zielgruppenstrategien“ der Parteien aufgehen – weder in Bezug auf die Mobilisierung der eigenen Anhängerschaft, noch die Demobilisierung der Anhängerschaften anderer Parteien.

Dass man Anhängerschaften nicht einfach mobilisieren und demobilisieren kann, hat eine einfache Ursache: Zwar lassen sich die Wahlberechtigten mit der „Sonntagsfrage“ nach Anhängerschaften sortieren. Doch sollte man vorsichtig sein, diese Zahlen als eigene oder fremde Anhängerschaften im Sinne von sicheren Potenzialen zu interpretieren. Noch zu Beginn des Jahres hatten die Grünen ein maximales Potenzial von etwa 50 Prozent!

Zudem ist häufig zu lesen, dass grundsätzliche Auseinander­setzungen und Kontroversen zwischen den Parteien ausbleiben. Es gebe keine visionären Richtungsdebatten. Die mangelnde Polarisierung führe zu steigender Wahlabstinenz. Auch bei diesem Gedankengang sind Zweifel angebracht. Es ist fast unmöglich, überhaupt ein Thema zu finden, das in der Bevölkerung tatsächlich als polarisierend wahrgenommen wird. Falls es überhaupt existiert, heißt das nicht automatisch, dass die Menschen es auch für relevant halten. Das war in den siebziger Jahren noch anders. Nicht nur die Deutschlandpolitik spaltete die Nation. Auch zu der Politik der neuen sozialen Bewegungen hatten die Bürger eine klare Meinung: Man konnte nur dafür oder dagegen sein. Vom heutigen Laissez-faire war die Gesellschaft noch weit entfernt.

Heute findet sich kaum ein Thema, das die Gesellschaft in entschiedene Befürworter oder Gegner teilt. Damit einher geht auch eine große Toleranz gegenüber unterschiedlichen Lebensstilmustern. Hätte man den Menschen in den siebziger Jahren erzählt, dass die Deutschen in vierzig Jahren bei der Homo-Ehe noch nicht einmal mit den Schultern zucken werden, man hätte als Phantast gegolten. Hinzu kommt eine weitgehende Wertesynthese. Postmaterielle und materielle Werte schließen einander nicht aus. Die Menschen wollen schlicht beides. Sie haben ideologische Bezugssysteme verloren. Häufig findet man eine Art Patchwork-Ideologie, die sich aus ideologischen Versatzstücken zusammensetzt. Manchmal umfasst das auch logische Brüche. Ein normativer Rahmen ist verloren gegangen, der als Richtschnur zur Einordnung von politischen Aussagen und Forderungen dient.

Daher verwundert es nicht, dass sich regelmäßig eine Mehrheit der Wahlberechtigten eine Große Koalition wünscht, so auch bei dieser Bundestagswahl. Derzeit ist das politische Ergebnis noch nicht in Koalitionen ablesbar. Es ist offen, ob es zu einer neuen oder einer vertrauten Variante kommt. Aber auch hier hat die Bonner Republik noch eine profunde Lebensweisheit im Angebot: „Et hätt noch emmer joot jejange“ – es ist noch immer gut gegangen.

zurück zur Ausgabe