Zurück zur Kernkraft?

Tony Blair steht nicht alleine da: Viele Länder um Deutschland herum wollen auf die Kernkraft nicht verzichten. Welche Schlüsse wir selbst daraus ziehen sollten, wird erst nach schwierigen Diskussionen zu entscheiden sein - aber geführt werden müssen sie

Energie ist ein besonderes Gut, doch Europa hat seine Bedeutung lange Zeit nicht erkannt. Eifersüchtig haben Regierungen über ihre nationalen Konzerne gewacht und ihre Märkte für Öl, Gas und Strom abgeschottet. Zugleich haben sie nicht ausreichend vorgesorgt. Nun zeigt sich, dass der Europäischen Union eine gemeinsame Strategie für eine sichere Energieversorgung fehlt.

Der Protektionismus war und ist schädlich – sowohl für die Kunden, die teuer für fehlenden Wettbewerb bezahlen müssen, als auch für die Regierungen, die erkennen müssen, dass die Kleinstaaterei die Energieversorgung unsicherer gemacht hat. Spätestens seitdem Russland seine Macht demonstrierte, indem es der Ukraine mitten im Winter den Gashahn zudrehte, steht fest, dass die Europäische Union eine gemeinsame Energiepolitik braucht. Möglichst sicher muss sie sein und zugleich umweltfreundlich. Von beiden Zielen ist die EU jedoch weit entfernt. Daran ändert auch nichts, dass das Thema Energie inzwischen auf jeder EU-Gipfelagenda steht.

Nun hat Tony Blair kürzlich die Debatte angefacht. Wieder einmal hat der britische Premier den agent provocateur der Europäischen Union gespielt und ihr Fehler vorgehalten. Ohne Kernkraft könne Europa seine Klimaschutzziele nicht erreichen, ist Blair überzeugt. Atomstrom sei zudem nötig, um die Energiesicherheit zu gewährleisten. Als erster Regierungschef eines großen EU-Landes kündigte er an, Großbritannien werde neue Atomkraftwerke bauen.

Blair wird nicht mehr lange im Amt sein, und die Briten geben mit ihren traditionell pannenreichen kerntechnischen Anlagen kein gutes Vorbild ab. Unlängst sickerten aus einer geheimen Untersuchung Belege durch für Risse in den Druckbehältern britischer Atommeiler. Wie unsicher diese sind, werden weitere Studien zeigen müssen – so wie die Schweden ihren europäischen Nachbarn Informationen über die Panne im Kraftwerk Forsmark schuldig sind. Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass Blair mit seinem provokanten Vorstoß in die richtige Richtung zielt. Denn die Zeiten einfach zu erzeugender Energie sind vorbei; Klimawandel, Verknappung und geopolitische Brandherde zwingen zum Umdenken.

Als Tony Blair einmal seine Meinung änderte

Blair ist beileibe kein langjähriger Advokat des Atomstroms, er selbst spricht von einem Sinneswandel. Noch vor drei Jahren wäre es auch in Großbritannien undenkbar gewesen, den Bau neuer Kraftwerke anzukündigen. Frühere nationale Energieberichte ließen die nukleare Option außen vor, erst der diesjährige Report, der im Sommer veröffentlicht wurde, hat den Atomstrom als unverzichtbare Säule der britischen Energieversorgung ins Spiel gebracht. Die Gründe sind vielfältig, und sie gelten nicht nur für die britischen Inseln, sondern für viele andere EU-Staaten: Der Kraftwerkpark altert, doch die Betreiber haben den Ersatz hinausgezögert. Was ursprünglich eine gute Option zu sein schien – der Bau effizienter Gas- und Dampf-Kraftwerke – ist wegen der rasant gestiegenen Gaspreise keine flächendeckende Lösung. Öl und Gas werden nach Expertenmeinung teuer bleiben, weil die Nachfrage ständig steigt. Schwellenländer wie China und Indien legen einen ungezügelten Energiehunger an den Tag und kaufen in großen Mengen.

Überdies (wobei das eine mit dem anderen durchaus zusammenhängt) häufen sich die Krisen in den Regionen der Welt, wo Öl und Gas gefördert werden. Venezuelas Autokrat Hugo Chávez bereist den Globus und bietet sein Öl an. Er weiß um seine Macht, die auf dem Ressourcenreichtum seines im Übrigen eher unbedeutenden Landes beruht, und er heizt die antiamerikanische Stimmung an. China wiederum unterstützt die Atomambitionen von Iran, weil das Land auf billige Öllieferungen des Ahmadinedschad-Regimes setzt. Iran und Russland aber verfügen zusammen über die Hälfte der weltweiten Gasreserven. Beide Länder lassen Zweifel an ihrer Zuverlässigkeit aufkommen, ihr Gebaren gibt Anlass zu Sorge.

Steigende Preise und geopolitische Krisenherde sind zwei wichtige Gründe für Blair, auf Atomstrom zu setzen. Als dritten nennt der Premier den Klimawandel. Trotz Bemühungen der Europäischen Union haben sich die Emissionen des klimaschädlichen Kohlendioxids nur wenig bremsen lassen. Kaum ein EU-Land schafft es, die Klimaziele von Kyoto zu erreichen. Deutschland liegt zwar noch gut im Plan, es profitiert aber immer noch vom Zusammenbruch der ostdeutschen Industrie. Sollten wir tatsächlich all unsere Atomreaktoren durch konventionelle Energiequellen ersetzen, so würde – einer Studie der Deutschen Physikalischen Gesellschaft zufolge – der jährliche Kohlendioxid-Ausstoß um hundert Millionen Tonnen steigen, was der endgültige Todesstoß für Kyoto wäre.

Was aber ist aus den hohen Erwartungen geworden, die viele Menschen in alternative Energieformen gesetzt haben? Sie sind größtenteils überschätzt worden. There is no such thing as a free lunch, heißt es in Amerika, es gibt eben keine kostenlose Mahlzeit. Alle Formen von Energie, auch die vermeintlich umweltfreundlichen, kosten Ressourcen und produzieren Treibhausgase, sie müssen transportiert und der anfallende Abfall muss gelagert werden. Je größer die Menge an produzierten Kilowatt, umso höher sind diese Nebenkosten. Beim Verbrennen von Kohle und Gas wird klimaschädliches Kohlendioxid in die Atmosphäre gepustet, für Atomstrom braucht man teure Kraftwerke und es fallen hohe Entsorgungskosten an.

Selbst Wasserkraft, Wind- und Solarenergie kosten: Für den gigantischen Yang-Tse-Staudamm, der einmal so viel Strom wie 20 Kernkraftwerke liefern soll, siedelte die chinesische Regierung eine Million Menschen um. Wollte Frankreich einen seiner Atommeiler durch Windräder ersetzen, müsste entlang der gesamten Küste alle paar hundert Meter ein mächtiger Rotor stehen. Und wer bislang seine Hoffnung in Offshore-Anlagen setzte, wird umdenken müssen. Ambitionierte Pläne der rot-grünen Regierung, die mit Windparks im Meer ein Viertel des gesamten deutschen Strombedarfs decken wollte, haben sich längst als Wunschtraum entpuppt – zu gewaltig sind die technischen Probleme der Windräder, die Fluten und Stürmen ausgesetzt sind. Auch wer viel Strom aus Solarzellen produzieren will, muss leistungsfähige Elemente aus Halbleiter-Materialien nutzen. Die aber sind noch enorm teuer. Biosprit wiederum verbraucht große landwirtschaftliche Flächen, ohne Subventionen ist auch dieser Ölersatz kaum rentabel.

Solarkraftwerke? Rentabel nur in der Wüste

Zu suggerieren, die alternativen Quellen könnten in zehn, zwanzig oder dreißig Jahren einen erheblichen Anteil der Energieversorgung ausmachen, ist nicht nur optimistisch, sondern sogar falsch. Wenn der deutsche Umweltminister ein solarthermisches Kraftwerk in Deutschland als Meilenstein preist, dann ist das Volksverdummung. Solche Anlagen sind tatsächlich viel versprechend, wie die bereits erwähnte Studie der Deutschen Physikalischen Gesellschaft belegt, rentabel arbeiten sie aber nur in der Wüste. Die logistischen Probleme dieser Option sind entsprechend hoch. Der Standort muss sich in einer politisch sicheren Zone befinden und der Strom quer durch das Mittelmeer transportiert werden.

So banal es klingt, jede Energieform hat Vor- und Nachteile. Strategisch gesehen ist es daher vernünftig, auf einen möglichst breiten Energiemix zu setzen. Doch die meisten europäischen Staaten tun derzeit das Gegenteil. Sie verbrennen zum Beispiel immer mehr Erdgas und machen sich damit abhängig von einer begrenzten Ressource und einigen wenigen Lieferanten. Sie steigen aus der Kernkraft aus, ohne für diese Energiequelle einen Ersatz zu haben, und heizen so indirekt die Atmosphäre auf. Zwar steckt noch ungeahntes Potenzial in neuen, kaum erforschten Energieformen; auch mit effizienten Kühlschränken und Turbinen ließe sich noch eine Menge an Kilowatt einsparen. Doch das wird mittelfristig nicht ausreichen, um Europa zu versorgen, das jetzt schon die Hälfte seines Energiebedarfs einführen muss. Nur wer Zugang zu erschwinglicher Energie hat, wird im globalen Wettbewerb bestehen können.

Europa braucht eine gemeinsame Strategie

Um ihre Energieversorgung zu sichern, muss die EU mehr als bisher zusammenarbeiten. Ein schwieriges Thema, weil die Staaten der Union bisher ihre Stromnetze an den Grenzen abgezirkelt haben. Wie immer, wenn ein Thema heikel ist, einigt man sich erst einmal auf gemeinsame Forschung. Doch das reicht nicht aus. Der Kontinent braucht eine gemeinsame Vision, eine Strategie. Ein erster Schritt wird darin bestehen, dass die EU ihre grenzüberschreitenden Stromnetze ausbaut und gemeinsame Reserven aufbaut; beides erhöht die Energiesicherheit. In einem gemeinsamen Markt sinken zudem die Preise, wie sich längst bei anderen Produkten gezeigt hat. Das liegt zum einen an der stärkeren Konkurrenz, zum anderen daran, dass die EU als ein Großimporteur seine Energie billiger einkaufen kann als 25 einzelne Staaten es können.

Doch die EU muss auch ihre Politik an der Energiefrage orientieren. Längst ist die Rede von Energie-Diplomatie und Energie-Außenpolitik. Geostrategische Überlegungen müssen die kleinstaatlichen Ziele ablösen, nur so kann die EU zu einem Machtfaktor auf dem globalen Energie-Spielfeld werden.

Schließlich kann es sich die EU nicht leisten, ihre eigenen hochgesteckten Klimaziele nicht einzuhalten. Wer sich gegenüber den Vereingten Staaten, die Ressourcen verschwenden und die Erderwärmung nur halbherzig bekämpfen, profilieren will, muss entsprechend handeln und klimaschädliche Emissionen verringern. So ungern viele Europäer, vor allem viele Deutsche, es einsehen werden – es ist in dieser Lage geradezu unvernünftig, auf Kernenergie ganz zu verzichten und Meiler vorzeitig abzuschalten.

Die Kernkraft polarisiert wie keine andere Energieart. Die einen halten sie für hochgefährlich und überdies aus technischen Gründen unvertretbar, die anderen für die sauberste Möglichkeit, Strom zu erzeugen. Wie emotional und irrational die Debatte vor allem in Deutschland geführt wird, zeigt ein Blick nach Frankreich, wo die Bevölkerung es toleriert, dass 80 Prozent des Stroms aus Atommeilern kommt, obwohl Franzosen und Deutsche sich kulturell und bei der Nutzung von Technik nur unwesentlich unterscheiden. Interessanterweise finden sich Abtrünnige auch bei den Sozialdemokraten: Nicht zufällig sind es Europa-Abgeordnete der SPD, die befürworten, dass die Laufzeit der deutschen Atomkraftwerke verlängert wird. EU-Parlamentarier haben bei vielen Themen eine globalere Sicht als ihre deutschen Kollegen.

Die Kernkraft und ihr Preis

Sind Kernkraftwerke vertretbar? Sowohl eine bedenkenlose Akzeptanz der Atomenergie als auch deren kategorische Ablehnung beruhen auf falschen Annahmen und, im zweiten Fall, auf einer Überdosis Emotionalität. Die Kernkraft hat durchaus ihren Preis: Es ist sehr teuer, den viele Jahrhunderte lang strahlenden Abfall sicher zu lagern. Und das Risiko eines atomaren Unfalls lässt sich nie mit Sicherheit ausschließen, so wie keine Technik risikofrei ist. Doch die Wahrscheinlichkeit, dass ein moderner Atommeiler wie der europäische Druckwasserreaktor EPR in die Luft geht und größere Gebiete kontaminiert werden, ist äußerst gering, das Ausmaß des Schadens ließe sich begrenzen. Neue Kraftwerke sind mit denen des Tschernobyl-Typs nicht zu vergleichen, und es ist möglich, wenn auch kompliziert und teuer, den Müll sicher zu lagern. Klar ist: Es darf keinen Bonus für Kernkraftwerke geben, auch der Atomstrom muss konkurrenzfähig sein. Doch es müssen eben auch Faktoren wie Klimaverträglichkeit und Energiesicherheit zählen.

Warum die Debatte jetzt neu beginnen muss

Energiepolitik ist global geworden. Es ist wenig sinnvoll, dass Westeuropa seine Kernkraftwerke abschaltet und zugleich den osteuropäischen Nachbarn hilft, ihre Atommeiler zu renovieren. Europa kann es sich auch nicht leisten, sein Know-how zu verlieren, während Indien und China ihre Kernkraft ausbauen. Ob EU-Staaten Kernkraftwerke möglichst lange laufen lassen oder gar neue bauen, ist eine politische Entscheidung, die jedes Land für sich treffen muss. Brüssel muss aber für gemeinsame Sicherheitsstandards sorgen, die dann auch für marode britische und osteuropäische Anlagen gelten, was dringend notwendig wäre. Denn was nützt es den Deutschen, wenn Atommeiler hierzulande zwar zu den sichersten der Welt zählen, die jenseits der Grenzen aber mangelhaft sind?

Deutschland und andere Aussteiger müssen sich bewusst sein, dass viele Länder um sie herum auf Atomstrom einstweilen nicht verzichten mögen. Tony Blair ist nicht allein: In Schweden steht der Ausstieg nur noch auf dem Papier, die Finnen bauen ein Kernkraftwerk, ebenso die Esten, zur Versorgung des gesamten Baltikums. Kein osteuropäisches EU-Mitglied mag auf Kernkraft verzichten. Ob die Skeptiker zur Atomkraft zurückkehren, dürfte erst nach einer schwierigen Diskussion entschieden werden. Doch sie sollte zumindest beginnen. Man wird sich ihr nicht verweigern können.

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