Zurück in die Zukunft

Ian Morris ergründet die Muster der menschlichen Zivilisation

Was wäre passiert, wenn nicht Großbritannien, sondern China den Opiumkrieg von 1840 bis 1842 gewonnen hätte? Und wenn nicht die britische Flotte vor Peking aufgetaucht wäre und den dortigen Thronfolger als Geisel mit nach London genommen hätte, sondern umgekehrt chinesische Schiffe London in Angst und Schrecken versetzt und den Prinzgemahl Albert nach China verschleppt hätten? Hätte sich die Geschichte womöglich in eine andere Richtung entwickelt? Wäre Peking heute das machtpolitische Zentrum der Welt und Mandarin in unseren Schulen die erste Fremdsprache?

Nein, meint der Altertumswissenschaftler Ian Morris, der an der Stanford University das archäologische Forschungszentrum leitet: Selbst wenn das eine oder andere Ereignis in der Vergangenheit anders verlaufen wäre, hätte dies an den großen Entwicklungen kaum etwas geändert. Das gelte ausdrücklich auch für die beiden Weltkriege des 20. Jahrhunderts, die trotz ihrer Einzigartigkeit den eingeschlagenen Entwicklungspfad der Geschichte nicht in eine neue Richtung zu lenken vermochten, sondern allenfalls den ohnehin absehbaren Aufstieg der Vereinigten Staaten zur alleinigen Weltmacht ein wenig beschleunigten. Lediglich ein Atomkrieg, der im 20. Jahrhundert eine durchaus realistische Option darstellte, hätte – folgt man Morris – aufgrund seiner nicht absehbaren Zerstörungskraft die Geschichte im 20. Jahrhundert nachhaltig beeinflussen können. Gleichwohl sei auf dem Höhepunkt des atomaren Wettrüstens Mitte der achtziger Jahre die Vernichtungskraft aller weltweit vorhandenen Atomwaffen zusammen genommen immer noch geringer gewesen als die Verheerungen, die ein gewaltiger Meteoriteneinschlag auf der Erde angerichtet hätte.  

Der ewige Wettstreit zwischen westlicher und östlicher Hemisphäre


Es geht Morris somit nicht darum, historische Alternativen ernsthaft in Erwägung zu ziehen. Im Gegenteil: Der Autor will zeigen, dass kein anderer als der uns bekannte Verlauf der Geschichte möglich war. Genau hier befindet sich der eigentliche Kern seiner Arbeit: Morris’ kühner Plan ist es, die Grundmuster („patterns“) der Geschichte offenzulegen, also eine Art historische Weltformel zu entwickeln, mit der sich sowohl die Zeitläufte erklären, als auch künftige Entwicklungen vorhersehen lassen.

Dafür holt er weit aus. Für Morris ist die Geschichte der Menschheit gekennzeichnet von dem dauerhaften Wettstreit zwischen westlicher und östlicher Hemisphäre, wenngleich er diese beiden territorialen Einheiten eher locker fasst. Zum Westen rechnet er den Nahen und Mittleren Osten, Europa sowie Nordamerika, während der Osten die Region umfasst, die heute als Ostasien bezeichnet wird, also im wesentlichen China und Japan (Morris ignoriert, dass Zeithistoriker Japan eher der westlichen als der östlichen Staatenwelt zurechnen). Der Westen habe, so Morris weiter, die Geschichte die längste Zeit dominiert. Er profitierte derart von den klimatischen Veränderungen und den damit verbundenen landwirtschaftlichen Möglichkeiten nach dem Ende der letzten Eiszeit vor rund 15.000 Jahren, dass er seine globale Vormachtstellung bis zum Ende der Antike behaupten konnte. Erst der Untergang des Weströmischen Reiches sowie der parallel stattfindende Aufstieg Chinas, dem es im sechsten Jahrhundert gelungen war, die fruchtbaren Regionen des Jangtsekiang mit denen des Gelben Flusses via Wasserwegen zu verbinden, habe zur einstweiligen Verschiebung der Machtverhältnisse zugunsten des Ostens geführt.

Verstärkt worden sei dieser Trend, als die Araber an die fruchtbaren Küsten des Mittelmeeres vordrangen. Anders jedoch als John Darwin, der in seiner vor kurzem erschienenen Globalgeschichte Großer Reiche die Rückeroberung der westlichen Vorherrschaft im 15. Jahrhundert verortet, bereiteten für Morris erst die Industrialisierung und der Aufstieg Großbritanniens zur Weltmacht im 19. Jahrhundert der neuerlichen Dominanz des Westens den Weg. Daran habe sich bis heute kaum etwas geändert, außer dass die USA im
20. Jahrhundert an die Stelle Großbritanniens getreten seien.

Mittlerweile jedoch verlagere sich das Zentrum der Weltwirtschaft, und damit auch die politische Macht, wieder zunehmend aus dem atlantischen Raum in Richtung Ostasien. Der Aufstieg Chinas werde sich – mit dieser Prophezeiung steht Morris nicht allein – weiter fortsetzen; spätestens das 22. Jahrhundert werde von China dominiert werden. Zugleich geht Morris davon aus, dass sich die Grenzen zwischen östlicher und westlicher Welt im Zuge der Globalisierung eher auflösen als vertiefen werden, da den zentralen Problemen der Zukunft – Beispiel Klimawandel – nur mit weltweit koordinierten Lösungen beizukommen sein werde. Eine engere Zusammenarbeit zwischen Ost und West sei unerlässlich, zumal wenn es darum gehe, Katastrophen apokalyptischen Ausmaßes zu verhindern, die sich künftig nicht mehr auf einzelne Weltregionen beschränken, sondern die gesamte Menschheit betreffen werden.

Faule, gierige und verängstigte Menschen, die besser leben wollen


Was aber sind die Grundmuster, mit denen Morris nicht nur die Vergangenheit und Gegenwart erklären, sondern auch die Zukunft vorhersagen möchte? Die Antwort lautet: Biologie, Soziologie und Geografie. Bedenkt man den gewaltigen empirischen und theoretischen Aufwand, den Morris betreibt, sowie die Erwartungen, die er damit beim Leser weckt, fällt das Resultat seiner Anstrengungen jedoch eher konventionell aus. Die biologische – sprich: genetische – Konstitution der Menschen weltweit bezeichnet Morris (zu recht) als weitgehend identisch und misst ihr deshalb keine Bedeutung für regional unterschiedliche Entwicklungen bei. Vielmehr gelte der universelle Grundsatz (er spricht vom „Morris-Theorem“), wonach „Veränderungen von faulen, gierigen und angsterfüllten Menschen herbeigeführt werden, die nach leichteren, profitableren und sichereren Wegen suchen, um Dinge zu tun“.

Wichtiger als die Biologie ist für Morris daher die Soziologie. Er entwickelt eine komplexe Indextabelle, die er als Vergleichsgrundlage für den sozialen Entwicklungsstand von Gesellschaften heranzieht und die vier Faktoren umfasst: die technischen Möglichkeiten der Energie-Erschließung, die Speicherung und Übermittlung von Wissen, die Fähigkeiten zur Kriegsführung und schließlich das Organisationsniveau einer Gesellschaft. Doch lässt sich anhand dessen allenfalls darlegen, wie die Entwicklungen in Ost und West bislang verlaufen sind beziehungsweise – basierend auf prognostizierten Datensätzen – wie sie in Zukunft weiter verlaufen könnten. Unbeantwortet hingegen bleibt die Frage nach dem Warum. Warum konnte (und kann) der Westen das Weltgeschehen über einen so langen Zeitraum dominieren, während dem Osten diese Rolle bislang lediglich übergangsweise und nur für wenige hundert Jahre zufiel? Die Antwort darauf liefert die Geografie. Nach der letzten Eiszeit, aber auch später habe der Westen von seiner geografischen Lage profitiert. Aufgrund seiner relativen Nähe zu Amerika stehe Europa seit der Frühen Neuzeit zudem ein schier unermesslicher Schatz an Ressourcen zur Verfügung. Erst die im 19. Jahrhundert aufkommende Technisierung der Gesellschaften habe dazu geführt, dass geografische Aspekte an Bedeutung verloren und andere Faktoren – wie etwa die technischen Möglichkeiten einer Gesellschaft – an ihre Stelle traten.

Wie die Welt in hundert Jahren aussehen könnte


Das alles ist richtig und leuchtet ein. Gleichwohl, neu ist Morris’ Argumentation nicht. Fernand Braudel hatte bereits 1949 in seiner mittlerweile zum Klassiker avancierten Studie Das Mittelmeer und die mediterrane Welt in der Epoche Philipps II auf die besondere Bedeutung geografischer und klimatischer Voraussetzungen für die soziale Entwicklung von Gesellschaften hingewiesen. Und für Herodot bestand im fünften Jahrhundert vor Christi kein Zweifel daran, dass die einzigartige Machstellung der griechischen Welt nicht zuletzt dem milden Klima in der Region geschuldet war.

Ian Morris verstößt in Why the West rules – for Now gegen zahlreiche Regeln seiner Disziplin: Er stellt Was-wäre-wenn-Spekulationen an, klopft die Geschichte auf ihre vermeintlichen Grundmuster ab – und wagt eine Prognose darüber, wie die Welt in hundert Jahren aussehen könnte. Das Ergebnis ist ein ebenso lehrreicher wie unterhaltsamer Parforceritt durch rund 15.000 Jahre Weltgeschichte. Das ist eine ganze Menge, auch wenn der englische Originaltitel dem Leser mehr verspricht als das Buch bietet. Ein überzeugendes und grundsätzlich neues Grundmuster zur Erklärung der Vergangenheit geschweige denn der Zukunft liefert Morris nämlich nicht. Zutreffender, wenngleich ein Stück weniger spektakulär, ist der Titel der deutschen Ausgabe, die jüngst im Campus-Verlag erschienen ist. Er lautet: Wer regiert die Welt? Warum Zivilisationen herrschen oder beherrscht werden. «

Ian Morris, Wer regiert die Welt? Warum Zivilisationen herrschen oder beherrscht werden, Frankfurt (Main): Campus Verlag 2011, 656 Seiten, 24,90 Euro


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