Zivilgesellschaft in Ketten

In Russland stehen Demokratie und Menschenrechte massiv unter Druck. Wo Presse- und Demonstrationsfreiheit de facto aufgehoben sind, wird entschiedener Druck von außen umso dringender. Europa muss seiner Verantwortung gerecht werden

In der westeuropäischen Politik ist es geradezu en vogue, Russland wegen der Menschenrechte keine Lektionen mehr zu erteilen. Zuletzt hat der portugiesische Premierminister José Socrates dem russischen Präsidenten Wladimir Putin erklärt, dass die Europäische Union den Russen keine Moralpredigten mehr wegen ihrer Menschenrechtsverletzungen halten werde. Niemand solle andere belehren, sagte er. Das war ein klarer Sieg für Putins immer autoritärere Politik, ein Faustschlag gegen die ohnehin bedrängte russische Zivilgesellschaft – und ein schlechtes Omen für die portugiesische EU-Ratspräsidentschaft, die gerade erst begonnen hat.

 

Auf dem internationalen Parkett tritt Russland in letzter Zeit viel selbstbewusster auf als früher. Der Kreml setzt seine Öl- und Gasexporte nach Westeuropa machtpolitisch geschickt ein. Aufgrund ihrer Schlüsselrolle bei der weltweiten Energieversorgung reagiert die russische Führung immer ungehaltener auf ausländische Kritik an den zunehmenden Menschenrechtsverletzungen. Einige Vertreter russischer Nichtregierungsorganisationen (NGOs) glauben, die Lage der Menschenrechte habe sich vor allem deshalb dramatisch verschlechtert, weil der Westen das Thema zu selten offen anspreche.

 

Nehmen wir nur einmal die Situation der russischen Medien und der in Russland arbeitenden Journalisten. Die Meinungs- und Pressefreiheit wird in Russland nicht nur angegriffen, sondern auch mit dem Tode bedroht. 14 Journalisten wurden seit Putins Amtsantritt im Jahre 2000 umgebracht, nur weil sie ihrer Arbeit nachgingen. Am bekanntesten ist der Fall Anna Politkovskaya. Die Mitarbeiterin der regierungskritischen Wochenzeitung Novaya Gazeta, die für ihre furchtlose Berichterstattung über Tschetschenien bekannt war, wurde im Oktober 2006 erschossen. Neben Tschetschenien gibt es aber auch andere Themen, über die Journalisten nur unter erheblichem Risiko berichten können. Recherchen in Bereichen sensibler Regierungspolitik, vor allem über Korruption und merkwürdige Geschäftspraktiken, können für Journalisten sehr gefährlich werden. Kein einziger Mörder der Journalisten ist bislang übrigens vor Gericht gestellt worden. In den meisten Mordfällen wurde nicht einmal ordentlich ermittelt, das gleiche gilt für die zahlreichen körperlichen Angriffe auf Journalisten und die täglichen Bedrohungen, denen viele Medienvertreter ausgesetzt sind.

 

Das drittgefährlichste Land der Welt

 

Überfälle auf Journalisten sind aber nicht nur einfache Verbrechen, sondern Angriffe auf die Meinungs- und Pressefreiheit schlechthin. Der mangelnde Schutz, den Journalisten in Russland genießen, hat auf die gesamte Presse eine abschreckende Wirkung. Das Committee to Protect Journalists in New York bewertet Russland mittlerweile als das drittgefährlichste Land der Welt für Journalisten nach dem Irak und Afghanistan. Eigentlich sollte sich die russische Führung für diese unrühmliche Spitzenposition schämen und sofort Maßnahmen zum Schutz der Journalisten ergreifen. Aber vermutlich fühlen sich diejenigen, die die Pressefreiheit einschränken wollen, sogar ermutigt.

 

Doch in Russland sind nicht nur einzelne Journalisten gefährdet. Zunehmend wird die gesamte kritische Presse kriminalisiert. Wenn Journalisten einen Politiker kritisieren, können sie wegen Beleidigung und Verleumdung angeklagt werden und müssen Zwangsarbeit oder eine Gefängnisstrafe fürchten. Darüber hinaus hat der Kreml unter Putin alle Fernsehstationen sowie einen Großteil der überregionalen Zeitungen unter seine Kontrolle gebracht. Die Pressefreiheit existiert de facto nicht mehr.

 

Zu Recht hat José Socrates ausgeführt, Demokratien seien stets unfertige Gebilde. Damit eifert er allerdings Präsident Putin nach, der sich jüngst ähnlich geäußert hat: Keine Demokratie sei perfekt. Dabei haben nur wenige Nachbarstaaten Europas so rasch historische Errungenschaften bei den Menschenrechten zunichte gemacht wie Russland. Das Parlament ist gleichgeschaltet und die Justiz unterliegt größerer politischer Einflussnahme als je zuvor. Der Kreml agiert ohne jegliche Kontrolle und nutzt seine Macht, um Menschen, Unternehmen und alles andere, was ihm lästig ist, aus dem Weg zu räumen. Das Schicksal des russischen Oligarchen und ehemaligen Vorstandsvorsitzenden des insolventen Ölkonzerns Jukos Michail Chodorkowski ist nur die Spitze des Eisbergs.

 

Zudem bietet ein neues Gesetz der Regierung nie da gewesene Möglichkeiten, sich in die Arbeit der NGOs einzumischen. Die Führung in Moskau benutzt Justiz und Verwaltung, um NGOs, die sich mit Tabuthemen wie Tschetschenien befassen, einzuschüchtern und zu bedrohen. Im vergangenen Jahr hat die Regierung verschiedene NGOs öffentlich bezichtigt, Umsturzpläne gegen die Regierung zu verfolgen. Sie verbot eine NGO, nahm deren Vorsitzenden unter haltlosen Anschuldigungen fest und drohte zahlreichen anderen Organisationen mit Schließung.

 

Menschenrechtler in der Zeitkapsel

 

Während der Sowjetzeit richteten russische Menschenrechtler alle ihre Hoffnung auf den Westen, von dem sie Unterstützung im Kampf gegen eine Regierung erwarteten, die sich gegenüber ihrem Volk vollkommen unverantwortlich zeigte. Viele Menschenrechtler bezeichnen die heutige Situation als vergleichbar – nur mit einem Unterschied: Die Bereitschaft des Westens nehme ab, Menschenrechtsverletzungen offen anzusprechen.

 

Ende April dieses Jahres hat die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch drei Repräsentanten namhafter Nichtregierungsorganisationen aus Moskau nach Berlin eingeladen, um politische Entscheidungsträger und die deutschen Medien auf die sich verschlechternde Menschenrechtslage in Russland aufmerksam zu machen. Die Geschichten der NGO-Vertreter waren sehr beunruhigend. An die deutsche Regierung und Öffentlichkeit wandten sie sich mit der Bitte, die russische Zivilgesellschaft stärker zu unterstützen und Menschenrechtsverletzungen in Russland direkt anzusprechen.

 

Ihre Sorge galt vor allem der Tatsache, dass die Russlandpolitik Europas und vor allem Deutschlands, dessen Verhältnis zu Russland in der EU eine besondere Rolle spielt, so sehr von Energieinteressen beeinflusst wird, dass nicht mehr auf die Einhaltung der Menschenrechte geachtet wird. Als besonders gravierendes Beispiel nannten sie die Krise in Tschetschenien, auf die Europa in keiner Weise reagiere, obwohl massiv die Menschenrechte verletzt würden. Täglich werden dort Menschen gefoltert, nicht selten in Geheimgefängnissen. Es finden Hinrichtungen nach Schnellverfahren statt. Menschen werden verschleppt und verschwinden ohne irgendwelche strafrechtlichen Konsequenzen. In acht Fällen hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte Russland in den letzten Jahren für schuldig befunden, für die schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien verantwortlich zu sein. Trotzdem haben die Europäer die Russen nicht dazu gedrängt, diese Missstände zu beheben.

 

Mehr Sicherheitskräfte als Demonstranten

 

Im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen 2008 hat sich die Lage der Menschenrechte in Russland weiter verschlechtert. Immer häufiger setzt die Polizei massive Gewalt ein, um Kundgebungen oder Demonstrationen zu verhindern. Das brutale Vorgehen konnten die Europäer beim EU-Russland-Gipfels in Samara selbst erleben: Die Polizei schikanierte und verhaftete Aktivisten und friedliche Demonstranten, noch bevor der Gipfel überhaupt begonnen hatte. In jüngster Zeit gab es immer wieder Kundgebungen russischer Oppositioneller, bei denen das Aufgebot an Polizisten und Sicherheitskräften die Zahl der Demonstranten weit überstieg. Immerhin hat Bundeskanzlerin Angela Merkel als EU-Ratspräsidentin eindeutig Stellung bezogen. Dieses ermutigende Signal ist nun jedoch durch eine peinliche Laune ihres portugiesischen Nachfolgers wieder zunichte gemacht worden.

 

Man muss nicht unbedingt Megaphonpolitik betreiben, um die Menschenrechte in den europäisch-russischen Beziehungen anzusprechen. So werden die EU-Russland-Menschenrechtskonsultationen außerhalb des Rampenlichts beharrlich geführt. Außerdem will derjenige, der Menschenrechtsverletzungen offen und direkt anspricht, andere nicht zwangsläufig belehren. Vielmehr sollte Russland wie ein vollwertiger Partner behandelt werden, der Kritik auf Augenhöhe vertragen muss.

 

Die Europäische Union basiert auf einem Bekenntnis zu Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und der Achtung der Menschenrechte. Deshalb kann Portugal sehr wohl darauf bestehen, Menschenrechtsfragen gegenüber Russland offen anzusprechen. Die Europäer sollten darauf drängen, dass die russische Regierung die Meinungs- und Pressefreiheit wiederherstellt, Schikanen gegen NGOs beendet und gegen Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien vorgeht.

 

Auch im Verhältnis zu Russland gibt es Möglichkeiten politischer Einflussnahme. Dem Kreml liegt das Verhältnis zu Europa ebenso am Herzen wie sein Ansehen in der Welt. Man muss Putin nur eindringlich genug vor Augen führen, dass seine Politik und sein Prestige auch an der Einhaltung der Menschenrechte gemessen werden.

 

In der Vergangenheit konnte sich die russische Zivilgesellschaft auf Druck von Außen verlassen, der ihre Anliegen unterstützte. Dieser Außendruck wäre heute nötiger denn je, wo die Zivilgesellschaft praktisch kein Forum mehr im eigenen Land hat, wo der Kreml sie unterdrückt und wo die Presse- und die Demonstrationsfreiheit erheblich eingeschränkt sind. Er muss der russischen Zivilgesellschaft nicht nur mehr Gewicht verleihen, sondern ihr Überleben sichern und ihren Bewegungsspielraum erweitern.

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