Woher kommt das Wachstum (und woher ganz sicher nicht)?

Mit ihrer Ideologie der Steuersenkung ruinieren die Freidemokraten die öffentlichen Haushalte und gefährden das Wirtschaftswachstum. Die SPD sollte ihre eigene Wachstumsstrategie dagegensetzen

Der renommierte amerikanische Historiker Tony Judt erwartet, dass unsere Welt in ein neues Zeitalter der Unsicherheit eintritt. Globalisierung, demografischer Wandel, Terrorgefahr und die Sorge vor dem ökologischen Kollaps – mehr als genug Gründe, um unsichere Zeiten zu erwarten. „Wir haben keine Ahnung, was für eine Welt unsere Kinder von uns erben werden.“ Aber wir haben wohl alle die Sorge, dass es eine schlechtere Welt sein könnte.

Tony Judt empfiehlt der SPD, zur „Sozialdemokratie der Angst“ zu werden und zuallererst für die bewährten Strukturen des Sozialstaats zu kämpfen. Er will die Deiche erhalten, die unsere Vorgänger unter großen Mühen gebaut haben – aus Sorge vor neuen Fluten. Aber wäre das wirklich richtig? Mehr als 140 Jahre lang hat die SPD als progressive Partei für mehr Gerechtigkeit gesorgt und dabei Großes für unser Land geleistet. Und jetzt sollen wir zu mutlosen Strukturkonservativen werden und nur noch das Erreichte bewahren? Ausgerechnet in einer Phase, in der hart darum gekämpft werden muss, dass es zukünftig überhaupt noch Wohlstandszuwächse in unserem Land gibt?

Nein, gerade heute greift die Bewahrung des Erreichten zu kurz. Mehr noch: Der politische Versuch einer schlichten Bewahrung des deutschen Wohlstands- und Wohlfahrtsmodells würde sogar ganz sicher dazu führen, dass alles in die Brüche geht und unsere Kinder eine extrem unsichere, zunehmend ungerechte Welt erben. Die Logik des demografischen Wandels und des relativen wirtschaftlichen Abstiegs unseres Landes in der Globalisierung ist grausam, aber einfach: Wenn es immer weniger gut bezahlte, Steuern und Abgaben zahlende Leistungsträger gibt und gleichzeitig die Zahl der Transferempfänger immer weiter ansteigt, müssen entweder die Leistungsträger über jedes erträgliche Niveau hinaus besteuert oder die Leistungen des Sozialstaats deutlich gekürzt werden – oder aber es gelingt, in Deutschland ein neues, nachhaltiges Wachstumsparadigma zu etablieren. Das geht aber nicht durch sozialkonservative Strukturbewahrung, sondern nur mithilfe mutiger progressiver Politik.

Die große Frage lautet also: Was muss ein Land tun, das eine schrumpfende, immer ältere Bevölkerung beherbergt, dessen technologischer Vorsprung gegenüber den aufstrebenden Wirtschaftsmächten zusehends schmilzt, dessen Arbeitslosigkeit zu hoch und dessen Integrationsleistung zu schlecht ist? Die FDP hat eine Antwort: Endlich die Steuern senken! Damit mehr (Steuer-) Freiheit zu mehr Leistung führen möge, zu mehr Investitionen und mehr Konsum. Dadurch soll sich das Wirtschaftswachstum erhöhen und mithin die Konsolidierung der öffentlichen Haushalte gelingen. Jedoch wird dieses dreifache Versprechen – Entlastung, mehr Wachstum und dadurch Konsolidierung – nicht funktionieren. Ich wage die Prognose: Sollte sich die Bundesregierung tatsächlich dafür entscheiden, diesen Weg zu gehen, werden die Steuersenkungen nicht zu mehr, sondern zu weniger Wirtschaftswachstum führen – nicht zuletzt, weil der Staat als öffentlicher Investor massiv geschwächt würde. Die Staatsschulden würden in diesem Jahrzehnt schneller ansteigen und die politische Handlungsfähigkeit stärker einengen, als wir uns das derzeit vorstellen können.

Verunsicherte Bürger sparen, statt zu konsumieren

Eine auf Steuersenkungen basierende Wachstumsstrategie kann schon deswegen nicht funktionieren, weil Bürger und Unternehmer in der gegenwärtig unsicheren Situation ahnen, dass ihnen Steuersenkungen auf Pump später als unangenehme Steuererhöhungen zur Konsolidierung der öffentlichen Haushalte wieder begegnen. Darum würde die zunächst gewonnene finanzielle Freiheit nicht in Investitionen oder den Konsum gehen, sondern das Geld würde gespart. Letztlich würden weitere Steuersenkungen die sowieso schon zu erwartenden, schmerzhaften Verteilungskonflikte verschärfen, die Inflationsgefahr erhöhen und ungewollt neue Unsicherheiten hervorrufen. Schon nach jetziger Planung muss der Bund von 2011 bis 2016 mehr als 10 Milliarden Euro pro Jahr einsparen, um die Schuldenbremse im Grundgesetz einhalten zu können. Würden die Pläne der FDP verwirklicht, könnte sich das Konsolidierungsvolumen im Bundeshaushalt mit einem Schlag auf 20 Milliarden Euro oder mehr pro Jahr verdoppeln. Wie soll das gehen, ohne den Sozialstaat in seinen Grundfesten zu erschüttern?

Der Sozialstaat ist also massiv in Gefahr. Es reicht aber nicht, dass die SPD nur versucht, ihn durch oppositionellen Widerstand zu verteidigen. Notwendig ist eine eigene Wachstumsstrategie, eine Strategie der Hoffnung und des Ausgleichs. Statt unseriöser Steuersenkungen ist es zuallererst notwendig, den festgefahrenen Sozialstaat wieder zu einer produktiven Kraft aufzubauen. Dies kann nur durch neue Ideen zur Durchlässigkeit, Leistungsförderung und eingeforderten Teilhabe geschehen, untermauert mit mehr und verlässlichen öffentlichen Investitionen vor allem in Bildung und Forschung, Integration und Familieninfrastruktur – und zwar solide finanziert, nicht auf Pump.

Außerdem sollten wir aus den Wachstumsproblemen unseres Landes während der neunziger Jahre und der schwierigen Phase zwischen 2001 und 2005 lernen. Damals waren vor allem die Kommunen so unterfinanziert, dass sie als Investitionslokomotive ausfielen. Gleichzeitig stiegen die Sozialabgaben so sehr an, dass viele Arbeitsplätze verloren gingen und der schwächelnde Konsum zur Wachstumsbremse wurde.

Die Kommunen als Investitionslokomotive

Die Aufgabe lautet also, die Kommunen wieder zu dem zu machen, was mit Hilfe der Agenda 2010 nach schwierigen Jahren schon einmal geklappt hat: zu einer öffentlichen Investitionslokomotive, die verlässlich Aufträge an die lokale Wirtschaft vergibt, Familieninfrastruktur bereitstellt und Integration voranbringt. Gleichzeitig muss verhindert werden, dass die wachstumsschädlichen Sozialabgaben weiter steigen. Nur so können wir die Mittelschichten, die um ihren Status bangen, mental wirklich entlasten, den Statusfatalismus der unteren Sozialschichten mit neuen Aufstiegsperspektiven überwinden und nachhaltiges Wirtschaftswachstum schaffen – und damit letztlich mehr Sicherheit für alle, vielleicht sogar wieder mehr gesellschaftlichen Zusammenhalt erreichen.

Ich teile die Sorge von Tony Judt, dass unsere Welt in ein neues Zeitalter der Unsicherheit eintritt. Ich halte aber seine Empfehlung für falsch. Die Sozialdemokratie sollte nicht zu einer Partei der Angst, sondern wieder zu einer Partei der Hoffnung, des Aufstiegs und des wohlstandssteigernden Wachstums werden. Es muss uns gelingen, Leistungsträger ebenso anzusprechen wie junge, aufstiegswillige Menschen und diejenigen, die auf Transfers angewiesen sind. Wenn wir ein solches Zukunftsprogramm des Ausgleichs und der Hoffnung überzeugend entwickeln und gemeinsam vertreten, steht auch die Sozialdemokratie wieder vor einer guten Zukunft. «

Der Autor vertritt in diesem Beitrag ausschließlich seine persönliche Auffassung. 

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