Wo organisierte Kriminalität stark ist, sind Staaten schwach

Wenn Täter den Staat förmlich in Besitz nehmen, sind Demokratie und Rechtsstaat in höchster Gefahr. Darum steht die Große Koalition in der Pflicht, den Kampf gegen die Organisierte Kriminalität zum Kernthema der inneren Sicherheit zu machen

Der Kampf gegen den Terror ist seit mehr als fünfzehn Jahren eine ständige Herausforderung für die Sicherheit, vor allem in den ohnehin unsicheren Regionen. Bis zur Zerstörung der Twin Tower im September 2001 war die westliche Welt keiner vergleichbaren Bedrohung ausgesetzt. In der Bundesrepublik jedenfalls war das Thema innere Sicherheit nach der Selbstauflösung der Baader-Meinhof-Gruppe und dem Trubel der deutschen Einheit kaum noch auf der Tagesordnung. Umso härter und hektischer waren die Reaktionen in der Innen- wie in der Außen- und Verteidigungspolitik nach dem 11. September 2001. Gut zehn Jahre später drohen Deutschland und Europa (vielleicht von Italien abgesehen), erneut eine existenzielle Sicherheitsbedrohung zu unterschätzen: die Organisierte Kriminalität.

Nicht ein Einzelereignis, eine spektakuläre Tat oder eine Person des öffentlichen Lebens führen uns die Gefahr vor Augen. Im Gegenteil: Wesensgemäß soll sich das dunkle Getümmel der organisierten Verbrecher still und fern von öffentlicher Wirkung vollziehen. Abgesehen von Fememorden und abschreckend gemeinten spektakulären Gewalttaten sind für Mafia-Gruppen wie die ’Ndrangheta oder Camorra Tötungsdelikte immer das letzte, nie das erste Mittel.

Die Dunkelziffern sind riesig

Dennoch wird das Vertrauen der Bürger in die Schutzfunktion des Rechtsstaates in elementarer Weise erschüttert, wenn sich Rocker, Wirtschaftskriminelle, selbst ernannte Friedensrichter, mobile Diebesbanden, Internetbetrüger, osteuropäische Gangs oder eben die Cosa Nostra hierzulande klammheimlich breit machen. Denn die Bedrohung, die von der Organisierten Kriminalität ausgeht, ist letztlich genauso elementar wie jene des internationalen Terrorismus.

Da sich die Taten weitgehend im Stillen vollziehen, teilen diese Einschätzung bisher allenfalls die wenigen mit dem Thema befassten Fachleute. Hinzu kommt, dass das Phänomen viele Gesichter hat. Organisierte Kriminalität allgemeinverbindlich zu definieren gelingt nicht wirklich. Dabei ist ihre Wirkung gravierend: Wenn unsere Kreditkarten irgendwo am Ende der Welt belastet werden, Unmengen harter Drogen unser Land überschwemmen, Zwangsprostitution zwar erkennbar, aber auch schwer nachweisbar bleibt, Motorradgruppen ganze Regionen einschüchtern, Unternehmen uns alle mit Umsatzsteuerbetrug schädigen oder Wohnungseinbrüche in Serie die Betroffenen materiell wie seelisch dauerhaft belasten, dann ist dies alles eine Folge der Organisierten Kriminalität. In seinen jährlichen Lageberichten stellt das Bundeskriminalamt fest, dass von einer unglaublich hohen Dunkelziffer auszugehen ist. Tatsächlich wird vieles nicht bekannt, weil beispielsweise Cyberkriminalität (man denke alleine an Phishing) manchmal nicht erkannt und oft nicht gemeldet wird oder Angst die Opfer stumm macht.

Was die Große Koalition leisten muss

Die Partner der dritten Großen Koalition in Berlin sind in der Pflicht, den Kampf gegen die Organisierte Kriminalität zum Kernthema der inneren Sicherheit zu machen. Die Koalitionsvereinbarung zwischen CDU/CSU und SPD bietet Anknüpfungspunkte. Die wichtigsten seien genannt: Rockerclubs sollen leichter verboten und ihre Neugründung verhindert werden. Finanzbetrug, Geldwäsche und Steuerhinterziehung werden verstärkt bekämpft, beispielsweise durch Anpassung des Geldwäschetatbestands in Paragraph 261 des Strafgesetzbuchs. Das Unternehmensstrafrecht für multinationale Konzerne soll verschärft werden. Bei der Vermögensabschöpfung wird endlich die Beweislast umgekehrt. Bestechung und Bestechlichkeit im Gesundheitswesen werden strafbar. Das ist noch nicht die große Strategie, weist aber den Weg dorthin. Welche Punkte fehlen und müssen unbedingt dazu kommen?

Erstens können Sicherheitsbehörden nur dann wirksam agieren, wenn sie personell und sachlich – genauer gesagt: technisch – ausreichend ausgestattet sind. Das kostet Geld. Wenn über die Zoll- und Steuerfahndung mehr Verurteilungen erfolgen, rechnet sich diese Investition allerdings in jedem Fall. Dazu gehört: In der Ausbildung muss das Wissen über andere Länder und andere Sitten noch stärker berücksichtigt werden – die Ausbildung muss schlicht internationaler werden. Ein raffiniert gestricktes Umsatzsteuerkartell können nur topfite, internetaffine Experten auffliegen lassen. Nur: Bewerben sich diese Fachleute angesichts der dortigen Gehaltsstrukturen noch beim öffentlichen Dienst?

Zweitens: Wie in anderen Bereichen müssen auch mit Blick auf die Organisierte Kriminalität alle Behörden des Bundes und der Länder enger und intensiver zusammenarbeiten. Unter Wahrung des Trennungsgebotes gehören die Nachrichtendienste mit an den Tisch. Wo dieser Tisch steht, ist egal. Er muss vor allem qualitativ gut besetzt sein, und ein guter „Tischler“ muss für die genaue Passform sorgen.

Drittens ist das Problem ein internationales. 85 Prozent aller im Jahre 2012 in Deutschland geführten Verfahren gegen Organisierte Kriminalität hatten einen internationalen Bezug. Ohne den Austausch mit anderen Nationen geht nichts. Dabei ist auf ein ausgewogenes Geben und Nehmen zu achten. So gesehen war das unentschuldbare Treiben der NSA gegenüber befreundeten Staaten selbstschädigend. Das gilt sowohl für die auf Freiheit beruhende gemeinsame Werteordnung wie auch für die notwendige Kooperation. Trotzdem benötigen wir gemeinsame internationale Standards, zum Beispiel was die Definition des Begriffs „Organisierte Kriminalität“ angeht. Das ist kein triviales Problem. Mit Frankreich ist das schneller gemacht als mit Staaten des Balkans, die ihrerseits selbst ein Teil des Problems sind.

Viertens: Blinde und taube Behörden können nicht arbeiten. Sie brauchen, streng kontrolliert und eingedämmt, gesetzliche Grundlagen, um Erkenntnisse hervorbringen zu können. Tiefe Eingriffe in Bürgerrechte müssen die Ausnahme bleiben, aber möglich sein. Das Verfassungsgericht hat diesbezüglich Leitplanken eingezogen.

Fünftens, wir wissen nicht, worüber wir reden. Unsere Kriminalstatistiken sind weder genau noch vergleichbar. Es fehlt an Verlaufsstatistiken und Dunkelfeldforschung.

Sechstens: In jedem Fall muss die Wissenschaft einen stärkeren und wichtigeren Part übernehmen: Präventions-, Ursachen- und Wirkungsforschung sind zu intensivieren. Die Praktiker müssen das vorhandene Wissen besser kennen, umgekehrt müssen die Erfahrungen der Praktiker an den Instituten und Lehrstühlen mehr als heute gehört werden.

Der Pferdefuß der Globalisierung

Diese Auflistung ist kein Rezept für ein Allheilmittel. Sie kann aber eine Annäherung bedeuten. Erste Äußerungen des Bundesinnenministers machen Hoffnung. Und die klaren Stellungnahmen des Präsidenten des Bundeskriminalamtes untermauern diese Forderungen.

Organisierte Kriminalität in all ihren Spielarten findet in der zunehmenden Durchlässigkeit und Vernetztheit unserer Welt geradezu ideale Voraussetzungen, um sich auszubreiten. Die Anonymität und die Flüchtigkeit von Kommunikation befördern sie zusätzlich. Daher werden Kriminelle auch in Zukunft immer neue fantasievolle und moderne Ideen für ihre Untaten finden. Dieser Pferdefuß der Globalisierung ist jedoch kein Grund, die Globalisierung in Frage zu stellen oder gar wieder neue Grenzen zu errichten. Schon deshalb nicht, weil niemand die Grenzen wirklich dicht machen könnte. Im Interesse der Freiheit ist das auch gut so.

In Zukunft brauchen wir ein internationales Strafrecht. Noch klingt diese Forderung utopisch, sie wird sich aber bald als richtig erweisen. Spätestens seit den Nürnberger Prozessen und der erfolgreichen Anklage und Verurteilung von Staatsverbrechern vor dem internationalen Gerichtshof ist belegt, dass nichts unmöglich ist.

Wenn sich die Europäische Union weiterhin anderen Staaten gegenüber öffnen will, die anfällig für Organisierte Kriminalität oder schon lange deren Opfer sind, muss sie zeitgleich für die entsprechenden Standards sorgen. Wir müssen Zustände herstellen, die Justiz- und Sicherheitsbehörden in Deutschland eine partielle Kooperation wenigstens zumutbar erscheinen lassen. Bis dahin kann es keinem deutschen Zollfahnder oder Polizisten zugemutet werden, gemeinsame Ermittlungsgruppen oder ähnliches beispielsweise mit einem bulgarischen Gegenüber aufzubauen.

Allenfalls behutsam und zur Unterstützung der – mit viel Wohlwollen feststellbaren – behutsamen positiven Veränderungen kann die Kooperation zunehmen. Rückschläge sind nicht auszuschließen. Deshalb müssen bestehende und bewährte Kooperationssysteme innerhalb (West-)Europas gefestigt werden.

Wo Organisierte Kriminalität stark ist, sind Staaten schwach. In den besonders betroffenen Ländern nehmen die Täter den Staat oft förmlich in ihren Besitz. Sie nutzen staatliche Einrichtungen und internes Wissen, um illegale Geschäfte zu fördern, zu dulden oder sogar selbst zu betreiben. Wer seiner Familie oder sich selbst staatliche Reichtümer einverleibt und auf ausländische Konten transferiert, ist ein Verbrecher. Ein Polizeioffizier, der sein Wissen an Kriminelle verkauft oder selbst vom Drogenhandel profitiert, ist es auch. Ohne Korruption keine Organisierte Kriminalität, ohne Staatsversagen kein Polizeiversagen. Stabile demokratische Staaten und ebensolche transnationalen politischen Verbände weisen den Weg zu einer durchaus möglichen Eindämmung der Organisierten Kriminalität. Nicht zuletzt deshalb darf die europäische Idee nicht vor die Hunde gehen.

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