Wo die Schröders Gysis sind

Warschau goes America

Langsam zuckelt der Zug von Berlin aus nach Osten. Hinter Frankfurt überquert er die Oder, die sich mit ihren Flussarmen breit und behäbig in die Wiesen eingeschnitten hat. Doch dies ist keine Reise nach Polen, in Wirklichkeit geht es nach Amerika.

In Warschau, der neuen Hauptstadt des Kapitalismus, begrüßt Coca-Cola den Besucher direkt gegenüber vom Zentralbahnhof. Ein Werbeplakat hängt da, größer und röter als jedes sozialistische Jubelbanner. Früher ragte neben dem Bahnhof einsam und schwerfällig der Kulturpalast in die Höhe, ein Palazzo Prozzo aus der stalinistischen Ära. Neue Herren auch hier. Wo früher die Sowjets dem Bruderstaat ihre Propagandaschinken reindrückten, lehren heute die Hollywood-Streifen den Polen das Märchen vom besseren Leben.

Neuerdings thront der Palast nicht mehr als einziges Gebäude über der City. Jetzt bemühen sich die Wolkenkratzer des Marriot Hotels und einiger ausländischer Banken, den Eindruck einer Skyline zu erwecken. Doch noch sind die Lücken zwischen den Hochhäusern groß. Man strebt nach Downtown Manhattan, heraus kommt Cleveland, Ohio. Unten weht der Müll über die Straßen.

Polen, so scheint es, fährt auf einem Schnellboot in die Zukunft. Nur ohne Ruder. Die großen Reformen der Sozialversicherung, der Rentenversicherung und des Gesundheitswesens sind so schnell eingeführt worden, dass zum Planen dieser grundlegenden Veränderungen nur wenig Zeit blieb. Inzwischen haben wohl fast alle Polen begriffen, wohin die sozialdemokratische Regierung steuert - in Richtung Amerika.

Zu den polnischen Besonderheiten gehört, dass es sich bei den Sozialdemokraten um die Postkommunisten handelt: die Schröders sind eigentlich Gysis. In Polen stört das niemanden. Denn die Postkommunisten beherrschen die Regeln des Marktes inzwischen so perfekt wie früher das Kommunistische Manifest. Warschaus Bürgermeister, Pawel Piskorski, mit Mitte 30 zwar ein Kind der polnischen Wende, muss man wohl zu dieser Kategorie Politiker rechnen.

Zu Beginn dieses Jahres hat ihm seine sozialdemokratische Fraktion das Misstrauen ausgesprochen. Nun regiert er mit der Unterstützung der anderen Fraktionen im Stadtparlament weiter. Die zumindest hat er überzeugt, indem er ihnen jeweils einen Sitz als Vize-Bürgermeister zugesprochen hat. Jetzt hat er zwar sieben Stellvertreter, aber alle sind irgendwie zufrieden.

Die gute Laune lassen sich die Warschauer von ihren Politikern nicht verderben. Auf der Haupteinkaufsstraße, der Nowy Swiat, wo eigentlich keine Autos zugelassen sind, stehen am Samstagvormittag leuchtende BMWs zur Präsentation in einer Reihe. Aufmerksam begutachten Familien mit Kindern die Autos. Gegenüber gibt es Bratwurst und Bier, dazu Popmusik über Lautsprecher.

In einer Nebenstraße spielen ein paar Jungs Gitarre. Neben ihrem Hut zum Münzensammeln haben sie ein Schild gestellt, auf dem steht, wofür sie das Geld verwenden wollen: Ein Mercedes soll es sein! Auch Janis Joplin hat sich einst vom lieben Gott einen Mercedes gewünscht: "Oh Lord, won′t you buy me a Mercedes Benz?" So war das once upon a time in Amerika. So ist es heute in Warschau. Hätte ich den Jungs einen Zloty geben sollen?

Wojtek hätte ihnen wahrscheinlich keinen Zloty gegeben. Er fände das albern. Außerdem ist er gehetzt. Im Schnelldurchlauf gibt er mir einen Grundkurs zum polnischen Way of life: Arbeitslosenunterstützung wird nur ein Jahr lang gezahlt. Danach ist es meist auch mit der Sozialversicherung vorbei. Aber das vormals staatliche Gesundheitssystem ist ohnehin zusammengebrochen. Was aus den Leuten wird, die durch alle sozialen Netze fallen, weiß keiner. Ich sehe Männer undefinierbaren Alters, die neben der Bratwurstbude auf dem Nowy Swiat die Papierkörbe nach Essensresten durchsuchen.

Es gibt Gewinner und Verlierer. Wojtek gehört zu den Gewinnern. Vor sieben Jahren kam er aus Danzig in die Hauptstadt. Die Leute starren ihn auf der Straße an. Sie kennen sein Gesicht, weil er dreimal täglich die Nachrichten auf einem der beiden polnischen Privatfernsehsender spricht. Man schaut ihm hinterher, weil er zu den wenigen gehört, die den Aufstieg in die neue Oberschicht geschafft haben. Er verkörpert, woran fast alle hier glauben: Mit ein bisschen Fortuna und viel Ehrgeiz kann jeder den Weg nach oben schaffen.

Doch als die Sonne blutrot hinter der Warschauer Skyline untergeht, wird auch Wojtek melancholisch. Wehmütig erzählt er von der Schönheit seiner Heimatstadt Danzig und von den langen, einsamen Ostseestränden. Versonnen bläst er den Rauch seiner Marlboro in die Luft. Abends träumt auch der Hauptstadt-Cowboy von der Prärie. Amerika eben.

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