Wo bleibt die europäische Öffentlichkeit?

Das Projekt Europa wird nicht allein durch mehr Kooperation der nationalen Regierungen gelingen. Es braucht genauso endlich eine europäische Öffentlichkeit - die Digitalisierung bietet dafür große Chancen

Einmal im Jahr lebt das „Projekt Europa“ auf – zumindest in der Musikkultur beim Eurovision Song Contest. Dagegen erscheint das politische Europa derzeit nicht nur weniger euphorisch, sondern – seien wir ehrlich - auch weniger kosmopolitisch.

Das im Jahr 2017 anstehende Referendum um Großbritanniens Verbleib in der EU und David Camerons Versuch, bereits im Vorfeld den Einfluss der EU-Kommission auf die nationale Politik zurückzudrängen, sind nicht nur ein Indikator für einen neuen britischen Dritten Weg, sondern auch ein weiteres Zeichen der gegenwärtigen Krise der Europäischen Union: das ermüdete Ringen um eine Lösung der griechischen Finanzkrise, die weitgehend nationalstaatlich bestimmte Diskussion des Flüchtlingsproblems, das regelmäßige Aufflackern rechtspopulistischer Bewegungen und die pragmatische Tagespolitik der EU. Vor diesem Hintergrund ist eine gemeinsame Vision von Europa kaum noch zu erkennen. In diesen Krisen und Konflikten geht es offenbar nicht mehr um eine gesamteuropäische Perspektive, sondern nur noch um Realpolitik im multilateralen Geflecht der 28 Mitgliedsstaaten.

Einerseits ist dies ein Anzeichen einer inzwischen gereiften EU, die mit routinierter Pragmatik immer komplexer werdende Aufgaben angeht. Andererseits ist jedoch auch klar, dass diese Komplexität weder von der EU-Kommission allein, noch von den Nationalstaaten bewältigt werden kann. Dies zeigt sich nicht nur bei Themen wie Migration und Flüchtlingen, auch die abgegrenzten Bereiche von Innen- und Außenpolitik funktionieren nicht mehr so wie früher. Die amerikanische Soziologin Saskia Sassen hat es schon vor Jahren erkannt: Der Nationalstaat ist der Ort, an dem die Globalisierung stattfindet.

In diesem Geflecht aus entterritorialisierten Politikfeldern und globalisierten Strukturen stellt sich speziell für Europa die Frage, warum die europäische Zivilgesellschaft eigentlich so wenig sichtbar ist. Gerade die EU bietet ein einmaliges Modell transnationaler Demokratie, das jenseits der nationalen Öffentlichkeiten allerdings kaum stattfindet.

Vielleicht wird es Zeit, einen neuen Blick zu wagen. Es geht nicht mehr nur um eine Europäische Union als Verbund von 28 Staaten, sondern um eine Gemeinschaft von 500 Millionen Menschen, die sich als nationale Bürger und zugleich als european citizens verstehen können. Zudem leben viele dieser Menschen in Regionen, deren Grenzen sich über die Jahrhunderte mehrmals verschoben haben, so dass die vielfach proklamierte nationale Identität oft eher auf einer regionalen Identität beruht. Diese Fakten europäischer Geschichte sollten auch in den Diskursen über Europa eine Rolle spielen, weil sie die Begrenztheit nationaler Territorien aufzeigen. Mit anderen Worten: Es kann nicht mehr nur um die Zunahme der intergouvernementalen Kooperation gehen, sondern wir müssen parallel dazu auch eine zivilgesellschaftliche Supranationalität aufbauen. Europa benötigt beides - gerade in der Globalisierung.

Die politische Entwicklung der EU in den vergangenen Jahrzehnten zeigt jedoch, dass die zivilgesellschaftliche Dimension des europäischen Projekts immer weiter zurückgedrängt wurde. David Cameron hat also durchaus Recht, wenn er innerhalb der EU ein Gegengewicht zur immer einflussreicher werdenden EU-Kommission schaffen will. Allerdings übersieht er dabei, dass dieses Gegengewicht nicht mittels einer Revitalisierung nationalstaatlicher Interessen erreicht werden wird, sondern durch eine starke supranationale Zivilgesellschaft, die der EU neue politische Legitimation verschafft. Dafür ist vor allem eine europäische Öffentlichkeit vonnöten, die als politisches Regulativ einer gereiften EU fungieren kann. Eine europäische Öffentlichkeit, in der die EU-Bürger miteinander kommunizieren, über ihre Diskurse supranationales politisches Handeln legitimieren und dem Europäischen Parlament angemessenes Gewicht verschaffen.

Es kann doch nicht sein, dass die europäische Öffentlichkeit im Zeitalter der vernetzten digitalen Sphären keine Stimme hat, ja im Prinzip völlig fehlt. Allein ein Blick auf die Medienstrukturen zeigt, dass kaum Kommunikationsplattformen existieren, auf denen die EU-Bürger über Ländergrenzen hinweg miteinander politisch interagieren können. Das für Europa typische öffentlich-rechtliche Modell ist national angelegt, sieht man mal von Projekten wie Arte oder 3sat ab, die eher eine Nische als „Kulturprogramm“ besetzen. Es erstaunt, dass Online-Inhalte vieler öffentlich-rechtlicher Rundfunkanstalten durch Geoblocking noch nicht einmal innerhalb Europas im Streaming zu sehen sind. Ein europaweites public service-Modell, das als Diskussionsforum der supranationalen Zivilgesellschaft dienen könnte, existiert ebenfalls nicht. Zynisch ausgedrückt: Zum Glück gibt es Google, Facebook und Youtube, die inzwischen eine wichtige Rolle für die transeuropäische Kommunikation einnehmen und auch Nachrichten verbreiten. Facebooks neues Modell der embedded newsfeeds oder Youtubes Ansatz, Nachrichten verschiedener Quellen zeitnah und themenorientiert parallel darzustellen, sind – erneut zynisch formuliert - erfrischende Beispiele transnationaler Nachrichtformate. Solche Formate sind bei den öffentlich-rechtlichen Medien mit ihrer territorialen und vertikalen Orientierung leider kaum zu finden.

Anfang der neunziger Jahre gab es zwei - allerdings nicht besonders erfolgreiche – Versuche, europaweite Öffentlichkeit mittels transnationaler Nachrichten herzustellen. So wurde im Jahr 1990 in England eine Wochenzeitschrift mit dem vielsagenden Titel The European gegründet, die allerdings nur bis 1998 überlebte. Das zweite Beispiel ist der Fernsehsender Euronews, der im Jahr 1993 als „europäisches CNN“ startete, neben den einflussreichen nationalen Nachrichtenprovidern wie BBC, France 24 oder der Deutschen Welle bis heute allerdings kaum eine Rolle spielt. Parallel dazu existiert auch noch Eutelsat - eine Satellitenkette, die über dem europäischen Kontinent bis nach Nordafrika und dem Nahen Osten Tausende von Radio- und Fernsehprogrammen ausstrahlt. Dieses kosmopolitische Paralleluniversum zu den territorial geordneten Medien stellt eine wichtige transnationale Öffentlichkeit für Migranten innerhalb Europas dar.

Auch die Medienforschung zeichnet ein relativ düsteres Bild, wenn man nach Indikatoren für eine europäische Öffentlichkeit sucht. So zeigen Studien, dass eine Europäisierung der Öffentlichkeit nur aus dem Blickwinkel nationaler (Mainstream-)Medien vermittelt wird. Hinzu kommt, dass über „Europa“ meist mit dem spezifischen EU-Blick berichtet wird und alternative Perspektiven nur selten zur Sprache kommen. Dies zeigt, wie eng der europäische und nationale Blick oft zusammengedacht werden.

Wendet man sich bei der Suche nach Anhaltspunkten einer europäischen Öffentlichkeit offiziellen EU-Dokumenten zu, offenbart sich ein interessanter Deutungswandel. Noch im Jahr 2000 galt eine funktionierende europäische Öffentlichkeit dezidiert als demokratischer Mechanismus innerhalb der EU. So betonte damals ein „Green Paper“ der EU-Kommission mit dem Titel The Future of Parliamentary Democracy die Bedeutung der europäischen Öffentlichkeit für eine neue Form von Governance - als Sphäre der kontinuierlichen Aushandlung von kollektiver Identität und einer transnationalen politischen Kultur. Nur ein Jahr später fand eine komplette Kehrtwende statt: Die europäische publicness wurde nun nicht mehr als politische Öffentlichkeit und Raum für Deliberation verstanden, sondern zur publicity umdefiniert, zur Sphäre der Public Relations, reduziert auf eine europäische Öffentlichkeit der strategischen Informations- und Kommunikationspolitik. Diese Linie setzt sich bis heute fort.

In der „Digitalen Agenda“ der EU-Kommission vom Mai 2015 nimmt die zivilgesellschaftliche Dimension so gut wie keinen Raum mehr ein. Vielmehr soll digitale Kommunikation vor allem einen digital single market ermöglichen. Die drei Säulen der Digitalen Agenda – „Zugang“, „Umwelt“, „Wirtschaft und Gesellschaft“ - sind nicht darauf ausgelegt, für die europäischen Bürger neue Vernetzungsformen zu schaffen, sondern eine neoliberale Politik für digitale Märkte zu ermöglichen.

Die Frage ist, was getan werden muss, um eine europäische Öffentlichkeit und einen demokratischen Diskurs über Ländergrenzen hinweg zu ermöglichen. Diese Debatte sollte gerade auch die SPD führen.

Während die Digitale Agenda der EU den Wirtschaftsraum stärken soll, sind alternative Maßnahmen gefragt, um die länderübergreifende Kommunikation der Zivilgesellschaft zu verbessern. Ein mögliches Vorbild könnte die australische Medienpolitik sein. Sie wurde im Jahr 2013 komplett neu definiert: Die medienorientierten Politikansätze des Massenzeitalters wurden als broken concepts beiseitegelegt und vom Paradigma des connected citizen ersetzt, das zum Beispiel die Bedeutung von Mobilität, öffentlicher Kommunikation oder Smartscreens stärker in den Fokus rückt. Dabei handelt es sich weltweit um einen der wenigen medienpolitischen Ansätze, mit dem Kommunikation aus der Perspektive digital vernetzter Bürger aktiv gestaltet werden soll. Dieses Modell des connected citizen könnte für Europa ein Vorbild sein, um eine digitale Zivilgesellschaft jenseits nationaler Medienpolitiken zu schaffen.

(Dieser Text ist am 16. Juli 2015 als Online-Spezial-Beitrag der Berliner Republik erschienen.)