Wir müssen jetzt neue Wege gehen

Überall in Europa verlieren die Parteien der linken Mitte Wahlen wie noch nie.

Nachdem die reformorientierte Sozialdemokratie in den neunziger Jahren beispiellose Erfolge erzielte, wird sie heute von so genannten mitfühlenden Konservativen in Schach gehalten. Offen ist, ob es sich dabei um ein Schachmatt handelt. Die rechten Parteien versuchen, die damals erfolgreichen sozialdemokratischen Wahlstrategien zu kopieren. Und die Parteien links der Mitte konnten sich im vergangenen Jahrzehnt nicht entscheiden, ob sie selbst diese Strategien aufgeben oder weiter verfolgen sollten. Genau deshalb verlieren sie Wahlen in großem Stil. Der Schlüssel zum Erfolg besteht darin, auf den Strategien der neunziger Jahre aufzubauen.

Blicken wir auf die Fakten: Im Jahr 2010 fuhr die Labour Party bei den britischen Parlamentswahlen das schlechteste Ergebnis seit 1918 ein, während die schwedischen Sozialdemokraten so schlecht abschnitten wie seit 1911 nicht mehr. Ein Jahr zuvor hatte die SPD ihr mit Abstand miserabelstes Wahlergebnis seit Gründung der Bundesrepublik erzielt; nie zuvor hatte eine deutsche Partei in derartigem Umfang an Zustimmung verloren. Frankreich 2007: das schlechteste Resultat seit 1969. Holland 2009: ein traumatischer Weg vom regierenden Juniorpartner in die Opposition. Italien: personelle und politische Konflikte lähmen die linke Opposition.     

Historisch betrachtet sind diese sechs Länder die Hochburgen der europäischen Sozialdemokratie, die Heimatländer von Helden wie Nye Bevan, Antonio Gramsci, Willy Brandt, François Mitterand und Olof Palme. Hier wurde einst das Credo des Revisionismus geboren. Doch im Jahr 2011 werden diese Staaten von Parteien der rechten Mitte regiert. Ich habe in der Bibliothek des Unterhauses nachgefragt, wann es so etwas zum letzten Mal gab. Die Antwort: Eine derartige Dominanz der Rechten in Europa hat es seit dem Ersten Weltkrieg nicht gegeben – seit der Einführung des allgemeinen Wahlrechts.

Jetzt könnte man einwenden, dass ja in Spanien, Portugal und Griechenland Parteien der linken Mitte regieren. Das stimmt. Außerdem zeigten doch Barack Obama und der indische Präsident Manmohan Singh, wie man rechten Obskurantismus erfolgreich bekämpft. Man könnte auch sagen, dass bei den jüngsten Wahlen die sozialdemokratischen Spitzenkandidaten weniger beliebt waren als ihre Parteien – für Gordon Brown und Mona Sahlin in Großbritannien und Schweden trifft das auf jeden Fall zu. Aber Parteiführungen spiegeln ihre Parteien wider. Man kann sogar mit Fug und Recht behaupten, dass die europäischen Konservativen ihre Amtsperioden derzeit krachend in den Sand setzen: Überall entpuppen sie sich als nicht annähernd so liebenswürdig und mitfühlend wie sie vorgeben; ihre Programme sind im besten Fall verwirrt und oft genug gefährlich. Beispielsweise verschärfte die Regierung Chirac/Juppé in Frankreich – im Jahr 1995 mit dem Anspruch angetreten, „soziale Brüche“ zu heilen – sehr schnell die gesellschaftlichen Spannungen. Zwei Jahre später war die Linke wieder an der Macht. All das ist richtig. Es reicht aber nicht aus. Die sozialdemokratischen Parteien in Frankreich, Schweden und Deutschland, die im vorigen Jahrzehnt gleich zweimal verloren haben, können das sicher bestätigen.

Die linken Parteien verlieren Wahlen in größerem Ausmaß als je zuvor. Sie verlieren ebenso aus der Regierung heraus wie aus der Opposition. Sie verlieren in Mehrheits- wie in Proportionalwahlsystemen. Sie verlieren unabhängig von ihrer Haltung zum Irak-Krieg. Obendrein zerfasern sie genau zu dem Zeitpunkt, zu dem die Rechte sich vereinigt. Ich glaube nicht, dass es sich hierbei um einen Unfall oder um Schicksal handelt. Wenn wir vorankommen wollen, müssen wir die wirklichen Gründe für diese Entwicklung verstehen und können uns nicht darauf verlassen, dass den Konservativen die Puste ausgeht. Die Gründe werden nur sichtbar, wenn man die sechs Länder analysiert und Parallelen zieht.

Die zentrale Frage lautet: Wohin sind unsere Wähler verschwunden? In den sechs genannten Ländern verliert die Sozialdemokratie vor allem in drei Wählergruppen an Zustimmung, die allesamt über ein „Klassenbewusstsein“ verfügen und deren Werte von der linken Mitte verletzt worden sind. Erstens verlieren wir Wähler aus der Arbeiterschicht, die nach Rechts- und Linksaußen abwandern. In Holland ist die anti-islamische Partij voor de Vrijheid bei den Parlamentswahlen sogar auf dem zweiten Platz gelandet. Dafür gibt es zwei miteinander verwandte Gründe – einer ist Interessen geleitet und der andere kultureller Natur. Für die klassisch arbeiterliche Wählergruppe ist Einwanderung ein wichtiges Problem, bei dem sie die Mitte-Links-Parteien entweder als verdächtig oder sogar als schuldig ansieht. Zudem befürchten diese Wähler, dass ihre Jobs in der Arbeitswelt der Zukunft zuerst verschwinden werden. Während die französische Front National in den achtziger Jahren noch als Bedrohung für die rechten Parteien startete, stellt sie ebenso wie ihre Schwesterparteien heutzutage eine größere Herausforderung für die linke Mitte dar.

Wo sind all die Wähler hin?

Hinzu kommt, dass in einigen Ländern mit Verhältniswahlsystemen wie Deutschland Parteien am linken Rand Zulauf haben. Die Zersplitterung im linken Spektrum und die daraus folgenden Koalitionen – die „plurale Linke“ in Frankreich, Rot-Grün-Links in Schweden – sind ein Problem für sich. Zusätzlich haben diese Bündnisse einen Welleneffekt auf eine zweite Wählergruppe: Nicht zuletzt aufgrund von Koalitionen mit der Linkspartei und den Grünen verlieren die Mitte-Links-Parteien Wechselwähler mit mittlerem Einkommen, häufig junge Familien. Beispiel Schweden: Nur einer von fünf Einwohnern Stockholms hat zuletzt noch die Sozialdemokraten gewählt; unter den Arbeitnehmern war es ungefähr jeder zehnte (13 Prozent); und nur jeder zweite Gewerkschafter stimmte für die klassische Arbeiterpartei. Ein Drittel der Wähler, die sich abwendeten, nannte als Grund die Allianz der Sozialdemokraten mit der Linkspartei. Ihnen geht es hauptsächlich um Steuerfragen und staatliche Ausgaben. Sie wollen ihren guten Lebensstandard nicht verlieren, schon gar nicht im Tausch für einen generöseren Sozialstaat. Oder nehmen wir Großbritannien: Seit die Dotcom-Blase geplatzt ist – also schon lange vor der Finanzkrise –, stagnieren die mittleren Einkommen. Das ist die „bedrängte Mitte“, auf deren Lage Ed Miliband hingewiesen hat.

Drittens verlieren wir Angehörige der Mittelschicht, aber auch jüngere Wähler, die sich von den Kompromissen der Macht abgestoßen fühlen. Allerdings wollen diese Gruppen mit den Konservativen ebenfalls nichts zu tun haben, sie suchen einfach eine Alternative zu den etablierten Parteien. Ein Indiz dafür sind in Großbritannien die vielen Stimmen für die Grünen und Liberaldemokraten. Auch die deutschen Grünen schneiden in Umfragen und Landtagswahlen derzeit sehr gut ab, selbst wenn die SPD bei den Bürgerschaftswahlen in Hamburg ein exzellentes Ergebnis eingefahren hat.

Die zweite entscheidende Frage ist: Warum haben uns alle diese ehemaligen Wähler verlassen? In den neunziger Jahren traf das optimistische Image der reformorientierten Sozialdemokratie den Nerv der Zeit. Im Jahr 1999 waren 13 von 15 Regierungen der EU rot. Quer durch Europa hatten erneuerte Mitte-Links-Parteien ein überzeugendes Narrativ geschaffen, das von gerechten, aber flexiblen Arbeitsmärkten handelte, von sozialen Investitionen in Bildung, von der Erneuerung des Sozialstaates und von einer starken internationalen Orientierung. Diese Parteien waren nicht alle gleich. Als ich den französischen Premierminister Lionel Jospin einmal fragte, warum er nicht für das Präsidentenamt kandidiere, antwortete er, es gebe in Frankreich nur drei Sozialdemokraten. Aber selbst er machte eine „Marktwirtschaft, jedoch keine Marktgesellschaft“ zum Herzstück seiner Politik. Der soziale Fortschritt – Frauen- und Homosexuellenrechte – schritt schnell voran. Die sozialdemokratischen Regierungen steigerten die Sozialinvestitionen, legten anscheinend funktionierende Welfare-to-work-Programme auf und bekämpften die Armut. Parallel schuf das politische Projekt Europa enge ökonomische Verbindungen. Kurzum, die Ära nach dem Kalten Krieg war bestimmt von revisionistischer sozialdemokratischer Politik. Sie dominierte die politische Mitte und führte zu wesentlichen sozialen Reformen.

Seitdem hat sich einiges verändert – die Wirtschaft, die Politik sowie die politischen Ideen. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, aber bevor der Aufstieg von China, Indien und Brasilien so richtig begonnen hatte, schien das Wachstum in Europa eine sichere Sache zu sein. Manche sprachen sogar vom Ende der Konjunkturzyklen. Der Traum des britischen Labour-Politikers Tony Crosland, dass wir uns in Zeiten der Vollbeschäftigung auf gleiche Lebenschancen für alle konzentrieren könnten, schien näher zu rücken. Leider wird die Politik, die in der „NICE decade“ der neunziger Jahre erfolgreich war, den Anforderungen der „GRIM decade“ nicht mehr gerecht. Den Begriff der „NICE decade“ hat der Gouverneur der britischen Zentralbank Mevyn King geprägt. Er steht für „Non Inflationary Continuous Expansion“ – dauerhaftes Wirtschaftswachstum ohne Inflation. Stattdessen befinden wir uns heute in der „GRIM decade“: „Growth Restricted and Inflationary Misery“ – begrenztes Wachstum plus inflationäres Übel.

Die Politik ist rauer geworden

Zwar entstanden aus den Krisen der dreißiger Jahren der New Deal und der keynesianische Wohlfahrtsstaat. Aber wie der Politikwissenschaftler Andrew Gamble gezeigt hat, haben die Parteien der linken Mitte in der Vergangenheit nur selten kurzfristig von Rezessionen profitiert – weder in den dreißiger oder siebziger Jahren noch heute. Es ist eine Ironie der Geschichte, aber bezeichnend, dass ein Direktor des Internationalen Währungsfonds nötig ist, um den französischen Sozialisten die besten Aussichten auf einen Sieg seit vier Präsidentschaftswahlen zu verschaffen.

Die Politik in Europa wird von der Wirtschaft nicht bestimmt, aber doch geformt. Angesichts des starken globalen Wettbewerbs hat die aktuelle Wachstumsschwäche Konsequenzen: Die Politik ist rauer geworden, wenn es um den Sozialstaat und die Löhne geht, um Steuern und staatliche Ausgaben oder um Einwanderung. Das nutzt den Konservativen ebenso wie die gestiegenen Staatsdefizite, die ihnen eine neue, einfache Begründung ihrer Politik liefern.

Dennoch wäre es töricht, einen weiteren zentralen Faktor für die jüngsten Niederlagen zu verkennen: die „Entgiftung“ der Rechten. Nachdem sie von Bill Clinton, Tony Blair, Göran Persson, Wim Kok, Romano Prodi und Gerhard Schröder fulminant geschlagen worden waren, stellten sie sich neu auf. George W. Bush führte im Jahr 2000 vor, wie man gewinnen kann: Er gab sich als „mitfühlender Konservativer“ aus. Bush trat gegen das republikanische Establishment der Ostküste an, propagierte eine neue Bildungspolitik und sogar progressive Reformen in der Einwanderungspolitik.

Die konservativen Parteien Europas begriffen, dass sie aus der Mitte verdrängt worden waren – und reagierten darauf. Einst hatten sie sich als Bollwerk gegen sozialkulturelle Anliegen verstanden, nun entdeckten sie die neue Welt der Homosexuellen- und Frauenrechte. Wo es zuvor nach Klientelpolitik für die Reichen ausgesehen hatte, überbot man sich nun in der Rhetorik gegen die inakzeptablen Seiten des Kapitalismus. Es war nicht der chinesische Präsident Hu Jiantao, sondern Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy, der auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos sagte: „Die Globalisierung hat eine Welt geschaffen, in der dem Finanzkapital alles und den Arbeitnehmern nichts gegeben wird, in der die Vermögenden die Arbeiterschaft im Stich gelassen haben.“

Die Konservativen haben sich gewandelt

Wo die Rechten den Anschluss an die moderne Welt verloren hatten, wie in Großbritannien, besetzten sie grüne Themen. Und wo sie dem Nationalcharakter nicht mehr zu entsprechen schienen, wie in Schweden, passten sie sich der politischen Mitte an. Noch bei der Wahl von 2002 hatten die schwedischen Konservativen gerade einmal 15 Prozent der Stimmen erzielt; doch bei den beiden darauf folgenden Wahlen 2006 und 2010 fuhr die Mitte-Rechts-Allianz große Siege ein. Die linke Mitte ist unsicher, ob sie diese Wandlung der Konkurrenz als Kompliment ansehen soll – oder als Beleg dafür, dass in den neunziger Jahren irgendetwas gründlich schief gelaufen sein müsse.

All dies wirkt sich auch auf die ideenpolitische Auseinandersetzung aus. Seit den zwanziger Jahren gab es in allen erfolgreichen sozialdemokratischen Programmen drei Konstanten: erstens ein größerer Schutz vor den Risiken des Lebens, zweitens mehr Gestaltungsmacht über das eigene Leben sowie drittens die Stärkung der Gemeinschaften, in denen sich das Leben abspielt. Alle drei Versprechen sind unter den Druck des ökonomischen und sozialen Wandels geraten.

Erstens: Das Leitmotiv der linken Reformer in den neunziger Jahren lautete, mit Lionel Jospin gesprochen, man wolle die Globalisierung nicht bekämpfen, sondern managen. Zentrales Instrument dafür war ein aktiver Sozialstaat. Der alte Wohlfahrtsstaat hatte lediglich ein residuales Sicherheitsnetz garantiert, der neue würde mittels Bildung und Weiterbildung ein Trampolin bereitstellen. Jedoch war die Angst der Bürger um die ökonomische Zukunft ihrer Kinder stärker als die Maßnahmen für mehr soziale Mobilität. Viele meinen, der Sozialstaat sei nicht streng genug und befähige die Leistungsempfänger nicht hinreichend dazu, ihr Leben in die eigenen Hände zu nehmen.

In der Konsequenz verschob sich das Gerechtigkeitsargument hin zu den Rechten. Erschwerend kamen Steuererhöhungen hinzu: In den fünfziger und sechziger Jahren zahlten zwei Drittel der britischen Wähler praktisch keine oder nur wenig Steuern. Heute hat sich die Struktur des Arbeitsmarktes gewandelt und die Staatsausgaben sind massiv angestiegen. Für viele Wähler sind die sozialdemokratischen Investitionen in Gesundheit, Bildung und Soziales, mit den Worten Peter Kellners, von einem „eindeutigen zu einem bedingten Segen“ geworden – abhängig von der Qualität der jeweils angebotenen Leistung.

Zweitens: Historisch gesehen hat der Markt bewirkt, dass die Menschen wie Waren behandelt wurden, die gekauft und verkauft werden konnten und sich deshalb wehr- und hilflos fühlten. Erst der Staat gab ihnen Macht – zunächst durch Wahlen, dann durch Rechte, dann durch Dienstleistungen. Doch heute erachten viele nicht mehr den Markt, sondern den Staat als „guten Diener, aber schlechten Meister“. Ein Marktversagen wie die Bankenkrise wird als Regulierungsversagen des Staates wahrgenommen. Dass die Linke mit dem Staat assoziiert wird, wendet sich nun gegen sie. Und dass der Staat ausgedehnt wurde, um die Bedürfnisse der Bevölkerung zu befriedigen, hat die Vorwürfe verstärkt, er sei ein gefräßiges Monster und keine Schutzvorrichtung. Es ist schon tragisch, wenn es in Großbritannien erst einer Tory-Regierung bedarf, um die Leute daran zu erinnern, was ihnen die Labour Party wert ist.

Drittens: Wie schaffen wir in der Gesellschaft ein modernes Zugehörigkeitsgefühl? Dabei geht es sowohl um Einwanderer als auch um die sozial Schwächeren. Der Kulturwissenschaftler Jonathan Rutherford spricht von „Enteignungen im Schatten der hellen Lichter der Konsumkultur und des Glamours von Prominenz und Geld“. Die kosmopolitische Rhetorik der Vielfalt und der individuellen Rechte wird als bedrohlich und fremd wahrgenommen. Rutherford nennt die English Defense League als Symptom für die kulturelle Entwurzelung und die ökonomische Krise – eine selbst ernannte Straßenmiliz, die gegen die „zivilisatorische Bedrohung“ des Islam kämpfen will.

Die rechten Parteien haben beim Thema Einwanderung wenig zu bieten. Hingegen ist die Linke zerrissen: Einerseits steht sie für individuelle Menschenrechte unabhängig von der Nationalität, andererseits weiß sie, dass Gemeinschaften auf lang gewachsenen, tiefen Wurzeln beruhen. Genau deshalb sind wir ins Hintertreffen geraten, wenn es um den Charakter unseres Gemeinwesens geht. Allen, die sich mit britischer Politik beschäftigen, sei ein aktueller Bericht der Zeitschrift Searchlight empfohlen: Die Autoren warnen davor, von einer quasi-natürlichen Mitte-Links-Mehrheit auszugehen, wenn Wertefragen fundamental quer liegen zu traditionellen politischen Trennlinien.

Der Dritte Weg als Sackgasse

Wenn wir also wissen, wen wir verloren haben und warum – wie geht es jetzt weiter? Die linke Mitte wird nur vorankommen, wenn wir aus der Sackgasse des Dritten Weges herausfinden. Die sozialdemokratischen Regierungen der neunziger Jahre waren gut darin, die sozial Schwächeren vom ökonomischen Aufschwung profitieren zu lassen – aber nicht gut genug darin, den Aufschwung zu verstetigen. Sie waren gut darin, die Verantwortung der Empfänger sozialer Leistungen zu propagieren – aber nicht gut genug darin, auch von den Eliten Verantwortung einzufordern. Ihre Analyse des befähigenden Staates war richtig – aber es haperte an der Umsetzung. Die Rhetorik in Bezug auf einen effektiven öffentlichen Sektor war gut – aber sie haben nicht hinreichend dargestellt, dass dafür auch eine gute Planung und funktionierende Märkte notwendig sind. Sie waren gut darin, Wahlkampfmaschinerien zu betreiben – aber nicht gut genug darin, soziale Bewegungen für den Wandel aufzubauen.

Strategisch gesehen gilt jedoch das Gegenteil: Der Revisionismus war zwingend notwendig. Nur so konnten die sozialdemokratischen Parteien, die sich in den siebziger und achtziger Jahren an Wahlniederlagen gewöhnt hatten, wieder funktionsfähig werden. Die guten Seiten der neunziger Jahre sind die Grundlage für künftige Wahlerfolge: radikale Konzepte, neues Denken über nationale und internationale Reformen, hohe Aufmerksamkeit für sozialen und technologischen Wandel, entschiedenes Vorgehen in Kriminalitäts- und Sicherheitsfragen, die Bereitschaft, soziale Gerechtigkeit auf neuen Wegen zu erreichen, ein starkes Gespür für internationale Verantwortung. Auch die Reformbilanz kann sich sehen lassen: Am Ende waren die sozialdemokratisch geführten Länder sozial gerechter und besser vorbereitet auf die moderne Welt. Die europäische Sozialdemokratie muss auf den Erfolgen von „New Labour“ und „Drittem Weg“ aufbauen und darf nicht dahinter zurückfallen. Nur so kann sie ihre bis heute bestehenden Schwächen beseitigen.

Zu neuen Wahlerfolgen führt kein gerader Weg. Die Mitte-Links-Parteien müssen enttäuschte Wähler mit neuen Ideen, neuen Organisationsformen und neuen politischen Strategien zurückgewinnen – individuell zugeschnitten für jedes Land. Nach der verlorenen Wahl von 1931 sagte der britische Wirtschaftshistoriker und Labour-Politiker R. H. Tawney, Labour benötige „einen einfachen Blick auf das echte Leben der Menschen“. Es geht darum, auf emotionale Weise mit den Leuten, ihren Ängsten und Hoffnungen, in Kontakt zu kommen. Anders formuliert: Lasst uns nicht mit einem politischen Programm beginnen, sondern mit einer Ethik. Mit einer Ethik, bei der es um die grundlegenden Fragen der Menschen geht: Arbeit, Familie, Lebenschancen, Verantwortung. Und dann lasst uns diese Ethik auf die großen aktuellen Fragen anwenden.

Wie bauen wir eine moralische Ökonomie auf? Die sozialdemokratische Vision handelt nicht allein davon, wie viel Geld gemacht wird, sondern auf welche Weise. Wir sind keine Apologeten der Globalisierung. Wir sind Reformer. Parteien der linken Mitte können Wahlen gewinnen, wenn sie sich als Erneuerer des privaten Sektors präsentieren – im Namen von Effizienz, nicht bloß von Gerechtigkeit. Indem sie den Staat gleichzeitig zu einem Verbündeten bei der Schaffung von Wohlstand und zu einer Abwehrinstanz gegen den Machtmissbrauch der Unternehmen machen, stellen sie die Abneigung der Rechten gegen den Staat auf den Kopf.

Wir brauchen eine andere Mentalität

Wie schaffen wir eine anständige Gemeinschaft? Unsere Vision beschränkt sich nicht auf Staat und Markt. Die Schwachstellen der von den Tories propagierten „Großen Gesellschaft“ (Big Society) stellen wir nicht bloß, indem wir einen voluminöseren Staat fordern, sondern durch bessere sozialdemokratische Konzepte für eine „Gute Gesellschaft“ (Good Society).

Wie machen wir die Globalisierung nachhaltig? Wir Europäer haben einen anderen Blick auf staatliche Souveränität in einer modernen Welt als die Amerikaner oder Chinesen. Ich nenne dieses Konzept „verantwortungsbewusste Souveränität“: Der Nationalstaat ist die Grundlage von Legitimität und Souveränität. Aber in einer interdependenten Welt haben alle wichtigen Probleme – Gesundheit, Kriminalität, Wirtschaft, Sicherheit – neben einer nationalen auch eine internationale Dimension. Die Parteien der linken Mitte müssen eine unverwechselbare europapolitische Vision entwickeln. Denn die Politikansätze und Haushaltsprioritäten der Europäischen Union wurzeln noch zu sehr in den sechziger und achtziger Jahren. Europas Konservative haben außer Sparvorschlägen wenig im Angebot. Sozialdemokraten müssen nüchterne und ernsthafte Internationalisten sein – oder unsere politischen Lösungen haben keinerlei Zugkraft.

Abschließend will ich erläutern, wie solche Ideen entwickelt werden können. In den neunziger Jahren ging die Erneuerung von den Think Tanks aus. Das ist wichtig, reicht aber nicht. Vor achtzig Jahren beschrieb Tawney die Risiken, falls die Regierung als riesiger Problemlöser auftritt: „Sie sollte die Leute zu langwierigen Anstrengungen aufrufen, aber zu häufig tat sie das Gegenteil. Sie umwarb sie mit der Hoffnung auf schnell zu erhaltene Leistungen. Sie verlangte zu wenig und bot zu viel an.“ Dieser Punkt ist wichtig, denn wir zeigen unsere politische Seele genauso durch die Art und Weise, mit der wir Politik betreiben, wie durch politische Maßnahmen und Programme. Top-down-Prozesse produzieren Top-down-Lösungen. Wir brauchen eine andere Mentalität.   

Einen Teil meiner Zeit widme ich dem Movement for Change, einer Führungsakademie für community organisers. Es handelt sich um einen neuen Ansatz, die Arbeiterbewegung wieder aufzubauen. Die Organisation hat nur wenige Mitarbeiter, aber eine große Idee, nämlich die, vor den kommenden Parlamentswahlen 10.000 Personen darin zu schulen, auf lokaler Ebene Einfluss auszuüben. Diese Leute werden sich darüber Gedanken machen, wie der Sozialstaat funktionieren kann oder wie die Kapazitäten des Privatsektors besser zu nutzen sind. Vor allem aber werden sie das Bewusstsein dafür schärfen, dass die Kommunen Akteure sind und den Dramen des Lebens nicht einfach zuschauen dürfen.

Jetzt muss die Reformlinke zeigen, was sie wirklich drauf hat. Die vernetzte Welt fordert die tiefsten Traditionen progressiver Politik heraus. Das Grundprinzip der linken Mitte lautet nicht, dass wir gezwungen sind zu teilen, sondern dass wir gestalten, indem wir teilen und nicht spalten. Dies ist eine Welt des geteilten Risikos – von Löhnen über Vogelgrippe bis hin zum Terrorismus. Es ist eine Welt der geteilten Identität mit einem wachsenden globalen Bewusstsein dafür, was es bedeutet, ein Mensch zu sein. Wie sonst ist es denn zu erklären, dass die Selbstverbrennung eines tunesischen Obstverkäufers eine Legitimitätskrise in der gesamten arabischen Welt entfachen kann? Auf dieser Erde gibt es immer mehr Ressourcen für gemeinsames Handeln – mit dem Staat, aber auch ohne ihn. Genau dafür ist die Sozialdemokratie gegründet worden: Zusammen können wir mehr erreichen als allein. Aber dafür müssen wir neue Wege gehen. Das sollte uns nicht depressiv machen, sondern inspirieren.

Denn die Rechte mag zwar das Feld der Wirtschaftskompetenz besetzen, sie hat aber keinerlei Antworten auf die zentrale Frage, wie Europa in dieser Welt künftig seinen Lebensunterhalt bestreiten soll. Die Rechte mag das Thema der Gemeinschaft kolonialisiert haben, ist aber fundamental gespalten zwischen liberalen und libertären Ansätzen. Der mitfühlende Konservatismus mag die Linke bisweilen neutralisiert haben, ist aber vollkommen ideenlos, was die Beziehung zwischen sozialer Gerechtigkeit und Haushaltsdisziplin angeht. Die „Big Society“ ist kein Ausweis der Stärke, sondern der Schwäche. Deshalb lohnt es sich zu kämpfen. Wahlen zu verlieren, ist schließlich keine Kleinigkeit. Es ist schlecht für die Menschen, die wir vertreten, es ist schlecht für unsere Länder, und ich würde sagen, es ist auch schlecht für die gesamte Welt. Vor allem aber ist es nicht unvermeidbar. Das ist die wirkliche Lehre des vergangenen Jahrzehnts. «

Dieser Text ist die leicht gekürzte Fassung eines Vortrags, den David Miliband am 8. März 2011 an der London School of Economics gehalten hat. Aus dem Englischen von Michael Miebach 

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