Wie wir sozialen Aufstieg wieder möglich machen



Wenn sich die SPD im nächsten Jahr ein neues Grundsatzprogramm gibt, werden 18 Jahre vergangen sein seit ihrer letzten großen programmatischen Anstrengung. Das Berliner Programm von 1989 wurde in einer weltpolitischen Umbruchphase verabschiedet und konnte vielleicht schon deshalb nicht die Wirkung entfalten, die 40 Jahre zuvor das Godesberger Programm hatte. Godesberg, das war Abschied und Aufbruch zugleich: ein endgültiger Abschied von der Arbeiterpartei und ein erfolgreicher Aufbruch zu neuen Ufern. Seitdem ist die SPD eine Volks- und Fortschrittspartei. Genau darum geht es auch heute: Wie schaffen es die Sozialdemokraten, programmatisch auf der Höhe der Zeit und zugleich wieder die bestimmende politische Kraft in Deutschland zu sein?

Natürlich gibt es dafür weder Patentrezepte noch Königswege. Aber die Lage der Sozialdemokratie ist besser als die allgemeine Stimmung in Deutschland. Der wichtigste Grund dafür: Die Ära Schröder hat die SPD stärker geprägt, als sich das manche Protagonisten in der Partei bisweilen eingestehen. In dieser Zeit hat die Sozialdemokratie nämlich bewiesen, dass sie – zweifellos unter erheblichen Schmerzen und Verlusten – unser Land verantwortungsvoll führen kann, ohne den inneren Kompass zu verlieren.

Seit 1989 hat sich die Welt in einem damals kaum vorstellbaren Ausmaß verändert. Dabei ist der Wandel so umfassend, so tief greifend und so rasch wie selten zuvor: Die West-Ost-Teilung der Welt ist beendet, aus Westeuropa ist ein zusammenwachsendes großes Europa mit eigener Währung geworden; Russland hat sich von einer Militär- zu einer Energiemacht entwickelt; China und Indien sind zu riesigen Wirtschaftsmächten aufgestiegen; die Kapital- und Finanzmärkte prägen die Entwicklung des Wirtschaftslebens fast überall in der Welt, bis hinein in die Unternehmen; der internationale Terrorismus ist zu einer anhaltenden Bedrohung auch für die Ballungsräume der europäischen Wohlstandsinsel geworden; die sozialen Sicherungssysteme ächzen überall unter der Last des auf die nationalen Arbeitsmärkte zurückwirkenden globalen Wettbewerbs und unter den Folgen des demografischen Wandels; und die weltweite Erwärmung unseres Planeten wird von keinem ernst zu nehmenden Wissenschaftler mehr bestritten.

Mut und Verantwortung

Es ist mutig und verantwortungsvoll, in Zeiten des globalen Umbruchs (und noch dazu in der Regierungsverantwortung) ein neues Grundsatzprogramm zu entwerfen. Mut und Verantwortung – das sind die politischen Merkmale der SPD. Dazu gehört zum einen, zu sagen, was Sache ist. Zum anderen geht es um Selbstvergewisserung: Woher kommen wir? Wo stehen wir? Wohin wollen wir?

Die politische Erfolgsgeschichte unserer Partei war von Beginn an verknüpft mit dem Aufstiegswillen der Leistungsträger: der Facharbeiter und Handwerker, der kleinen Selbständigen, der Techniker und Ingenieure, der Lehrer und Wissenschaftler. Die SPD war stets die Partei der Aufstiegswilligen und Aufstiegsbereiten. Wenn es ein kollektives Vermächtnis der Sozialdemokratie gibt, dann dieses.

Unser politisches Versprechen lautete jahrzehntelang: Aufstieg durch Leistung. Der Satz „Unsere Kinder sollen es mal besser haben als wir!“ galt als politisches Diktum der SPD und gehörte fest zum Wortschatz der Arbeiterfamilien im Nachkriegsdeutschland. Dieses Zukunftsversprechen ist zunehmend hohl geworden. Verunsicherung hat sich breit gemacht, gerade in der sozialdemokratischen Kernklientel. In der alten wie in der neuen Mitte unserer Gesellschaft haben die Menschen Angst davor, den Arbeitsplatz zu verlieren und damit den mühsam erkämpften Platz in der bundesdeutschen Wohlstandspyramide. Und allzu oft erleben hart arbeitende Menschen, dass ihr Gehalt mit den Lebenshaltungskosten sowie Steuern und Abgaben nicht mithält. Damit ist zugleich ihre wirtschaftliche und gesellschaftliche Teilhabe in Gefahr.

Der vielleicht größte Unterschied zur alten Bundesrepublik liegt heute darin, dass der Aufstieg sehr schwer geworden ist, der Abstieg allerdings umso schneller erfolgen kann. Vor kurzem stellte der konservative Publizist Alexander Gauland die berechtigte Frage: „Wie sichern wir denen, die mit indischen Löhnen konkurrieren, aber deutsche Mieten zahlen müssen, und die trotz aller theoretischen Bildungsbemühungen niemals den Aufstieg schaffen, ein würdiges Leben?“
Kurt Beck hat Recht: Leistung muss sich wieder lohnen. Zu den Leistungsträgern der Gesellschaft gehören alle, die einer regelmäßigen Beschäftigung nachgehen, seien es kleine Unternehmer, leitende Angestellte, Facharbeiter, Handwerker, Beamte, Krankenschwestern, Objektschützer oder Reinigungskräfte, die für nicht einmal fünf Euro pro Stunde arbeiten. Sie alle tragen ihren Teil dazu bei, dass die Wirtschaft wächst, notwendige Dienstleistungen erbracht und gesellschaftliche Aufgaben erfüllt werden. Sie alle sorgen dafür, dass der Sozialstaat handlungsfähig bleibt und dass der Teil der Bevölkerung, der dem Tempo unserer globalisierten Wissensgesellschaft nicht gewachsen ist, in Würde und Respekt leben kann. Denn natürlich dürfen wir auch Menschen, die nicht arbeiten können, weder ausgrenzen noch vernachlässigen. Es ist unser politischer Gestaltungsanspruch, sie nicht unter die Räder geraten zu lassen.

Dies gilt umso mehr, weil die deutsche Gesellschaft weit weniger durchlässig ist als noch vor zwanzig Jahren. Wer keine feste sozialversicherungspflichtige Beschäftigung hat, steigt ab, Stufe um Stufe. Er wird entweder „ausgeklinkt“ oder er „klinkt sich aus“. Teil nimmt er nicht mehr – nicht an der Politik, der er nichts mehr zutraut; nicht an der Wirtschaft, die ihm keine Chance bietet; nicht an der Gesellschaft, die ihn nicht mehr wertschätzt. Wenn wir einer solchen Entwicklung tatenlos zusehen, könnte eine neue Klassengesellschaft entstehen.

In der Sozialwissenschaft wird dieses Phänomen mit dem Begriff der Exklusion umschrieben. Dabei geht es weniger um ein Oben und Unten in der Gesellschaft als um ein Drinnen und Draußen. Europaweit drohen ganze Regionen und Stadteile, „ausgeschlossen“ zu werden. Wenn Politik und Staat sich dieser Entwicklung nicht stellen, werden die neuen Landschaften der sozialen Ungleichheit die europäischen Gesellschaften dramatisch verändern. Schon jetzt vergrößert sich der Abstand zwischen Arm und Reich. Gleichzeitig verlieren immer mehr Menschen den Anschluss an die gesellschaftliche Entwicklung, ganze Bevölkerungsgruppen werden abgekoppelt vom wirtschaftlichen und sozialen Leben, aber auch von kulturell verbindenden Elementen wie Fernseh- und Rundfunkprogrammen. Das böse Wort vom „Unterschichtenfernsehen“ hat hier seinen Ursprung.

In den Leitsätzen zum neuen Grundsatzprogramm der SPD wird zu Recht die Neujustierung unserer Grundwerte Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität angemahnt. Angesichts der unübersehbaren Folgen einer globalisierten Wirtschaft ist vor allem der Grundwert der Gerechtigkeit in den Mittelpunkt aktueller Debatten gerückt. Die übergroße Mehrheit der Menschen hat nicht den Eindruck, dass die weltweit agierenden Unternehmen vom Staat oder von staatlichen Institutionen in ihrer Freiheit beschränkt oder behindert werden, wie einige Interessengruppen uns weismachen wollen. Im Gegenteil: Sie empfindet viele Entwicklungen in der Wirtschaft als zutiefst ungerecht und obszön, etwa Stellenstreichungen und Massenentlassungen bei gleichzeitiger Erhöhung von Vorstandsbezügen. Wenn das gesellschaftliche Gerechtigkeitsempfinden dauerhaft verletzt wird, dann nehmen nicht nur die anderen beiden sozialdemokratischen Grundwerte Freiheit und Solidarität Schaden. Dann gerät unsere Gesellschaft insgesamt aus den Fugen.

Ersatzhandlungen genügen nicht

Die Programmdebatte der SPD darf allerdings nicht bei Ersatzhandlungen wie der Kritik an einer Verrohung des unternehmerischen Handelns stehen bleiben. Schließlich führt eine bestimmte Interpretation der Globalisierung dazu, das inzwischen jeder Anspruch auf soziale, ökologische oder kulturelle Spielregeln im Zusammenleben von Menschen – national oder international – mit dem Hinweis zurückgewiesen wird, dies sei unter den Bedingungen einer globalisierten Wirtschaft nicht durchsetzbar, schade dem freien Welthandel, zerstöre gleiche Wettbewerbsbedingungen oder beeinträchtige die internationale Wettbewerbsfähigkeit. Politische Gestaltungsansprüche müssen sich derzeit nicht mehr demokratisch, sondern fast ausschließlich ökonomisch legitimieren; der Verfassungsgrundsatz „alle Staatsgewalt geht vom Volke aus“ wird mehr und mehr in Frage gestellt. Die Menschen registrieren die Ohnmacht von Parteien, Parlamenten und Regierungen aufmerksam. Sie trägt weit mehr zur Wahlenthaltung und Politikverdrossenheit bei, als dies parteipolitischer Streit oder politische Skandale je tun werden.

„Hier endet der demokratische Sektor“

Wir brauchen eine zweite Aufklärung: Nach der Trennung von staatlicher und kirchlicher Macht geht es nun um die Trennung von demokratisch legitimierter und wirtschaftlicher Macht. An den Finanzmärkten und den Börsen darf kein Schild stehen mit der Aufschrift: „Hier endet der demokratische Sektor“. Wir müssen deshalb einige Fragen neu beantworten: Wie sollen und wollen Menschen in Deutschland, Europa und in der Welt zusammenleben? Wie wollen wir weltweit miteinander „überleben“ angesichts der zerstörerischen Wirkung des entfesselten globalen Kapitalismus für die natürlichen Lebensgrundlagen und unser Klima weltweit? Welche Spielregeln sollen dafür gelten? Und wie wollen wir sie durchsetzen?

Gewiss: Das ist keine leichte Aufgabe. Aber leicht waren auch die Aufgaben nicht, mit denen es die deutsche Sozialdemokratie bei ihrer Gründung vor mehr als 140 Jahren zu tun hatte. Trotzdem haben sich unsere Vorgängerinnen und Vorgänger ihnen gestellt – und viel gewonnen. Denn dass es die Sozialdemokratie nach Sozialistengesetzen und Kaiserreich, nach zwei Weltkriegen und zwei Diktaturen noch immer gibt, haben wir vor allem einer Idee zu verdanken: Menschen sind zu Freiheit, Demokratie, Gerechtigkeit und Solidarität fähig, das kapitalistische Wolfsgesetz ist nicht alternativlos, und es lohnt sich, für die Alternativen zu kämpfen. Im Mittelpunkt dieser Idee steht der Mensch, das ist das Entscheidende. „Menschen stärken. Sachen klären“, dieses Motto des Pädagogen Hartmut von Hentig bleibt auch für sozialdemokratische Politik eine gute Richtschnur.

Die deutsche und die internationale Sozialdemokratie muss erneut ihren Kampf um Freiheit, Demokratie, Gerechtigkeit und Solidarität aufnehmen. In der Europäischen Union geht es vor allem um finanzpolitische Spielregeln, die Wettbewerb ermöglichen, aber zugleich ein gegenseitiges Unterbieten und Aushöhlen der finanziellen Handlungsfähigkeit der Nationalstaaten verhindern. Und in der Welthandelsorganisation brauchen wir soziale und ökologische Mindeststandards.

Was jahrzehntelang versäumt wurde

In Deutschland muss ein neuer Gesellschaftsvertrag her, in dem wir uns wieder mehr zur Verantwortung aller für Leistung und Solidarität bekennen. Um Missverständnissen vorzubeugen: Bei der neuen Balance unserer Grundwerte und der stärkeren Betonung der Gerechtigkeit geht es nicht um ein Zurück in die Vergangenheit, als der Staat noch übermächtig und behäbig als Umverteilungsinstanz fungierte. Nein, der Staat alter Prägung, als Alimentierungsinstanz und Bedürfnisbefriedigungsagentur, ist mausetot. Nicht Hartz IV ist verantwortlich für eine wachsende Schicht von „Ausgeschlossenen“, sondern der jahrzehntelange Verzicht auf das Prinzip des „Fördern und Fordern“. Die Arbeits- und Sozialreform hat diese Probleme sichtbar gemacht – aber nicht verursacht.

Doch angesichts der Drei-Drittel-Gesellschaft, die Kurt Beck richtig diagnostiziert hat, brauchen die Menschen mehr Sicherheit und Verlässlichkeit. Auf den Arbeitsmarkt bezogen verfügt nur noch ein Drittel unserer Gesellschaft über gesicherte Wohlstandschancen. Daneben leben zwei Drittel der Menschen, die einen in zunehmend unsicheren Beschäftigungsverhältnissen, die anderen entweder in prekären Arbeitszusammenhängen oder bereits jenseits des Arbeitsmarktes und damit dauerhaft ausgeschlossen von Wohlstand und gesellschaftlicher Teilhabe.

Die Sozialdemokratie kann eine Gesellschaftsformation, die schon heute teilweise Züge einer Klassengesellschaft trägt, nicht akzeptieren. Unser Ziel lautet „Gerechtigkeit für alle“ und nicht „Reichtum für wenige“. Deshalb müssen wir das Kernversprechen des Sozialstaats erneuern, dass Anstrengung und Leistung Wohlstand ermöglichen. Dabei sollten wir nicht verkennen, dass sich die Bedingungen für den gesellschaftlichen Aufstieg fundamental gewandelt haben und dass der Staat an Handlungsfähigkeit eingebüßt hat, weil er sich zu sehr als Umverteilungsagentur anstatt als „Aktivierer“ und „Ermöglicher“ verstanden hat.

Tatsächlich ist Geringverdienern mit Appellen an die Eigenverantwortung ebenso wenig geholfen wie mit Sonntagsreden vom „lebenslangen Lernen“. Da zuckt ein Teil der Unterprivilegierten entweder mit den Schultern – oder wendet sich gleich ganz ab. Denn keineswegs alle Arbeitsuchenden sind in der Lage, die Bildungschancen wahrzunehmen, die ihnen geboten werden. Gerade diese Menschen stehen aber im globalen Beschäftigungswettbewerb mit Osteuropäern, Indern und Chinesen. So kalt und zynisch die Globalisierungsthesen des neoliberalen amerikanischen Kolumnisten Thomas Friedman auch sind, in einem Punkt hat er Recht: Nachdem bereits Staaten und Unternehmen im globalen Wettbewerb zueinander standen, konkurrieren nun auch die Menschen weltweit direkt miteinander, etwa Wachdienste, Schreibkräfte und andere nicht ortsgebundene Dienstleister wie Callcenter.

Keine Softdrinks mehr an Schulen

Sozialdemokraten sind davon überzeugt, dass es weder human noch sozial verträglich ist, die Löhne immer weiter zu senken und so direkt mit den Arbeitskräften in den so genannten Billiglohnländern zu konkurrieren. Wir müssen andere intelligente Antworten und Lösungen für den Erhalt dieser Arbeitsplätze in Deutschland finden.

Dabei sollten wir das große Ganze mit konkreten Maßnahmen verbessern und uns vor allem den drängenden Problemen spezifischer Zielgruppen widmen. Ein gutes Beispiel dafür ist Franz Münteferings Initiative zur Wiedereingliederung älterer Arbeitnehmer in das Erwerbsleben. Das große Ganze in vielen konkreten Maßnahmen zu erreichen – auch das ist ein Erfolg versprechender Weg. Der Kasseler Soziologe Heinz Bude brachte es jüngst so auf den Punkt: „Wenn Bill Clinton mit Getränkeherstellern aushandelt, dass keine Softdrinks mehr in amerikanischen Schulen verkauft werden, hat er mehr für die gesellschaftliche Chancengleichheit getan, als viele vollmundige Initiativen für Arbeiterbildung oder interkulturelle Kommunikation.“ Nahe bei den Menschen zu sein und für konkrete Problemlösungen zu streiten, zugleich aber den Blick für die großen wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhänge nicht aus den Augen zu verlieren – dies wird auch künftig der Maßstab sein für die Stärke der SPD.

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