Wie weiter mit Haider?

Europa und die Wiener Koalition

Ein Gespenst geht um in Europa - das Gespenst des Rechtspopulismus. Mit dem Stimmergebnis der FPÖ und ihrer maßgeblichen Beteiligung an der österreichischen Bundesregierung hat eine besorgniserregende Reihe von Wahlerfolgen rechtsradikaler bzw. -populistischer Parteien in Staaten der Europäischen Union einen vorläufigen Höhepunkt erreicht. Die Reaktion der EU-Staaten auf die Wiener Regierungsbildung erfolgte prompt und ließ an Deutlichkeit und Geschlossenheit nichts zu wünschen übrig. Unabhängig von politischen Lagern haben 14 Regierungen damit erstens demonstriert, dass die Union zu raschem politischen Handeln fähig ist, und dass zweitens nationale Regierungsbildungen nicht mehr in jedem Fall als innere Angelegenheiten einzelner Mitgliedsländer akzeptiert werden. Beide Elemente weisen eine neue Qualität auf und werden die notwendige Debatte über Rolle und Selbstverständnis des europäischen Projekts maßgeblich prägen. Neben positiven Signalen für die künftige Gestaltung Europas liegen im "Fall Österreich" jedoch auch Gefahren, die allein aus politischer Korrektheit nicht verschwiegen werden dürfen.

Es ist unverkennbar, dass die von den europäischen Regierungen verhängten Sanktionen gegen Österreich in eine politische Sackgasse geführt haben: Weder kann ernsthaft mit einem Ausscheiden der FPÖ aus der Wiener Regierung gerechnet werden, noch scheint ein Einlenken der Europäer ohne Erreichen dieses Zieles denkbar. Auch nach dem Rücktritt Haiders vom FPÖ-Vorsitz wird also die merkwürdige Situation fortbestehen, dass bilaterale Kontakte zu Österreich unterbleiben, während die Organe der Europäischen Union, in deren Namen die Sanktionen erfolgen, weiterarbeiten. Unerwünschte Nebenwirkungen des europäischen Vorgehens - wie starker innenpolitischer Rechtfertigungsdruck einiger Regierungen oder die Verstimmung zwischen Deutschland und Italien infolge der Aussagen von Bundeskanzler Schröder zu den italienischen Neofaschisten im ZEIT-Interview - sind dabei bereits aufgetreten.

Die EU steht vor wichtigen Weichenstellungen für die Zukunft. Die Reform von Institutionen und Entscheidungsprozessen steht ebenso an, wie Beschlüsse über die weiteren Schritte für Integration und Erweiterung. Gleiches gilt für die richtungsweisende Arbeit an einer europäischen Charta der Grundrechte, der Vorstufe zu einer gemeinsamen Verfassung der Union. Anstatt diese Schritte jedoch gemeinsam, optimistisch und der Bedeutung der Sache angemessen zu gehen, scheint die Energie mancher europäischer Regierungsvertreter momentan darauf gerichtet, Begegnungen mit österreichischen Kollegen kunstvoll zu vermeiden und besonders originelle Anti-"Mascherl"-Anstecker zu tragen. Es ist schwer vorstellbar, dass unter diesen Bedingungen ein sachorientiertes und positives Betriebsklima in der Union herstellbar ist, das nötig wäre, um das europäische Projekt entscheidend voran- und gleichzeitig breiten Teilen der Bevölkerung als nötig, richtig und positiv nahe zu bringen. Vielmehr leistet sich die Gemeinschaft einen Konflikt, der zumindest die Gefahr birgt, sich zu verstetigen und zu einer schleichenden Lähmung der Zusammenarbeit, wenn nicht gar zu einer ernsten Krise des europäischen Gedankens zu führen. Dies zu verhindern, muss oberstes Interesse jeglicher proeuropäischer Politik sein.

Es ist kein Geheimnis, dass die Reaktion der deutschen Politik auf das Problem Haider von den meisten EU-Partnern, jedoch auch von Israel oder den Vereinigten Staaten besonders aufmerksam beobachtet wird. Kanzler und Außenminister haben sich in dieser Situation vom deutschen Kerninteresse leiten lassen, politische Alleingänge in Europa - zumal in einer derart mit Bezügen zur finsteren deutschen Geschichte überfrachteten Frage - um jeden Preis zu vermeiden. Dies ist auch bei der weiteren Behandlung des Problems zwingend geboten, kann aber nicht bedeuten, weitere zentrale Anliegen des Landes aus den Augen zu verlieren. Deutschland hat eben auch ein elementares Interesse an Erweiterung und Vertiefung der Europäischen Union sowie daran, Erfolge rechtspopulistischer Parteien und einen deutschen Haider um jeden Preis zu verhindern. Die Frage, ob diese Ziele mit der aktuellen Behandlung Österreichs zu erreichen sind, muss erlaubt sein.

Der Fall Österreich gehört vom Kopf auf die Füße gestellt. Zunächst: Formell gründen die Maßnahmen der EU-Staaten auf dem Amsterdamer Vertrag, der Grundsätze der Freiheit, der Demokratie, der Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten als zentralen Wertekanon der Union definiert. Nach Meinung der übrigen EU-Staaten sind diese in Österreich bedroht. Tatsächlich gibt es in Hülle und Fülle Äußerungen von führenden FPÖ-Politikern, die Misstrauen und Wachsamkeit angebracht und berechtigt erscheinen lassen. Nur: Ähnliche Äußerungen, etwa zu Ausländer- und Asylrecht oder zur Osterweiterung der EU sind europaweit auch von Politikern völlig unverdächtiger (Regierungs-)Parteien bekannt und zwar durchaus auch in populistischer Art in nationalen Wahlkämpfen, ohne dass eine ähnliche Reaktion erfolgt wäre. Kriterium für die abschließende Beurteilung einer politischen Partei sollten Programmatik und politisches Handeln sein. Und hier ist auffällig, dass weder Haider bislang in Kärnten eine Politik betrieben hat, die europäischen Werten zuwiderläuft, noch die neue österreichische Regierung dies tatsächlich erwarten lässt. Bei näherem Hinsehen zeigt sich deutlich, dass Haider eben nicht ein unverbesserlicher Rechtsextremist oder gar die Fortsetzung Hitlers mit anderen Mitteln ist, sondern ein gnadenloser Populist, dessen Ideologie aus rechten und linken Versatzstücken besteht und der keine Sekunde zögern würde, öffentlich die Internationale abzusingen, wenn ihn nur dies zum Bundeskanzler machen würde. Gerade dieser Befund macht eine Einschätzung des Bedrohungspotentials für den europäischen Gedanken durch die Wiener Koalition so schwierig.

Haiders politische Erfolge in Österreich - einem Land mit hohem Lebensstandard und praktisch Vollbeschäftigung - gründen auf mehreren Faktoren. Erstens: Europapolitisch verbindet Haider den Unmut der Wähler über vermeintliche Brüsseler Überregulierung mit der Furcht vor massivem Druck auf den Arbeitmarkt durch osteuropäische Arbeitnehmer nach der EU-Erweiterung. Zweitens: In Österreich als traditionellem Asylland mit langer EU-Außengrenze und weit überdurchschnittlicher Aufnahme von Kriegsflüchtlingen vom Balkan fokussieren sich viele Probleme des Zusammenlebens von In- und Ausländern und erleichtern die politische Instrumentalisierung von Überfremdungsängsten. Drittens: Als Folge der politischen Nachkriegsgeschichte hat in Österreich die Ämterpatronage der etablierten politischen Parteien in Form von parteilicher Stellenbesetzung im öffentlichen Dienst, bei Gerichten, öffentlich-rechtlichen Medien sowie staatsnahen Unternehmen ein besonders hohes Maß erreicht.

Solche Probleme beschäftigen in unterschiedlicher Wertigkeit in vielen europäischen Ländern die Öffentlichkeit, und es ist zu bezweifeln, ob es der Akzeptanz von Europäischer Union und Einzelregierungen - auch und gerade in den potentiellen Beitrittsländern - langfristig zuträglich ist, dass mit Haider ein Politiker in Acht und Bann getan wird, der aus Sicht vieler "kleiner Leute" berechtigte Kritik an politischen Fehlentwicklungen auf europäischer und nationaler Ebene artikuliert.

Sicher gibt es innerhalb der Europäischen Union keine strikte Trennung von Innen- und Außenpolitik mehr. Dies sollte jedoch nicht dazu führen, dass supranational eine "Negativliste" von Politikern und Parteien aufgestellt wird, die von nationaler Regierungsbildung a priori ausgeschlossen sind. Richtschnur für eine politische Beurteilung muss vielmehr ein klarer Katalog von Bedingungen sein, dessen Erfüllung für die Mitgliedschaft in der Wertegemeinschaft Europäische Union und für die Teilhabe in ihre Institutionen die Voraussetzung bildet. Nur bei einem tatsächlichen Affront gegen die europäische Rechtsordnung, gegen internationale Flüchtlings- und Asylkonventionen, bei Nichterfüllung vereinbarter Kriterien oder der Behinderung gemeinsam beschlossener Projekte der EU sollte in das Selbstbestimmungsrecht der nationalen Regierungsbildung eingegriffen werden. Ohne Rücksicht auf Geschichte und Größe eines Landes.

Gegenüber Österreich bedeutet dies, weiterhin sehr genau darauf zu achten, ob nach Geist und Buchstaben der europäischen Verträge regiert wird, gleichzeitig jedoch die absurde Situation zu beenden, dass 14 Außenressortchefs einer Wertegemeinschaft ihre österreichische Kollegin Ferrero-Waldner, deren proeuropäische Überzeugung über jeden Zweifel erhaben ist, wie eine Aussätzige behandeln. Dass einige dieser Minister derartige Berührungsängste mit den Herren Putin oder Milosevic nicht hatten beziehungsweise haben, macht die Sache zudem nicht einfacher.

Das ist kein Plädoyer, über die Situation in Wien zur Tagesordnung überzugehen. Wachsamkeit gegenüber politischem Extremismus bleibt das Gebot der Stunde. Wahlerfolge nationalzentrierter Kräfte schaden dem europäischen Gedanken ebenso wie dem innenpolitischen Klima auf einzelstaatlicher Ebene. Sie sind jedoch auf Dauer nur zu verhindern, wenn verstärkte internationale Zusammenarbeit allen Europäern als Voraussetzung für ein Leben in Frieden, Wohlstand und Sicherheit nahe gebracht wird, während die nationalstaatliche Politik als vertrauenswürdige Interessenvertretung der Bürgerinnen und Bürger agiert, die zukunftsfähige Strukturen schafft, Probleme löst und in einer sich wandelnden Gesellschaft Benachteiligten Schutz bietet.

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