Wie eng jener Staat war

Hans-Dieter Schütt beschreibt das widerständige Leben Regine Hildebrandts. Dabei erzählt er auch eine Menge über sich selbst

Regine Hildebrandt war eine beliebte Politikerin. Sie gehörte zu den wenigen ostdeutschen Politikern, die nach dem politischen Umbruch in der DDR deutschlandweite Bekanntheit erlangten. Vor allem in Ostdeutschland wurde die brandenburgische Arbeits- und Sozialministerin geradezu verehrt. Zugleich löste sie mit ihrem energischen und streitbaren Auftreten durchaus auch Empörung aus – dies wiederum vor allem im Westen. Wortgewaltig vertrat Hildebrandt die Interessen der Ostdeutschen, wie sie sie verstand. Entsprechend wurde ihr in den Medien zugeschrieben, die Stimme der Ostdeutschen zu sein. Jetzt hat der Journalist Hans-Dieter Schütt mit dem Buch Ich seh doch, was hier los ist: Regine Hildebrandt die erste Biografie über die im Jahr 2001 verstorbene Politikerin vorgelegt. Es ist sein zweites Buch über Regine Hildebrandt. Das erste, Regine Hildebrandt: „Bloß nicht aufgeben!“, erschien 1992 und dokumentierte drei lange Interviews des Autors mit Hildebrandt.

Regine Hildebrandt besaß eine besondere ostdeutsche Authentizität. Sie betonte: „Ich habe meine eigene, von der westlichen recht abweichende Lebenserfahrung, und ich lasse mir nicht einreden, dass sie wertlos sei.“ Als Politikerin war sie mit hohem persönlichem und emotionalem Engagement bei der Sache. „Sie lebte ihren politischen Auftrag, als seien Familienangelegenheiten zu regeln“, schreibt Schütt. Doch Hildebrandt redete den Menschen nicht nach dem Munde, sie unterstützte gerade nicht die häufig unterstellte „Jammerhaftigkeit“ der Ostdeutschen. Vielmehr versuchte sie, die Menschen dazu anzuregen, selbst aktiv zu werden, selbst vor Ort etwas zu tun, um der zunehmenden Misere und Lethargie in der ostdeutschen Provinz entgegenzuwirken.

Nach 1989 räumte Regine Hildebrandt den zentralen Raum in ihrem Leben der Politik ein. Dennoch hat Hans-Dieter Schütt keine politische Biografie über sie geschrieben. Vielmehr stellt er ausgiebig die Lebensgeschichte Regine Hildebrandts und ihrer Familie vor 1989 dar. Der geradezu liebevolle Bericht beginnt im Jahr 1940, mit den Eintragungen im Taschenkalender von Regines Vater, dem Unterhaltungsmusiker Walter Radischewski. Kindheit und Jugend, Studium und Beruf, später das Familienleben von Regine und Jörg Hildebrandt mit ihren drei Kindern – über all das berichtet Schütt anhand von Eintragungen zunächst in den Familienkalendern, dann in Regines eigenen Kalendern.

„Wir waren nie Dissidenten“

Schon als Kinder hatten sich Regine Radischewski und Jörg Hildebrandt in Berlin kennen gelernt. Jörg war der Sohn des Pfarrers der evangelischen Versöhnungskirche, die damals noch in der Bernauer Straße stand. „Radischewskis, Regines Eltern, und Hildebrandts, die Eltern ihres späteren Mannes Jörg, sind stets entschiedene Gegner des DDR-Systems gewesen, ebenso wie Regine und Jörg“, schreibt Schütt. In dieser Umgebung wuchs Regine auf. Sie engagierte sich in der evangelischen Kirche, war Mitglied der Jungen Gemeinde und sang schon als Kind im Kirchenchor – ihr Leben lang blieb sie begeisterte Chorsängerin. Mitglied der FDJ wurde sie nicht. Doch Familien, die sich in der Kirche engagierten, waren dem DDR-Regime verdächtig. Entsprechend wurde Regines Wunsch zu studieren an der Humboldt-Universität abgelehnt; nur durch einen Zufall konnte sie doch noch Biologin werden.

Regine Hildebrandt arbeitete lange Jahre in der Zentralstelle für Diabetes und Stoffwechselkrankheiten in Berlin mit zuckerkranken Menschen. Unter den schwierigen Bedingungen für Diabetiker in der DDR versuchte sie, die alltäglichen Lebensverhältnisse der Zuckerkranken zu verbessern. Sie war eine Frau, „die um fünf früh raus musste, die ihre Kinder in den Kindergarten brachte, die abends kochte und wusch“. Aber nur in dieser Hinsicht lebte sie eine typische ostdeutsche Frauenbiografie. Denn Regine und Jörg Hildebrandt führten kein typisches DDR-Leben. Sie blieben standhafte Nichtwähler, selbst wenn die Wahlhelfer mit der Urne vor der Tür standen. Sie schrieben Protestbriefe und kritische Eingaben. Und ihre Kinder waren nicht bei den Pionieren oder in der FDJ. Sie waren Gegner des DDR-Systems, aber wie Jörg Hildebrandt sagt: „Wir waren nie Dissidenten“. Vor sich selbst wollten sie bestehen können, mit allem, was sie taten oder nicht taten.

Eindringlich schildert der Autor die Lebenskraft Regine Hildebrandts: ihre Tatkraft, ihren Durchsetzungswillen und ihre Unbeugsamkeit. Regine Hildebrandt macht stets etwas, sie handelt und handarbeitet, sie verbessert, erkämpft oder besänftigt; nicht andere – oder das Leben – sind es, die etwas mit ihr machen. Und diese Haltung zum Leben behält sie auch nach dem Ausbruch ihres Krebsleidens bei, das 1996 festgestellt wurde. Das Familienleben der Hildebrandts war durch sie und von ihr geprägt: „Alle unterlagen dem auf Transparenz drängenden Regime der Mutter, die ihre Zeit nicht in Arbeits- und Lebenszeit trennte, nicht in dienstliche und private Stunden“, schreibt Schütt.

Die Mauer und der Tod

Die Berlinerin Hildebrandt war mit der deutsch-deutschen Grenze groß geworden, abgefunden hatte sie sich mit der Teilung aber nie: „Meine Tante, die uns nach 1945, als wir ausgebombt waren, besonders geholfen hatte ... – die liegt eines Tages im Sterben, in West-Berlin, und du sitzt auf der Ostseite und kannst nicht hin. ... Aber da ist dieser Stacheldraht, und der liebe Mensch stirbt. Und erst zwanzig Jahre später kann man sich das Grab angucken. Diese Ohnmacht der Wut hat sich mir eingegraben, fest, sehr fest.“ Regine Hildebrandt war in der Bernauer Straße in Berlin Mitte groß geworden, die seit dem Zweiten Weltkrieg genau an der Grenze zwischen West- und Ost-Berlin lag. Der Mauerbau schließlich – Regine war 20 Jahre alt – beendete die Möglichkeit zur Grenzüberschreitung, die Hildebrandts wurden zum Umzug gezwungen. Der Bau der Mauer hatte für Regine auch die Trennung von ihrem älteren Bruder Jürgen zur Folge, er hatte sich Anfang September 1961 aus der Wohnung in der Bernauer Straße in den Westen abgeseilt. „Nein, Regine Hildebrandt hatte den Zorn über die Mauer nie verloren“, stellt Hans-Dieter Schütt fest.

Anders als Hildebrandt musste Schütt die Einsicht in den Unrechtscharakter der Mauer nach 1989 offenbar erst erwerben. In dem Kapitel über die Zeit des Mauerbaus etwa wendet er zunächst die Gründe für den Mauerbau hin und her: „Die Situation wurde herbeigerufen von der Liebe der einen zur Utopie einer sozialistischen Welt, die, noch sehr unvollendet, doch schon wieder kurz vor der Ausblutung stand, und sie wuchs ebenso aus dem Hass der anderen auf diese Utopie. Die Mauer war Notwehr und Angriff. Sie bestätigte Unfreiheit. Der Druck gegen diese Unfreiheit hatte sich freilich mit Abwerbung und Sabotage seine Organisationsformen geschaffen, um besagte Ausblutung noch zusätzlich zu befördern. Würde die Lage eskalieren? War daher eine Gegenwehr des gedemütigten Staates nicht unausweichlich?“ Schütts Schluss: „Alles sehr wahr, alles sehr kompliziert, und doch alles am Ende so einfach, wie es der 2005 geschriebene Satz des Publizisten Christoph Dieckmann ausdrückt: ‚Wer tötet, stürzt aus der Welt.’ Den Fluch der Mauer, den dieser Satz erfasst, kann kein weltpolitischer Zwang jemals mildern“. Und weiter zitiert der Autor Christoph Dieckmann: „Die Mauer stand ja nach Osten. Die SED misstraute dem eigenen Volk.“ Das wirkt geradezu wie ein Akt der späten Erkenntnis bei Schütt.

Insofern ist sein Buch nicht nur eine Biografie über Regine Hildebrandt, sondern auch eines, in dem sich der Autor selbst eine andere Sicht auf die DDR aneignet. Schütt war von 1984 bis 1989 Chefredakteur der FDJ-Zeitung Junge Welt und Sekretär des Zentralrats der FDJ – ein Funktionär genau jenes Regimes, dem sich Regine Hildebrandt so konsequent verweigerte. Die Auseinandersetzung mit der Biografie Regine Hildebrandts erscheint geradezu als Akt der Selbstaufklärung des Autors über den tatsächlichen Unrechtscharakter des DDR-Systems.

Wie eng und engherzig jener Staat war

Überhaupt: Schütt philosophiert ausgiebig über das Leben, das Sterben und die Ungerechtigkeit der Welt im Allgemeinen. Im Hinblick auf Hildebrandts Krebserkrankung, die sie selbst öffentlich gemacht hatte und über deren Verlauf die Medien ausführlich berichteten, sind diese Reflexionen des Autors begreiflich. Insgesamt jedoch wird der Fluss der Erzählung über Regine Hildebrandts Leben allzu häufig unterbrochen. Ärgerlich stimmen etwa Schütts zuweilen schiefe Interpretationen zum Hildebrandtschen Familienleben. Und mindestens reichlich spät dran ist der Autor mit manchen seiner Einsichten zur Zeitgeschichte.

Angesichts der lange unausgeschöpften Potenziale Hildebrandts schreibt Schütt: „Und auch Regine Hildebrandt zählte zu jenen, die ein Bild davon abgaben, was den Menschen in der DDR möglich gewesen wäre, wenn man ihren Fähigkeiten schon früher die gehörige Freiheit gewährt hätte. Der Preis wäre freilich hoch gewesen: eine andere Gesellschaft. Wohl zu hoch, dieser Preis. Trotzdem: Wenn man summiert, was nach landläufigen Kriterien der politischen Hierarchiebildung in der DDR gegen eine wirkliche Laufbahn Regine Hildebrandts sprach, und wenn man dagegen das Tempo und die Kraft setzt, mit denen sie die ihr gegebenen Räume ausfüllte, dann weiß man im nachhinein, wie eng jener Staat war. Wie engherzig gegen seine Idee von sich selber.“ Genau das ist der Punkt.

Hans-Dieter Schütt, Ich seh doch, was hier los ist: Regine Hildebrandt, Berlin: Gustav Kiepenheuer Verlag 2005, 342 Seiten, 19,90 Euro

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