Wettbewerb statt Wagenburg

Der Dualismus von "New Economy" und "Old Economy" führt in die Irre. Ohne eine solide industrielle Basis geraten Wachstum und Wohlstand außer Reichweite. Deshalb brauchen Deutschland und Europa eine moderne Industriepolitik

Haben wir sieben fette Jahre vor uns - oder sieben magere? Wer nach den Aussichten der europäischen Wirtschaft fragt, muss sich derzeit mit vagen Antworten zufrieden geben. Die meisten Fachleute blicken eher verhalten in die Zukunft. Aber ob nun fett oder mager - auf jeden Fall werden es sieben entscheidende Jahre. Denn genau diese Frist bleibt der Europäischen Union, um das im Jahr 2000 in Lissabon gesetzte Ziel zu erreichen, nämlich bis 2010 zur wettbewerbsfähigsten und dynamischsten Wirtschaftsregion der Welt zu werden. Nur wenn das gelingt, wird das alte Abendland die Kraft aufbringen, das Heer von Erwerbslosen nachhaltig in Brot und Arbeit zu bringen und die Mammutaufgabe der EU-Erweiterung zu schultern. Ohne den Beitrag der europäischen Industrie ist dies nicht zu schaffen. Allerdings braucht sie dafür politische Rahmenbedingungen, die ihre globale Wettbewerbsfähigkeit nicht gefährden, sondern fördern.


Die Einsicht, dass eine moderne europäische Industriepolitik für den gesamten Wirtschaftsraum überlebenswichtig ist, ist nicht bahnbrechend neu. Sie setzt sich allerdings zu langsam durch - möglicherweise weil der Begriff für viele stark nach politischem Interventionismus klingt. Richtig verstanden hat moderne Industriepolitik aber nichts zu tun mit Subventionen, Staatsgarantien oder anderen öffentlichen Überlebenshilfen für Unternehmen, die selbst keine ausreichenden Marktchancen mehr besitzen. Moderne Industriepolitik ist kluge Ordnungspolitik für das Fundament unseres Wohlstands.


Dieses industrielle Fundament ist hierzulande vernachlässigt worden, denn allzu lange lautete das Zauberwort "Dienstleistungsgesellschaft", allzu lange galt die Tertiärisierung der Wirtschaft als einziger Wachstumsmotor und Quelle für die Arbeitsplätze der Zukunft. Diese Heilsbotschaft ließ wenig Platz für die Wettbewerbsfähigkeit des verarbeitenden Gewerbes.
Mittlerweile ist klar geworden, dass es sich so einfach nicht verhält. Die Bemerkung, nach der keineswegs alle davon leben können, sich gegenseitig die Haare zu schneiden oder Versicherungspolicen zu verkaufen, ist mittlerweile ein Kalauer. Wenn alle Dienstleistungen für Dienstleister erbringen wollen, dann beißt sich die Katze in den Schwanz. So kann beispielsweise E-Commerce den Service nur dann revolutionieren, wenn auch Waren und Güter produziert werden, die über E-Commerce zu handeln sind. Das Platzen der "Internetblase" an den Börsen diesseits und jenseits des Atlantiks hat auch mit der Entdeckung dieser Wahrheit zu tun. Um es überspitzt zu formulieren: Dienstleister haben nur dann einen Markt, wenn noch andere da sind, die mehr leisten als Dienste.

Auf den zweiten Sektor kommt es an

Eine Wirtschaftspolitik, die auf einen neuen Dienstleistungsboom wartet und sich obendrein durch Agrar- und Kohlesubventionen verausgabt, kann deshalb kein nachhaltiges Wachstum herbeiführen. Intelligente Wirtschaftspolitik muss ihr Augenmerk vielmehr erneut auf den zentralen zweiten Sektor richten, auf die Industrie. Das heißt freilich gerade nicht, einzelne Wirtschaftszweige besonders zu subventionieren oder sie gegen andere auszuspielen. Im Gegenteil: Der lange Zeit wohlfeile Dualismus von "New Economy" versus "Old Economy" stand auf tönernen Füßen und hat viel Schaden angerichtet. Es geht vielmehr darum, den komplexen Verschränkungen von Sektoren und Branchen gerecht zu werden, um auf dieser Basis eine zukunftsfähige Wirtschaftspolitik zu entwerfen - und dazu gehört in der gegenwärtigen Situation eine neue Anerkennung des Stellenwerts der Industrie in unserem Land.


Dieser Stellenwert spiegelt sich allerdings nicht in solchen Statistiken, die einfach ein rein zahlenmäßiges Anwachsen der Arbeitsplätze im Dienstleistungsbereich ausweisen und die Gründe hierfür verschweigen. Denn dieser Anstieg hat nicht zwangsläufig mit neuen Arbeitsplätzen zu tun. Vielfach handelt es sich schlicht um Umwidmungen bereits bestehender Arbeitsplätze. Serviceleistungen, die früher von Industrieunternehmen selbst erbracht wurden, schlagen heute für den Dienstleistungssektor zu Buche, weil sie ausgelagert wurden und nun hinzu gekauft werden. Die zentrale Bedeutung der Industrie als Hauptnachfrager qualifizierter Services zeigt sich darin, dass Dienste mit Bezug zur Industrie nicht nur den größten Anteil an der Gesamtheit aller europäischen Dienstleistungen haben, sondern zwischen 1990 und 2000 (um über 40 Prozent) auch am stärksten gewachsen sind.
Aus Sicht des Arbeitsmarkts verhalten sich Industrie und Dienstleistungssektor komplementär - nicht substitutiv: Die Nachfrage nach Industrieprodukten fördert Beschäftigung bei Serviceleistern und umgekehrt. Es wäre deshalb fatal zu glauben, der eine Bereich könne sich auf Kosten des anderen behaupten oder sogar wachsen. Im Gegenteil: Krankt die Industrie, so hat das auch negative Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt des dritten Sektors.


Nun kann leider niemand guten Gewissens unserem Wirtschaftsraum ein neues industrielles Jobwunder in Aussicht stellen. Technischer Fortschritt und der Zwang zur Rationalisierung werden auch zukünftig die Wachstumseffekte zu weiten Teilen kompensieren, bevor sie zu mehr direkter Beschäftigung im verarbeitenden Gewerbe führen können. Ihre überragende ökonomische Bedeutung erhält die Industrie gerade nicht in erster Linie als direkter Arbeitgeber, sondern als Kernsektor, als unverzichtbares Fundament des gesamten ökonomischen Gefüges. Anders gesagt: Die Industrie ist die ökonomische Basis für den dienstleistungsorientierten Überbau unserer Gesellschaft.


Weil wir es mit einer hochgradig vernetzten Ökonomie zu tun haben, brauchen wir eine integrierte Wirtschaftspolitik. Moderne Industriepolitik, die auf erhöhte Wettbewerbsfähigkeit und Nachhaltigkeit zielt, ist daher eine Querschnittsaufgabe, die alle Ressorts angeht. Es kann in Zukunft weder "wettbewerbsfreie" noch "nachhaltigkeitsfreie" Zonen geben: weder in der Steuer- noch in der Beschäftigungspolitik, weder beim Verbraucher- noch beim Umweltschutz, weder bei den Ausgaben für Bildung noch bei denen für Subventionen. Das gilt in besonderem Maße für Deutschland, den wichtigsten europäischen Industriestandort.

Die Dirigenten leben besser als die Dirigierten

Stichwort Steuern: Auch wenn die Reform im Jahr 2000 durchaus Entlastungen für Unternehmen gebracht hat, liegt Deutschland im internationalen Vergleich der Steuersätze nach wie vor an der Spitze. Im für die Industrie entscheidenden Energiebereich treiben hierzulande Strom- und Erdgassteuer die Preise in die Höhe, dazu kommen Belastungen durch die Umlagefinanzierung für erneuerbare Energien oder das Kraft-Wärme-Kopplungsgesetz. Andere europäische Staaten - wie zum Beispiel Frankreich - versteuern industriellen Stromverbrauch überhaupt nicht. Ein weiterer Anstieg der Energiesteuern wird die Wettbewerbsfähigkeit der energieintensiven Industrie gefährden, die rund 10 Prozent der Arbeitsplätze in Deutschland stellt.


Stichwort Beschäftigungspolitik: Der Begriff Arbeitsmarkt zeigt, worum es hier gehen muss, nämlich um die Rahmenbedingungen eines wirklichen Marktes für Arbeit. In Deutschland herrscht auf diesem Politikfeld allerdings Dirigismus. Die Folge: Fast viereinhalb Millionen Arbeitslose erfahren am eigenen Leib, dass in einer dirigierten Wirtschaft vor allem die Dirigenten gut leben. Eine Arbeitsmarktpolitik, die verhindert, dass Unternehmen in Aufschwungphasen neue Arbeitsplätze schaffen, weil sie in schwierigen Zeiten nicht mehr flexibel reagieren können, verspielt die Zukunftschancen von Millionen. Wohlverstanden - es geht nicht um Regellosigkeit oder blindes Vertrauen in die "unsichtbare Hand". Im Gegenteil: Ein funktionierender Markt braucht Regeln. Aber solche, die Marktgeschehen ermöglichen und nicht verhindern.


Immerhin, mit den Hartz-Gesetzen und der Agenda 2010 der Bundesregierung ist Bewegung in die festgefahrene Situation gekommen. Fast möchte man in Anlehnung an Galileo rufen: Und sie bewegt sich doch!


Stichwort Verbraucher- und Umweltschutz: Auch auf diesen Feldern kommen wir ohne den Maßstab Wettbewerbsfähigkeit nicht weiter. Wenn es uns mit der Nachhaltigkeit ernst ist, dann streben wir gleichrangig ökologische, ökonomische und soziale Zukunftsfähigkeit an. Dagegen stellen einseitige Gesetzesvorhaben wie die geplante Harmonisierung der Chemikaliengesetzgebung in der EU die überlebensnotwendige Balance der drei Dimensionen der Nachhaltigkeit unnötig in Frage. Unnötig deshalb, weil sich die Industrie seit langem dem Verbraucher- und Umweltschutz verpflichtet hat - freiwillig und mit großem Erfolg. Selbstverpflichtungen gewährleisten hohe Schutzstandards für Verbraucher und Umwelt und lassen der Industrie zugleich die notwendigen Handlungsspielräume. Wir brauchen Mut, mehr auf das Ergebnis und weniger auf die Methode zu schauen - dann lassen sich Regulierung und Bürokratie auf das Notwendige reduzieren und überflüssige Zusatzkosten vermeiden.

Europas Spitzenforscher wandern ab

Stichwort Bildung und Forschung: Nur innovative Unternehmen sind auch langfristig erfolgreich. Für eine wettbewerbsfähige Industrie hängt deshalb viel vom allgemeinen Forschungsklima ab. Hier lohnt ein Blick über den Atlantik. Die internationale Wissenschaftselite zieht es nach wie vor in die Vereinigten Staaten. In den vergangenen 50 Jahren ging der Nobelpreis für Physik 66-mal, der für Medizin 68-mal und der für Chemie 42-mal in die USA. Drei von vier deutschen Nobelpreisträgern arbeiten in Amerika. Europas Spitzenforscher wandern ab, weil es in den Vereinigten Staaten nicht nur einfacher ist zu forschen, sondern weil die Forschungsergebnisse dort auch leichter umgesetzt werden können. In Europa werden die Risiken neuer Technologien hervorgehoben, in den Vereinigten Staaten die Chancen. Wenn die Europäer ihre skeptische Grundeinstellung nicht überdenken und wir den Wissenstransfer zwischen Hochschule und Wirtschaft nicht einfacher machen, dann werden wir diese Verschiebung der Innovationskraft nicht aufhalten, geschweige denn umkehren können.

Subventionen sind wie Morphium

Und noch einmal das Stichwort Subventionen: Subventionen sind wie Morphium. Sie heilen nicht, sondern betäuben nur; sie verlangsamen die Reaktionsgeschwindigkeit, machen süchtig, und es ist schon nach wenigen Jahren kaum mehr möglich, die Patienten wieder zu entwöhnen. Es kommt aber auf eine wettbewerbsfördernde Ordnungspolitik an, nicht auf staatliche Intervention - auf bessere, nicht auf mehr Gesetze. Für vorausschauende Unternehmen haben kurzfristige Subventionsvorteile ohnehin eine sehr begrenzte Anreizwirkung. Zu groß ist die Gefahr, in Strukturen zu geraten, die aus eigener Kraft heraus nicht mehr wettbewerbsfähig sein können.


Das europäische Subventionsunwesen gängelt rentabel wirtschaftende Anbieter weltweit. Es versperrt den Weg zum Ziel der Vereinten Nationen, bis 2015 den globalen Bevölkerungsanteil in extremer Armut zu halbieren. Europas Milliardensubventionen schließen Anbieter aus weniger entwickelten Ökonomien systematisch von unseren Märkten aus und berauben diese Länder ihrer Entwicklungschancen. Es ist unwahrscheinlich, dass wir mit solch einer Wagenburgmentalität zur dynamischsten Wirtschaftsregion der Welt werden können. Forschung, Bildung, Konsolidierung der öffentlichen Haushalte, Infrastruktur, Senkung von Abgaben und Staatsquote - in solchen Bereichen wären diese Steuergelder besser angelegt.


Keine Frage: Die Balance der verschiedenen Bereiche ist eine anspruchsvolle Aufgabe. Sie erfordert großes Geschick, viel Fingerspitzengefühl und interdisziplinäres Denken. Nicht nur hilfreich, sondern dringend notwendig wäre eine obligatorische und bindende "Gesetzesfolgenabschätzung", bei der alle Vorhaben, die auf eine Veränderung der Rahmenbedingungen abzielen, auf ihre direkten und indirekten Auswirkungen auf die Wettbewerbsfähigkeit der Industrie hin überprüft werden. So ließe sich auch die Wirkung von Gesetzen auf alle drei Dimensionen der nachhaltigen Entwicklung analysieren. Einseitige Bevorzugungen von angeblichen Interessen des Umwelt- und Verbraucherschutzes könnten vermieden werden. Wettbewerbsfähigkeit, wirksamer Ressourcenschutz und ein hohes Sicherheitsniveau sind nicht gegeneinander zu erreichen, sondern nur miteinander.

Gemeinsam das Schiff wieder flott machen

Wer auch immer in den kommenden sieben Jahren für die Industriepolitik in Deutschland und in Europa verantwortlich zeichnen mag, kann einiges von erfolgreichen Industrieunternehmen lernen. Zum Beispiel Geschwindigkeit, permanente Effizienzverbesserung, Kundenorientierung und Qualität. Übersetzt bedeutet das schnelle Reformen, weniger Bürokratie, intensiver Dialog mit den Industrieunternehmen sowie konsistente und praktikable Gesetzgebung.


Zur aktuellen Situation haben in den vergangenen 25 Jahren in wechselnden Rollen Politiker aller Parteien beigetragen. Deshalb müssen heute auch alle gemeinsam das Schiff wieder flott machen. Der Fall Japan zeigt, wie man durch Schönreden, Strukturkonservatismus und Reformresistenz dauerhaft auf eine abschüssige Bahn geraten kann. Europa wird die großen Herausforderungen der Erweiterung und der Vertiefung nicht meistern, wenn es seinen industriellen Kern vernachlässigt. Denn nur auf stabilem Fundament lassen sich große Häuser bauen.

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