Werte und Sachkompetenz gehören zusammen

Nach der Finanzkrise gilt umso mehr: Progressive Politik muss sich wieder mit harten Tatsachen befassen, mit den Umständen, unter denen heute Unternehmen entstehen, wirtschaften, Menschen einstellen oder entlassen. Progressive haben zu lange die einfachen Lösungen gesucht oder deren Verfechter als natürliche Bündnispartner gesehen

Die Finanzkrise war in vieler Hinsicht ein einschneidendes Ereignis: Die Linke dachte, nun sei das Ende des Kapitalismus gekommen, wurde aber ein wenig enttäuscht, denn es folgte „nur“ die schwerste Wirtschaftskrise seit Jahrzehnten. Der Kapitalismus wurde nicht tangiert, das Finanzdebakel und seine Folgen haben sogar China als jüngste kapitalistische Macht ein gutes Stück nach vorne katapultiert. Einschneidend war die Finanzkrise auch für das, was man Neoliberalismus nennt (und was mit der deutschen wirtschaftswissenschaftlichen Schule gleichen Namens wenig gemein hat). Seine Vertreter, vor allem die Investmentbanker, sind in die Defensive geraten. An einer Zähmung ihrer Institute wird gearbeitet. Die Auseinandersetzung geht derzeit darum, ob dies in einem umfassenden Sinne geschieht – was letzten Endes bedeuten würde, dass der Finanzsektor seine Ansprüche an die volkswirtschaftliche Wertschöpfung deutlich zurückschrauben müsste – oder ob es nur geringfügige Änderungen gibt.

Banken sollen Unternehmen wie andere auch werden, pleite gehen und den Staat nicht mehr erpressen können: Diese Richtung verfolgen viele angelsächsische Experten und Politiker. Die deutsche Bundesregierung – auch schon zu Zeiten der Großen Koalition – war und ist etwas zögerlicher. Gerne würde sie das Ganze weitgehend technokratisch behandeln: ein wenig mehr Eigenkapitalanforderungen und etwas veränderte Aufsicht, mehr nicht. Gleichzeitig röhrt man aber gegen die bösen Angelsachsen.

Überkomplexe Vorgänge wie die Finanzkrise sperren sich gegen eine einfache Darstellung. Wer trotzdem eine will, kann es hiermit versuchen: Die Aufgabe besteht darin, den Finanzsektor wieder zu einer marktwirtschaftlichen Veranstaltung zu machen, bei der diejenigen für Risiken haften, die sie eingehen. Der Trick der Goldjungs bestand ja darin, die Marktgesetze auszuhebeln, Risiken anderen aufzuhalsen, Eigentümer zu entmündigen, den Staat als Notfallpuffer einzuspannen und das Ganze wie zum Hohn auch noch mit einer extremen Marktrhetorik zu schminken. Den Markt anzuerkennen – als wirtschaftlichen Koordinierungsmechanismus, nicht als höheres Wesen – wird aber auch für jene unausweichlich, die sich als Progressive verstehen. Gegen die Wirklichkeit kann man keine Politik machen. Unternehmen agieren auf Märkten und müssen sich auf ihnen behaupten. Ob eine andere Form, wirtschaftliche Entscheidungen zu koordinieren wünschenswert ist, darüber kann man lange debattieren. Nur: Es existiert keine andere. Nicht Märkte an sich sind die Gefahr oder der Gegner, sondern falsch oder unzureichend regulierte Märkte. Richtig verstanden und reguliert sind sie ein Mittel für die Verbreitung von Wohlstand. Millionen von Asiaten haben das in den vergangenen Jahrzehnten erlebt. Und Märkte dienen dem sozialen Aufstieg – das zeigt die Geschichte der Bundesrepublik, die ihre höchste soziale Mobilität erlebte, als sie noch jung war. Das Sozialsystem war damals übrigens bezogen auf die Wirtschaftsleistung noch wesentlich kleiner als heute.

Was einer Partei passiert, die sich der Realität verweigert

Der Niedergang der SPD illustriert, was mit einer Partei geschieht, die sich der Realität verweigert. Einmal an die Regierung gekommen, beugt sich das Personal in der Exekutive zwangsläufig der Realität. Arbeitsplätze lassen sich nicht per Anordnung schaffen, Löhne nicht per Gesetz erhöhen, Staatsausgaben nicht nach Gutdünken steigern. Doch die Realisten entschuldigen und schämen sich ständig dafür, denn „eigentlich“ will die eigene Partei ja etwas anderes. Die ihrerseits dementiert und demontiert fröhlich ihre Spitzenvertreter. Das geht so lange, bis die Wähler genug haben von dieser Schizophrenie. Die Selbstdemontage kann allerdings in der Opposition fortgesetzt werden, wie wir gerade erleben: Widerruft Hartz IV! Widerruft die Rente mit 67! Das Ganze bekommt dann inquisitionsartige Züge und entfernt sich immer mehr von der Lebenswirklichkeit der Arbeitnehmer. 

Progressive Politik in Europa und auch in Deutschland kann vielleicht ein paar Denkanstöße aus den Vereinigten Staaten aufnehmen. Nach der Wiederwahl von George W. Bush schrieb der Herausgeber des US-Magazins Dissent, Michael Walzer im Jahr 2005 einen Artikel über die Perspektiven der amerikanischen Linksliberalen – auf deutsche Verhältnisse übertragen bekanntlich ein Spektrum, das Teile der Union und der FDP sowie die SPD und die Grünen umfassen würde. Einer seiner Schlüsselsätze lautet: „No one on the left has succeeded in telling a story that brings together the different values to which we are committed and connects them to some general picture of what the modern world is like and what our country should be like.“

Wer möchte sich ernsthaft von Naomi Klein inspirieren lassen?

Deutschland im Jahr 2010 hat zwar fast nichts gemein mit den USA unter George W. Bush. Doch auch hier fehlt (übrigens nicht nur bei denen, die sich als progressiv empfinden oder definieren) eine Erzählung, die Werte und eine Zustandsbeschreibung der modernen Welt zusammenbringt, was ja etwas anderes ist als ein idealistischer Entwurf einer neuen Gesellschaft oder ein „Gesamtkonzept“, wie es uns Deutschen lieb und teuer ist. Werte wie Aufstiegschancen oder eine integrative Gesellschaft und die persönliche Verantwortung für ihre Realisierung zu betonen ist etwas anders, als an bestimmten Instrumenten etwa des Sozialstaates oder der Steuerpolitik festzuhalten. Auf deutsche Verhältnisse übertragen wäre es eine Vorstellung von der globalisierten Welt nach der Finanzkrise, von der Rolle eines mittelgroßen Landes in ihr, den Möglichkeiten und Verantwortungen des Individuums in diesem Land und seinen Handlungsmaximen. Nicht als Überschrift über eine vorher entworfene Politik, als Marketinggag oder Wiederbelebungsversuch des einen oder anderen „Projektes“, sondern als Orientierung, ohne die ein über konkrete Sachfragen hinausgehendes Engagement unmöglich ist.

Richtig verstanden ist es überhaupt keine Flucht vor der Herausforderung, dass progressive Politik sich wieder mit harten Tatsachen befassen muss, mit den Umständen, unter denen Unternehmen heute entstehen, wirtschaften, wachsen, Menschen einstellen oder entlassen. Sie muss beispielsweise besser als alle anderen verstehen, wie ein modernes Finanzsystem aussehen sollte und funktionieren kann, statt sich in biblischen Flüchen über „maßlose Gier“ zu erschöpfen. Nötig ist es auch, die Position und die Entwicklungsmöglichkeiten des eigenen Landes unvoreingenommen zu bewerten: Welche Stärken haben wir, was werden wir über kurz oder lang den Schwellenländern überlassen müssen? Wie vermeidet es Europa, in 30 Jahren nur noch ein theme park für Touristen aus den neuen reichen Ländern zu sein? Progressive haben sich zu lange die einfachen Lösungen gesucht oder deren Verfechter als natürliche Bündnispartner gesehen. Globalisierungsgegner etwa wirken wie selbstverständliche Teilhaber progressiver Politik. Man kann ja persönlich viel Sympathie für ihren Impetus haben, aber sie bieten inhaltlich wenig, ihre Lösungskompetenz ist äußerst überschaubar. Wer möchte sich ernsthaft von Naomi Klein inspirieren lassen?

Was wirtschaftlich notwendig ist, ergibt auch politisch Sinn: Wer das deutsche Demografieproblem in den Griff bekommen will, muss alle nur halbwegs bildungsfähigen Jugendlichen tatsächlich qualifizieren. Damit beugt er gleichzeitig kulturellen Konflikten vor, die nicht nur von mangelhaft integrierten Migranten, sondern zunehmend heftig auch von den Islamgegnern in Europa geschürt werden.

Werte und Sachkompetenz gehören zusammen. Nichts ist abstoßender als das Missverhältnis zwischen der maßlosen Staatsrhetorik der Linken und ihrem gleichzeitigen Versagen bei fundamentalen Staatsaufgaben, wie es besonders heftig in Berlin zu besichtigen ist, im Öffentlichen Nahverkehr und in den Schulen. Dabei geht es aber nicht allein um ein Hauptstadtproblem. Kommunen und Länder in die Lage zu versetzen, ihren Aufgaben finanziell nachzukommen, ist für Deutschland schon fast so etwas wie eine kühne Vision. Man sollte sie angehen. «

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