Werden und Sterben

Die Arbeit der Enquete-Kommission "Recht und Ethik der modernen Medizin" hat begonnen

Der Deutsche Bundestag hat die Enquete-Kommission "Recht und Ethik der modernen Medizin" eingesetzt, um von ihr grundlegende rechts- und sozialethische Fragen, die mit den atemberaubenden Fortschritten der Medizin zunehmend auch an den Gesetzgeber gestellt sind, aufarbeiten zu lassen. Nach der Geschäftsordnung des Bundestages hat eine Enquete-Kommission die Aufgabe, die gesetzgeberischen Entscheidungen "über umfangreiche und bedeutsame Sachkomplexe" vorzubereiten, indem sie zu ihrer Thematik den Sachstand erfaßt, sich abzeichnende Entwicklungen ins Auge faßt, die relevanten Argumente im Meinungsstreit dazu sichtet und gegebenenfalls Ziele sowie Instrumente für staatliches Handeln definiert.

Im Falle der Enquete-Kommission "Recht und Ethik der modernen Medizin" kommt hinzu, dass sie für eine möglichst breitgefächerte Teilnahme der Öffentlichkeit an den von ihr verhandelten Themen sorgen muß, da nichts dem Gewicht ihrer Arbeitsergebnisse so sehr schaden würde wie der Anschein der Heimlichkeit und der mangelnden Bereitschaft, sich und die jeweils eigene Meinungsbildung allen denkbaren Argumenten auszusetzen.

Sehr schnell wird die interessierte Öffentlichkeit dabei feststellen - sie hat es wohl auch schon festgestellt -, dass die 26 Mitglieder der Kommission (13 Bundestagsabgeordnete und 13 Sachverständige verschiedener Professionen) nicht nur parteipolitisch unterscheidbar sind, sondern dass sie sich dem Gegenstand der Enquete aus sehr verschiedenen Richtungen nähern. Ja, es läßt sich sagen, dass weder die Parteizugehörigkeit noch der beruflich-fachliche Hintergrund vorzuprägen scheinen, ob man die Expansion naturwissenschaftlichen Wissens und Könnens in der Humanwissenschaft Medizin mehr mit Zurückhaltung, Skepsis und Ablehnung oder Erwartung, Hoffnung und Zustimmung betrachtet.

Dabei geschieht es der Kommission unversehens, dass sie, kaum eingesetzt, über Nacht von einem Ereignis getroffen und eingeholt wird, das die Dringlichkeit ihrer Arbeit aufs deutlichste unterstreicht: der Initiative der britischen Regierung nämlich, "Prae-Embryonen" (nach britischem Recht Embryonen vor dem 14. Entwicklungstag) für weitere Forschungszwecke als Lieferanten von Stammzellen freizugeben. Was nun in Deutschland - Nachziehen oder Festbleiben mit unserem Embryonen-Schutzgesetz? Hinnehmen, dass wir erst unsere Forscher, dann unsere Patienten exportieren und zum Schluß Erkenntnisse und Verfahren importieren werden? Was verlangt von uns der Respekt vor der unantastbaren Würde menschlichen Lebens, das im Werden und Sterben, bei Krankheit und Behinderung doch so verletzlich ist? Welche Rolle kommt Deutschland mit seiner schwierigen Medizingeschichte national wie international zu: die des letzten Matrosen mit wehender Flagge kurz vor dem Untergang oder die des Leuchtturms, an dem sich die Schiffe im Sturm ausrichten werden?

Wissen und Können der modernen Medizin stürzen uns in Auseinandersetzungen über die fundamentalen Bedingungen unserer Existenz. Die Antworten, die wir hier geben, haben große praktische Auswirkungen auf den einzelnen und die Gesellschaft. Soll während einer Schwangerschaft jede heute mögliche pränatale Diagnostik erlaubt sein - mit der Folge des jederzeitigen Schwangerschaftsabbruchs, wenn das ungeborene Kind nicht mangelfrei ist? Wie ist dieselbe Frage zu beantworten, wenn es um Präimplantationsdiagnostik geht? Mit welchem Recht, wenn man es denn will, lassen sich solche Untersuchungen verbieten? Entwickeln wir uns mit den Möglichkeiten der prädiktiven Medizin zu einer Gesellschaft, die behindertes Leben, heute ungeborenes und eines Tages auch geborenes, selektiert und ausmerzt? Welcher Schutz gebührt dem ungeborenen menschlichen Leben außerhalb des Mutterleibes? Ist der Embryo in der Petrischale schützenswerter als die Leibesfrucht einer schwangeren Frau bis zur Vollendung des 3. Schwangerschaftsmonats? Was ist überhaupt "menschliches Leben": nur die befruchtete Eizelle ab Kernverschmelzung oder vielleicht auch die künstlich verjüngte Stammzelle oder die mit einem fremden Kern versehene Eizelle? Welches ist der ethische Unterschied zwischen therapeutischem und reproduktivem Klonen? Wieviel Verzicht auf Heilung kann man von Schwerkranken erwarten, wenn ethisch Zweifelhaftes ihnen Hoffnung macht? Wie sichert man das Recht auf Nichtwissen, wenn es nicht nur die Möglichkeit, sondern ein Recht auf Kenntnis des eigenen Genoms gibt? Wie läßt sich Datenschutz gegenüber Arbeitgebern und Versicherern dann noch gewährleisten? Was erwarten, was befürchten wir von der Intensivmedizin am Ende unseres Lebens? Wie verfährt die wissenschaftliche Forschung mit "Probanden", insbesondere mit den Menschen, die ihre Einwilligung nicht selber erklären können, auf den Fortschritt der Medizin aber gerade darum besonders angewiesen sind? Wie buchstabiert man die Unantastbarkeit der Menschenwürde angesichts einer immer naturwissenschaftlicher werdenden Medizin, vor der das, was Mensch ist und sein will, immer mehr zum "biologischen Material" zu werden scheint?

"Biologisches Material" - ein Begriff aus der EU-Richtlinie zur Patentierung biotechnologischer Erfindungen, deren Umsetzung in deutsches Recht unmittelbar bevorsteht. Um sie wird heftig gestritten. "Kein Patent auf Leben!" fordern viele - und ihnen entgegnen Patentrechtsspezialisten, dass es "auf Leben" im Recht kein Patent gibt, nicht geben kann. In einer öffentlichen Anhörung, durchgeführt von der Enquete-Kommission, konnte man erleben, wie die Kontrahenten gründlich aneinander vorbei redeten. Einerseits wurde klar, dass die Umsetzung der Richtlinie in nationales Recht unabweisbar verpflichtend ist - dass sie auch bei Nichtumsetzung deutsches Recht prägen wird. Hinzu kommt, dass sie das im deutschen Patentrecht längst etablierte Bio-Patent in keinem Punkt erweitert, sondern eher etliche Grenzen deutlicher konturiert. Aber gerade die Tatsache, dass sich das Bio-Patent ohne besondere Regelungen im klassischen Patentrecht mit seinen Regeln entwickelt hat, scheint Ursache für das allgemeine Unbehagen zu sein. Denn die überkommenen Vorschriften und Begriffe erscheinen für Erfindungen in der belebten Natur nicht angemessen. Insbesondere verschwimmt der Unterschied zwischen der Erfindung und der Entdeckung, wie er für das gewerbliche Urheberrecht bislang prägend war. Beim Bio-Patent wird "erfunden" , was durch die Evolution hervorgebracht und im lebenden Organismus sinnvoll verwendet wurde. Ist der Erfinder mit einem Stoff- ("Erzeugnis"-) Patent nicht überbelohnt, wenn er lediglich eine einzige Funktion einer biologischen Substanz verfügbar und anwendbar macht, es aber mehrere Funktionen zu entschlüsseln gibt? Späteren Erfindern, die neue Anwendungen zur Verfügung stellen, bleibt dann nur noch ein abhängiges Patent. So entstehen im Reich der Biosubstanzen ganze Familien von abhängigen Patenten. Es könnte ja sein, dass bei sinnvoller Betrachtung das gewohnte Stoffpatent für die Biotechnologie überhaupt nicht passt, sondern eine neue Begrifflichkeit für biologische Strukturen wie etwa Gene entwickelt werden muss, da ihre Bedeutung weniger im Stofflichen, als vielmehr im biologischen Informationsgehalt liegt.

Die Bio-Patenrichtlinie der EU markiert jedenfalls einen wichtigen Punkt in der einschlägigen Rechtsentwicklung. Erstmals wurde das Biopatent als solches rechtlich definiert und ansatzweise gesonderten Regelungen unterworfen. Auch die Kritiker sollten anerkennen, dass dies eine richtige Entscheidung ist. Aber es fehlt noch an einer eigenen Systematik, für den gewerblichen Urheberrechtsschutz, wenn es um die Entschlüsselung der belebten Natur geht. Allen muss daran liegen, dass eine solche Systematik bald erarbeitet wird, der Wissenschaft, der biotechnologischen Industrie und ihren Kritikern. Immerhin entwickelt sich die Biotechnologie bei uns und rings um uns geradezu stürmisch. Auf alle Fälle ist eine Grundregel des Patentrechts zu begrüßen: Es erzwingt die Veröffentlichung dessen, was als Erfindung angemeldet wurde. Damit ermöglicht es sowohl den Austausch von Technikfortschritten als auch gesellschaftliche Kontrolle. Das vor kurzem rechtswidrig erteilte Patent auf (auch) menschliche embryonale Stammzellen wäre sonst kaum bekannt geworden.

Die Sorge, die Patentierung könne Forschung behindern, ist nun wirklich nicht begründet. Das hat das Bundesverfassungsgericht vor wenigen Monaten mit aller wünschenswerten Klarheit deutlich gemacht. Das Gericht hat lizenzfreie Forschung mit patentierten Stoffen in breitestem Umfang für zulässig erklärt, weil die Sozialpflichtigkeit des Eigentums dem Patentinhaber insoweit eine Duldungspflicht auferlege. Die Diskussionslinien, die streitigen Auseinandersetzungen - das zeigen schon die ersten Sitzungen der Kommission, der Arbeitsgruppen, der nun an die Arbeit gegangenen Themengruppen - halten sich nicht an Parteigrenzen. Dazu sind die angesprochenen Grundfragen zu existentiell, zu lange auch schon in einem schwelenden inner- und außerparlamentarischen Meinungsstreit, der mitunter in verletzender Heftigkeit die Form eines Glaubenskampfes angenommen hat. In der Enquete gibt es sowohl unter den Sachverständigen als auch unter den MdBs etliche, die bereits seit geraumer Zeit - etwa in der öffentlichen Auseinandersetzung um die Bio-Med-Konvention des Europarats - auf allen Fronten zu Wortführern geworden sind. Jetzt sind sie kollegial verbunden zu einem parlamentarischen Unternehmen, in dem es nach der Geschäftsordnung weniger darauf ankommt, für das eigene Urteil zu werben, als vielmehr, die Urteilskraft des Gesetzgebers insgesamt zu stärken.

Meine Aufgabe als Vorsitzende ist, das Zusammenwirken der Kommissionsmitglieder zu sichern, damit ihre oft gegensätzlichen Positionen die Erfüllung unseres vorgegebenen Auftrages nicht behindern, sondern sie fördern. Diesem Auftrag dienen nur Argumente, und zwar nur solche, die nicht an der Oberfläche schlagworthafter Verkürzung bleiben. Je tiefer unser Meinungsaustausch nach den Hintergründen einer einzelnen Be- oder Verurteilung fragt und Rechenschaft fordert, desto eher besteht die Aussicht, wenn nicht Gemeinsamkeiten in unserem ethischen Grundverständnis zu erkennen, so doch zumindest zu verstehen, warum sich in manchen Themenbereichen die Wege des Denkens und Urteilens gabeln.

Gelingt dies an Hand einer Auswahl von exemplarischen Einzelbereichen (zu mehr wird die Zeit angesichts der feststehenden Termine kaum reichen) so ist mit dem Abschlußbericht dem einzelnen Parlamentarier nicht nur dieser Bereich aufgeblättert, sondern auch ein methodisches Instrumentarium an die Hand gegeben, wie man sich durch das Dickicht der widerstreitenden Hoffnungen und Ängste im Bereich der modernen Medizin einen Weg zu einem Urteil bahnen kann.

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