Wenn die Obszönität brüllt oder: Gibt es Dieter Bohlen wirklich?

Was kommt heraus, wenn ein musikalisches Fertigprodukt seine Memoiren vorlegt? In Dieter Bohlen verschmelzen Kunst und Ökonomie in zukunftsträchtiger Weise

"Alle Massenkultur unterm Monopol ist identisch, das von jenem fabrizierte begriffliche Gerippe, beginnt sich abzuzeichnen. An seiner Verdeckung sind die Lenker gar nicht mehr interessiert, seine Gewalt verstärkt sich, je brutaler sie sich einbekennt. Lichtspiele und Rundfunk brauchen sich nicht mehr als Kunst auszugeben. Die Wahrheit, daß sie nichts sind als Geschäft, verwenden sie als Ideologie, die den Schund legitimieren soll, den sie vorsätzlich herstellen. Sie nennen sich selbst Industrie, und die publizierten Einkommensziffern ihrer Generaldirektoren schlagen den Zweifel an der gesellschaftlichen Notwendigkeit der Fertigprodukte nieder."
Theodor Adorno und Max Horkheimer, Die Dialektik der Aufklärung

" ... Lieber Dieter, wie kriegt man so viel Kohle? ... Talent+arbeiten+arbeiten+arbeiten - dann kommt irgendwann auch die Kohle. Und: Haste Kohle, haste Frauen, haste Autos. ... Das ist die Message dieses Buches: Free your mind! Think different! Be different!"
Dieter Bohlen, Nichts als die Wahrheit

Der Fortschritt ist bisweilen mit dem Tempo eines Rennpferdes unterwegs. So ist in der Unterhaltungsindustrie eine echte Innovation zu vermelden: Zu Adornos und Horkheimers Zeiten war man für den Geschäftserfolg noch auf die Vermittlung durch einen Künstler angewiesen - heute produzieren die Generaldirektoren ihren Schund gleich selbst. Einer dieser Generaldirektoren hat mit dem Produkt Dieter Bohlen eine der erfolgreichsten Marken im Bereich musikalischer Fertigprodukte kreiert. Dieter Bohlen ist der Dr. Oetker der deutschen Unterhaltungsindustrie. Die Produkte des Bielefelder Unternehmes nennt man convenience food, das sind vorgefertigte Lebensmittel, die bereits verzehrfertig sind oder küchentechnisch nur noch geringfügig aufbereitet werden müssen. Die Produkte der Marke Dieter Bohlen kann man als convenience music bezeichnen. Sie sind leicht konsumierbar und der Nutzen ist für den Verbraucher genauso erkennbar wie beim Puddingpulver aus Ostwestfalen - convenience music hat für viele Verbraucher einen hohen kulturellen Sättigungswert.


Das westfälische Backpulverimperium hat dabei genauso wenig mit Kunst zu tun wie die Hamburger Unterhaltungsfabrik. Aber Dr. Oetker und Dieter Bohlen haben, jeder auf seine Weise, die Alltagskultur in Deutschland geprägt. Das kann man nicht ignorieren, selbst wenn man die hohe Kunst des Kochens nicht mit einer Tiefkühlpizza oder Musik mit Modern Talking verwechselt. Gleichwohl gibt es einen entscheidenden Unterschied zwischen der Nahrungsmittel- und der Unterhaltungsbranche: Kein Kunde von Dr. Oetker will Dr. August Oetker kennenlernen. Viele wären sicherlich auch enttäuscht, wenn sie erfahren müssten, dass Dr. August Oetker schon vor 84 Jahren in Bielefeld verstorben ist, und wer interessiert sich schon für den Penisbruch des anonymen Lebensmittelchemikers, wenn er eine Pizza verzehrt? In der Unterhaltungsindustrie ist dies anders.

Dieter und die abgelaufenen Hähnchen

"Schlager und Schausport, Filmgroteske und Liebesroman, Tanz und Achterbahn sind Veranstaltungen, die auf je besondere Weise Erfahrungen von Schönheit und Verausgabungen, Erschrecken und Mitleid, Erhabenheit und Ahnung eines Anderen ermöglichen; sie erlauben, Abstand zu gewinnen zum Gegebenen - es sind Künste." So schreibt Kaspar Meese in seiner Studie Grenzenloses Vergnügen. Der Aufstieg der Massenkultur 1850-1970 (Frankfurt am Main 1997). Dieses Defizit muss der anonyme Generaldirektor gespürt haben, als er Dieter Bohlen erfand. Er musste der Marke Leben einhauchen, um dauerhaft Erfolg zu haben. Diese Innovation erst sicherte den Absatz. Sie bietet alles, was Massenkultur braucht, um erfolgreich zu sein: Die Schönheit von Verona und Nadja. Die Verausgabung des Helden, der Hähnchen mit abgelaufenem Verfallsdatum verzehrt, um der Not und dem Elend seiner Oldenburger Bauunternehmerfamilie zu entkommen, die das Schicksal in den Bauboom der Nachkriegsjahre verschlagen hat. Das Erschrecken über die Last, Adidas-Trainingsanzüge tragen zu müssen, weil ein erbarmungsloser Sponsor dies verlangt. Das Mitleid mit dem Investor Bohlen, der einem schamlosen Betrüger sein Geld anvertraut und sich jeden Tag die Democassetten von Leuten anhören muss, die aussehen wie ein "aufgeschlagenes Kissen" oder - o Graus - schon 58 (achtundfünfzig!) Jahre alt sind.


Wer gewönne dabei keinen Abstand zum Gegebenen seines eigenen Lebens? Das Kunstwerk findet man nicht in der Musik, sondern in der öffentlichen Person Dieter Bohlen selbst. Deren Inszenierung - er vergleicht sein Profil mit dem eines Reifens der Marke Bridgestone (warum eigentlich nicht Continental oder Michelin?) - ist im Unterhaltungsgeschäft die eigentliche künstlerische Leistung. Da stellt sich nun die Frage: Was gab es früher? Den Menschen Dieter Bohlen, der zur Marke und zum Kunstwerk wurde? Oder die Marke und das Kunstwerk, das erst später zum Menschen gemacht worden ist? Dieter Bohlen als das Kunstwerk eines anonymen Generaldirektors. Nichts als die Wahrheit. Aber keine Antwort ohne neue Fragen. Wer wird uns dann als Dieter Bohlen vorgestellt?


Dafür gibt es zwei denkbare Lösungen. Die erste ist die Homunculus-Theorie: Ihr zufolge würde es sich bei Dieter Bohlen um einen künstlichen Menschen handeln, um einen Frankenstein bei sichtbar verbesserter Technik, der sich wie beim Vorbild von Mary Shelley zum Leidwesen seines Schöpfers zusehends selbständig gemacht hat. Nun ja. Zwar ist dem technischen Fortschritt viel zuzutrauen, aber Dieter Bohlen ist ein Produkt der Unterhaltungsindustrie. Wer hätte dort schon die Kompetenz für derartig ambitionierte technische Lösungen? Die Antwort erübrigt sich. Dieter Bohlen muss ein Mensch sein.

Pierre Brice = Winnetou = Pierre Brice

So bleibt nur die Lösung zwei: Im Theater des Lebens wird Dieter Bohlen von einem kongenialen Schauspieler gespielt, der die Identifikation mit seiner Rolle so weit treibt, dass zwischen Kunst und Wirklichkeit kein Unterschied mehr festzustellen ist. Aus dem Darsteller von Dieter Bohlen wurde Dieter Bohlen - so wie aus Pierre Brice Winnetou oder aus Winnetou Pierre Brice geworden ist. Wer kennt schon noch den Unterschied?


Nur: Wenn die Marke Dieter Bohlen zwar mit dem Kunstwerk Dieter Bohlen identisch ist, mit dem Menschen aber nicht, wer schrieb dann Dieter Bohlen. Nichts als die Wahrheit? Eine Frage, die sich die Literaturwissenschaft bei einem bekannten Dramatiker aus Stratford-on-Avon schon lange stellt - ohne sie bisher zweifelsfrei beantworten zu können. Sie ist auch ohne Bedeutung für die Beurteilung des Werkes selbst. Oder müsste man Macbeth anders beurteilen, wenn der Autor nicht William Shakespeare hieße?

Ein tugendhafter Mann des 19. Jahrhunderts

Bleibt der Autor zweifelhaft, ist die Literaturgattung bestimmbar. Bei Dieter Bohlen. Nichts als die Wahrheit handelt es sich um einen Entwicklungsroman über das geistig-seelische Reifen eines jungen Menschen. Das Buch handelt davon, wie dieser seine Anlagen ausbildet und sich in der Auseinandersetzung mit seiner Umwelt selbst findet. Jedes Zeitalter prägt entsprechend seinen eigenen Fragestellungen und seiner Weltschau eigene Formen des Entwicklungsromans aus - so heisst es im Lexikon. Aber um welches Zeitalter handelt es sich eigentlich in diesem Roman? Bei Dieter Bohlen offenkundig um das 19. Jahrhundert. Der Autor singt das hohe Lied der Sparsamkeit, er referiert die Bedeutung des Fleißes für den Erfolg, selbst die klassisch puritanische Tugend der Enthaltsamkeit kommt nicht zu kurz. Er teilt die Sehnsucht nach der heilen bürgerlichen Familie, nach der Frau, die seine Kinder umsorgt und ihm das Heim bereitet, während er im feindlichen Leben seinen Mann steht. Am Ende fehlt auch nicht die Einsamkeit des Helden, der sich auf dem Gipfel des Erfolges der emotionalen Kosten seines Aufstieges bewusst wird. Wobei der Autor eine echte literarische Innovation zu bieten hat: In seinen 20 Thesen mit dem Titel Vergiss Konfuzius! (kann man vergessen, was man gar nicht kennt?) hat er die Interpretation seines Romans gleich mitgeliefert.

In welcher Welt lebt der Titelheld wirklich? Offenkundig doch nicht in der des 19. Jahrhunderts. Seine Sehnsüchte sind längst dementiert: "(Das) Verschwinden der Grenze zwischen Öffentlichem und Privaten bedeutet, dass die Details unseres Intimlebens Teil unserer öffentlichen Persona werden und jedermann in Büchern oder auf websites zugänglich sind, statt des öbszönen Geheimnisses, über das man hinter vorgehaltener Hand spricht." So der slowenische Sozialphilosoph Slavoj Zizek in seinem Buch Die Revolution steht bevor. Dreizehn Versuche über Lenin. In dem Band geht es um unsere "tägliche Erfahrung (Biogenetik, Ökologie, Cyberspace, Virtuelle Realität), die uns alle zwingt, sich mit den grundsätzlichen Fragen hinsichtlich der Natur der Freiheit und der menschlichen Identität ... auseinanderzusetzen." Dieter Bohlen brüllt die Obszönitäten geradezu heraus. Da muss es für ihn tröstlich sein, dass seine eigene Identität zweifelhaft geworden ist. Niemand kann wissen, ob er wirklich noch existiert oder er nur ein Fleisch gewordenes Kunstwerk im postmodernen Kapitalismus ist.


Insoweit verfehlt auch die Kritik Thomas Gottschalks an Dieter Bohlen den Kern der Sache. Gottschalk kritisiert Dieter Bohlens Blossstellung der Nadja ab del Farrag moralisch und verteidigt damit die Differenz zwischen Privatheit und Öffentlichkeit - eine Differenz, die es bei Bohlen längst nicht mehr gibt. Wer den Roman vom Leben unterscheidet, der kann den Romanhelden für sein Handeln kritisieren. Der Roman wird auf diese Weise zur Instanz bürgerlicher Selbstreflexion. Davon kann bei Bohlen natürlich keine Rede sein. Er hat aus sich ein Kunstwerk gemacht und sein Leben zu einem schlechten Roman verkitscht. Insoweit macht es keinen Unterschied, ob ein Generaldirektor im Dienste der Unterhaltungsindustrie Dieter Bohlen erfunden oder Dieter Bohlen sich zugunsten seiner Geschäfte selbst in das Kunstwerk verwandelte. Die Folgen sind dieselben. Die Aufhebung der Intimität seiner privaten Beziehungen macht aus Bohlens Mitmenschen wie Frau Farrag Romanfiguren. Die Aufhebung der Differenz von Privatheit und Öffentlichkeit zerstört deren soziale Identität. Auch eine Art Mord. Aber immerhin will Bohlen mit seinem Opfer befreundet bleiben.

Als Verona noch Dieter Bohlen konsumierte

Dieter Bohlen hat eine Botschaft, die lautet: "Macht Kohle!" Sein Motto ist: "Be different!". Es ist die einzige Lüge in dem zum Leben geronnenen Kunstwerk, die wirklich von Interesse ist. Er ist nicht verschieden von, sondern identisch mit einer Gesellschaft, deren "charakteristisches Merkmal ... die Verdinglichung unserer Erfahrung selbst (ist). Was wir auf dem Markt kaufen sind immer weniger Produkte (materielle Gegenstände), die wir besitzen möchten, und immer mehr Lebenserfahrungen wie Essen, Kommunikation, Kulturkonsum, Teilhabe an einem Lebensstil." Wir werden zu Konsumenten unseres eigenen Lebens, zitiert Zizek Mark Sloutas und fährt selbst fort: "Die Tauschlogik des Marktes wird hier zu einer Art hegelianischen selbstbezüglichen Identität gebracht: Wir kaufen keine Gegenstände mehr, sondern kaufen letztlich Zeit unseres Lebens. Michel Foucaults Idee, das eigene Selbst in ein Kunstwerk zu verwandeln, erfährt so eine unerwartete Bestätigung: ich kaufe meine körperliche Fitness, indem ich Fitnessclubs besuche, ich kaufe meine spirituelle Erleuchtung, indem ich Kurse für Transzendentalmeditation besuche, ich kaufe meine öffentliche Identität, indem ich ein Restaurant besuche, in dem jene Menschen verkehren, mit denen ich assoziiert werden möchte."


Also konsumiert, wer "Kohle machen" will, Dieter Bohlen. Kein Wunder, dass Dieter Bohlen ein Verkaufsschlager ist. Verona Feldbusch konsumiert die Person Bohlen (und die Schilderung dieser Beziehung in Nichts als die Wahrheit hat durchaus etwas Kannibalisches), alle anderen dessen Tonträger und Bücher. Mit Dieter Bohlen kauft der Leser die Antwort auf seine zu Beginn gestellte Frage: "Lieber Dieter, wie kriegt man soviel Kohle?" Es gibt niemanden in Deutschland, der diese Botschaft so verkörpert wie er. In Dieter Bohlen verschmelzen Kunst und Ökonomie in einer zukunftsträchtigen Art und Weise. Auf der Strecke bleibt die Subjektivität.

Roy Black blieb immerhin Roy Black


Dieter Bohlen schildert in seinem Buch die eigenen Begegnungen mit den alten Helden der Unterhaltungsindustrie. Etwa mit Drafi Deutscher und Roy Black. Beide waren auf ihre Art exzentrisch und sind letztlich gescheitert. Der eine finanziell, der andere an den Strukturen einer Industrie, die für Individualität nur dann einen Platz hat, wenn sie kommerziell zu verwerten ist. Beide sind gescheitert, aber sie sind wenigstens noch sie selbst geblieben. Von Dieter Bohlen kann man das nicht sagen. Aber die Symbiose aus Ökonomie und Kunst ist wenigstens unsterblich. Das wäre ja schon was, jedenfalls sofern Dieter Bohlen am Ende doch mehr sein sollte als nur die Erfindung eines Generaldirektors. Aber die Frage hatten wir ja schon.

Dieter Bohlen schildert in seinem Buch die eigenen Begegnungen mit den alten Helden der Unterhaltungsindustrie. Etwa mit Drafi Deutscher und Roy Black. Beide waren auf ihre Art exzentrisch und sind letztlich gescheitert. Der eine finanziell, der andere an den Strukturen einer Industrie, die für Individualität nur dann einen Platz hat, wenn sie kommerziell zu verwerten ist. Beide sind gescheitert, aber sie sind wenigstens noch sie selbst geblieben. Von Dieter Bohlen kann man das nicht sagen. Aber die Symbiose aus Ökonomie und Kunst ist wenigstens unsterblich. Das wäre ja schon was, jedenfalls sofern Dieter Bohlen am Ende doch mehr sein sollte als nur die Erfindung eines Generaldirektors. Aber die Frage hatten wir ja schon.

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