Wenn die Macht aus dem Gashahn kommt

Deutschland und Europa stehen vor einer entscheidenden energiepolitischen Weichenstellung: Soll Russland weiter unsere Versorgung mit Erdgas beherrschen? Begeben wir uns gegenüber den USA in die Abhängigkeit? Oder sind wir in der Lage, einen eigenen Weg zu gehen und in Kooperation mit dem Iran die Reserven der Kaspischen Region zu erschließen?

Wie abhängig ist Europa vom russischen Erdgas? Angesichts der Ukraine-Krise stellt sich diese Frage erneut mit aller Dringlichkeit. Wie bereits bei den „Gas-Krisen“ von 2006 und 2009 wird auf der einen Seite argumentiert, die Europäische Union sei zu abhängig von Russland. Europa drohe zur geopolitischen Geisel des Kremls zu avancieren, der den Gashahn als politische Waffe einsetzen könnte. Die andere Seite betont, dass sich Russland – wie zuvor bereits die Sowjetunion – über alle Höhen und Tiefen der ost-westlichen Beziehungen hinweg stets als verlässlicher Lieferant erwiesen habe. Darüber hinaus sei Russland beim Handel mit Erdgas abhängiger von Europa als dies umgekehrt der Fall ist.

Tatsächlich stellt sich die Lage differenzierter dar. Die Mitglieder der EU beziehen zu einem erheblichen Maß Erdgas aus Russland: insgesamt 36 Prozent aller Importe, was 24 Prozent der Gesamtversorgung ausmacht. Dabei gibt es deutliche Unterschiede zwischen den Mitgliedsstaaten. So beziehen Bulgarien, Estland, Finnland, Griechenland, Lettland, Litauen, Österreich, Polen, die Slowakei, Slowenien, Tschechien und Ungarn über 50, zum Teil sogar 100 Prozent ihrer gesamten Gasversorgung aus Russland. Durch die fortschreitende Vernetzung der europäischen Pipeline-Systeme kann Erdgas mittlerweile zwar auch in umgekehrter Richtung von West nach Ost geleitet und die Verwundbarkeit der betroffen Staaten dadurch reduziert werden. Russland spielt jedoch ungebrochen eine gewichtige Rolle für die Energiesicherheit dieser Länder. Und das ist alles andere als unproblematisch.

Wie Moskau unsere Nachbarn unter Druck setzt

Denn während Moskau für Deutschland in der Tat immer ein verlässlicher Partner war, beunruhigt die Situation in Mittel- und Osteuropa. Wiederholt setzte Moskau dort den Gashahn als politisches Machtinstrument ein. Das bekamen Armenien, die baltischen Staaten, Belarus, Georgien, Moldau und die Ukraine deutlich zu spüren. Über fünfzig Vorfälle seit dem Ende der Sowjetunion zeugen von dem Willen und der Fähigkeit Russlands, die Abhängigkeiten politisch auszunutzen. Dabei haben sich drastische Preiserhöhungen und Lieferunterbrechungen als beliebtes Instrument des Kremls erwiesen. Auf diesem Wege hat Russland etwa Moldau im Konflikt um Transnistrien oder Georgien mit Blick auf dessen Ambitionen in Richtung Nato und Westen entscheidende Zugeständnisse abgerungen.

Zwar ist auch Moskau erheblich von der EU abhängig, die 65 Prozent aller russischen Erdgas-Exporte bezieht und darüber hinaus Russlands größter Handelspartner ist. Doch im Gegensatz zu den europäischen Ausfuhren handelt es sich beim russischen Erdgas um einen strategischen Rohstoff. Anders als bei deutschen Autos oder landwirtschaftlichen Erzeugnissen aus Frankreich hätte ein Ausbleiben russischer Erdgas-Exporte das Potenzial, den Wirtschaftsraum der EU in seiner Gesamtheit zu gefährden. Freilich könnten kurzfristig Lieferausfälle durch Vorräte und Alternativen – die zum gegenwärtigen Zeitpunkt allerdings deutlich teurer sind – kompensiert werden. Ein längerfristiges Ausbleiben russischer Gaslieferungen hingegen dürfte die Preise der internationalen Energiemärkte hochtreiben und somit den europäischen Wirtschaftsraum in bislang ungekannter Weise belasten.

Verschiebung zulasten Europas

Da Moskau angefangen hat, neue Absatzmärkte in Asien zu erschließen, könnte Russland künftig zunehmend weniger auf europäische Abnehmer angewiesen sein. Seit 2011 wird China mit russischem Erdöl beliefert und im Mai 2014 vereinbarten Moskau und Peking die Aufnahme von Erdgas-Lieferungen. Ab 2018 sollen zunächst 38 Milliarden Kubikmeter Erdgas pro Jahr an die Volksrepublik geliefert werden. Im Vergleich zu den gesamten russischen Exporten in die EU in Höhe von jährlich 130 Milliarden Kubikmeter sind die asiatischen Mengen zunächst zwar noch relativ bescheiden, doch es zeichnet sich eine Strategie der Diversifizierung russischer Erdgas-Exporte gen Asien ab. Damit drohen sich mittel- bis langfristig die europäisch-russischen Abhängigkeiten zulasten Europas zu verschieben

Vor diesem Hintergrund sollten Deutschland und Europa zwei Tatsachen anerkennen. Erstens: Russland bleibt trotz aller Probleme weiterhin alternativlos für die europäische Energiesicherheit. Es wäre illusorisch anzunehmen, man könne ein Viertel des europäischen Gesamtverbrauchs auf absehbare Zeit ersetzen. Darüber hinaus wäre dies auch geopolitisch alles andere als ratsam: Denn die Pipelines liefern nicht nur Erdgas, sondern verbinden Europa und Russland gleichzeitig politisch. Seit den siebziger Jahren war der Energiehandel mit Moskau ein zentraler Pfeiler der deutschen und später der europäischen Entspannungs- und Ostpolitik. Zweifellos konnten so nicht alle Probleme des Kalten Kriegs gelöst werden, doch die wirtschaftlichen Beziehungen sorgten auf beiden Seiten für ein handfestes Interesse, jegliche Spannungen nicht eskalieren zu lassen.

Energiehandel und europäische Ostpolitik

Weiterhin ermöglichten sie insbesondere Deutschland eine zunehmende außenpolitische Emanzipation von den Vereinigten Staaten. Mit der Aufnahme der Ostpolitik wurde das Schicksal Europas nicht mehr einzig und allein zwischen Moskau und Washington entschieden. Auch heute sollte der Energiehandel als Ausgangspunkt für die Vertiefung und Verbesserung der europäisch-russischen Beziehungen sowie für die Sicherstellung einer eigenständigen Ostpolitik im europäischen Interesse genutzt werden.

Zweitens: Ebenso wenig wie Russland als Lieferland unverzichtbar ist, sind Ergänzungen zum russischen Angebot unverzichtbar. Aufgrund der oben skizzierten russischen Hinwendung nach Asien droht eine zu starke Konzentration auf Russland in einer einseitigen Abhängigkeit Europas zu münden. Die Erfahrungen der mittel- und osteuropäischen Staaten zeigen, dass langfristig der Einsatz des Gashahns als politisches Instrument auch gegenüber der EU insgesamt nicht ausgeschlossen werden kann. Obwohl die Antwort auf diese Herausforderung nicht die Abkehr von Russland sein kann, muss sich Europa breiter aufstellen und neue Bezugsquellen erschließen.

Im Zuge der Ukraine-Krise haben sich vor allem die Vereinigten Staaten und Kanada als Alternativen ins Spiel gebracht. Mit der zunehmenden Förderung unkonventioneller Reserven in Nordamerika möchten beide Staaten in den kommenden Jahrzehnten selbst Exporteure werden und Europa mit schiffbarem verflüssigten Erdgas beliefern. Die Option, von Partnerländern Energie zu beziehen, ist auf den ersten Blick durchaus verlockend. Doch gibt es einen gewaltigen Haken: Die Förderung unkonventioneller, technisch höchst anspruchsvoller Reserven ist extrem teuer und auch der Transport von verflüssigtem Erdgas per Schiff veranschlagt horrende Summen im Vergleich zu regionalen Pipelineprojekten. Mehr noch: Da Erdgas-Exporte per Schiff im Prinzip jeden Punkt der Welt erreichen können, orientieren sich ihre Preise verständlicherweise am Preisniveau der profitabelsten Märkte. Und die befinden sich in Ostasien. Dort kostet Erdgas heute rund doppelt so viel wie in Europa. Aus diesem Grund blieben bislang rund 80 Prozent der Kapazitäten aller europäischen Terminals zur Regasifizierung von verflüssigtem Erdgas, das bereits heute etwa aus der Karibik oder dem Persischen Golf bezogen werden könnte, ungenutzt. Die nordamerikanische Alternative ist schlicht zu teuer und würde mit einem dramatischen Verlust der Wettbewerbsfähigkeit von europäischen Industrien einhergehen. Es sei dahingestellt, ob Europa gut beraten wäre, neben der sicherheitspolitischen auch eine energiepolitische Abhängigkeit gegenüber Washington einzugehen. Sollte sich der Ost-West-Konflikt weiter zuspitzen, droht Europa vollends in das zweite Glied des westlichen Blocks zurückzutreten. Damit wäre die seit den siebziger Jahren teilweise erworbene Autonomie dahin.

Zielführender wäre es, in der unmittelbaren Nachbarschaft Europas nach zukunftsfähigen Alternativen zu suchen, denn die größten Erdgas-Vorkommen der Welt befinden sich an der Grenze zu Europa in der Kaspischen Region: Der Kaukasus, der Mittlere Osten und Zentralasien besitzen insgesamt über 50 Prozent der globalen Erdgasreserven. Bislang ist diese Region am wenigsten in die Weltmärkte integriert. Unter geografischen und ökonomischen Gesichtspunkten sollten die kaspischen Vorkommen somit die natürliche Alternative zur Ergänzung der europäischen Importe darstellen. Dies hat auch die europäische Politik erkannt und bemüht sich seit dem letzten Jahrzehnt darum, einen „südlichen Energiekorridor“ zu errichten, der Europa mit der Region verbindet. Bis heute gibt es jedoch nur einen vergleichsweise kleinen Vertrag mit Aserbaidschan, der ab 2019 pro Jahr 10 Milliarden Kubikmeter für Europa sichert. Angesichts eines jährlichen europäischen Gesamtverbrauchs von mehr als 440 Milliarden Kubikmeter wird sich die Versorgungssituation Europas mit diesen Lieferungen kaum verändern.

Der Iran als Dreh-und Angelpunkt

Dreh- und Angelpunkt ist vielmehr der Iran, dessen politisch gewollter Ausschluss die Ursache für das Scheitern des südlichen Korridors ist. Das Land verfügt nicht nur über die größten Erdgasreserven der Welt, sondern auch über die größten Potenziale zur Produktionssteigerung – besonders im Fall einer Zusammenarbeit mit europäischen Unternehmen.

Derzeit nehmen die Sanktionen der EU und der Vereinigten Staaten den Iran allerdings aus dem Spiel. Die energiepolitische Gretchenfrage bleibt: Möchte Europa den relativen russischen Anteil im europäischen Versorgungsmix auf dem existierenden Niveau halten, während sich Russland in Asien neue Optionen verschafft und sich politische Abhängigkeiten zu verschieben drohen?

Die Antwort hierauf kann nur negativ ausfallen – besonders vor dem Hintergrund, dass eine Anbindung der Kaspischen Region nicht nur energie-, sondern auch geopolitische Dividenden bringen könnte. Ähnlich wie beim sowjetisch-westdeutschen Erdgas-Röhrengeschäft der siebziger Jahre, könnte eine neue Energiepolitik zu einer grundsätzlichen Entspannung mit dem Iran beitragen. Das sollte gerade deshalb gelingen, weil der Antagonismus zwischen dem Iran und dem Westen heute entschieden geringer ist als der ideologische Gegensatz zwischen Ost und West während des Kalten Kriegs. Eine europäisch-iranische Version von „Wandel durch Annäherung“ könnte helfen, die in den letzten Jahren auf ihre Konfliktbereiche reduzierten Beziehungen im Rahmen eines kooperativen Ansatzes zu verbessern.

Darüber hinaus ist der Iran auch die einzige realistische Option für einen von Russland unabhängigen Bezug von Erdgas aus Zentralasien. Denn die oft diskutierte Querung des Kaspischen Meers ist finanziell deutlich unattraktiver und politisch gegen den Willen Moskaus nicht zu verwirklichen. Die energiepolitischen Ambitionen im Rahmen der EU-Zentralasien-strategie scheiterten bisher mangels geografischen Zugangs zur Region – eine Verbindung mit Europa, die nicht über russisches Territorium führt, war bisher schlicht unmöglich.

Ist Europa imstande, einen eigenen Weg zu gehen?

Zweifellos wäre der gegenwärtig wichtigste Partner Europas, die Vereinigten Staaten, von einem solchen Umschwung in der europäischen Energie- und Geopolitik alles andere als begeistert. Zum einen, weil die Amerikaner künftig gerne selbst exportieren würden und das günstige Erdgas aus der Kaspischen Region womöglich die teuren unkonventionellen Vorkommen Nordamerikas aus den Weltmärkten drängen könnte. Zum anderen, da Washington noch immer keine Alternative zum konfrontativen Umgang mit dem Iran gefunden hat und von einem „Wandel durch Annäherung“ gegenüber Teheran wenig halten dürfte.

Ob dies zum entscheidenden Kriterium für die Energiepolitik der EU werden soll, muss in den europäischen Hauptstädten entschieden werden. Somit wirft die Ukraine-Krise letztlich eine viel grundsätzlichere Frage auf: Ist die EU in der Lage, einen eigenständigen Weg zu gehen? Auch wenn der Diskurs hierüber womöglich zum „Entweder-oder“ gegenüber den Vereinigten Staaten zugespitzt wird, besteht kein Grund für ein Denken in Schwarzweiß-Kategorien. Denn eine eigenständigere Energie- und Geopolitik ist keinesfalls mit der Aufgabe der europäischen Westbindung gleichzusetzen. Das zeigt die deutsche Ostpolitik. Die Aufnahme des Erdgas-Röhrengeschäfts mit der Sowjetunion wurde von den Vereinigten Staaten abgelehnt und in den sechziger Jahren sogar von der Nato unterbunden. Der Sozialdemokrat Willy Brandt ließ sich davon jedoch nicht beirren und setzte – im deutschen Interesse an Energiesicherheit und Entspannung – im folgenden Jahrzehnt das Energiegeschäft mit Moskau durch. „Ich hoffe, wir können mehr Erdgas-Lieferungen bekommen. Ich hoffe, wir können mehr Öl bekommen. Und wir können auch an der Entwicklung der sowjetischen Energie-Produktion mitwirken und zu einem Energieverbund kommen“, sagte der Bundeskanzler 1973 dem Spiegel – vermutlich ohne Hoffnung auf Beifall aus Washington. Doch während dieser Erdgas-Handel im Rahmen der Ostpolitik neue geopolitische Möglichkeiten für Deutschland und Europa schuf, wurden die engen transatlantischen Beziehungen hierüber nicht abgebrochen. Gemeinsame ökonomische und sicherheitspolitische Interessen verknüpften die Bundesrepublik auch weiterhin mit den Vereinigten Staaten.

Deutschland und Europa stehen vor einer energie- und geopolitischen Weichenstellung. Soll Russland, ungeachtet einer sich abzeichnenden Verschiebung der relativen Abhängigkeiten, weiterhin die gleiche Rolle für die europäische Energieversorgung spielen? Falls nicht, ist Europa ernsthaft gewillt, Erdgas aus Nordamerika zum doppelten Preis zu beziehen und sich neben der sicherheitspolitischen auch in eine energiepolitische Abhängigkeit gegenüber den Vereinigten Staaten zu begeben? Oder ist Europa bereit, die Kaspische Region mit den größten Erdgas-Reserven der Welt zu erschließen, um neben der Diversifizierung seiner Energieversorgung auch die Beziehungen zum Iran zu entspannen und gleichzeitig den Kaukasus und Zentralasien aus der energiepolitischen Abhängigkeit des Kremls zu lösen? Kurzum: Haben europäische Politiker heute, wie einst Willy Brandt, den Mut und die Weitsicht, eigene Wege zur Verbesserung von Europas energie- und geopolitischer Lage zu gehen?

Angesichts der oben skizzierten Alternativen scheint eine maßvolle Erweiterung der europäischen Energiepolitik unausweichlich. Wir brauchen einen Mittelweg, der Russland weiterhin mit einbezieht und gleichzeitig neue Bezugsquellen erschließt. Die Westbindung mit eigenständiger Ostpolitik unter Einbeziehung Russlands sollte fortgeführt werden. Daneben sollte sich die EU aber endlich auch der Kaspischen Region zuwenden und im europäischen Interesse mehr energie- und geopolitische Eigenständigkeit wagen.

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