Was nicht passt, wird passend gemacht

Endlich hat die Partei "Die Linke" den Entwurf eines Parteiprogramms vorgelegt. Mit seinen haarsträubenden Geschichtsklitterungen ist der Text ein Musterbeispiel dafür, wie die Konstruktion von Vergangenheit gemeinschaftsstiftend wirken soll

Spätestens seit dem Politikwissenschaftler Benedict Anderson wissen wir, dass es sich bei Gemeinschaften, die größer sind als die dörflichen Strukturen mit ihren persönlichen Kontakten, um „imaginierte Gemeinschaften“ handelt. Anderson bezog sich auf die Nation, doch lassen sich seine Annahmen ohne Weiteres auf andere gesellschaftliche Gruppierungen übertragen, etwa auf politische Parteien.

Denn wie Nationen versuchen auch Parteien, wo immer möglich mittels passender historischer Vergangenheit Kontinuität zu stiften. Dabei wird die Geschichte häufig recht willkürlich nach Ereignissen durchstöbert, um diese dann – geschichtliche Zusammenhänge in der Regel ausblendend – einer politisch motivierten Neubewertung zu unterziehen. Die dahinter stehende Absicht ist klar: Zum einen sollen die eigenen Positionen und Entscheidungen bei aktuellen politischen Fragen historisch unterfüttert werden, zum anderen schärft die so vollzogene Abgrenzung das Profil und somit die Identität der eigenen Gruppe, und zwar sowohl nach innen als auch nach außen.

Ein besonders eindrucksvolles Beispiel für das Erfinden politischer Traditionen liefert der Mitte März vorgestellte „Entwurf für ein Programm der Partei Die
Linke“. Erstmals unternehmen die Verantwortlichen darin den Versuch – Kapitel I: „Woher wir kommen, wer wir sind“ –, die Linkspartei in die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts einzuordnen. Das Ergebnis ist in weiten Teilen abenteuerlich.

Es heißt dort unter anderem: „Die Linke knüpft an linksdemokratische Positionen und Traditionen aus der sozialistischen, sozialdemokratischen und kommunistischen Arbeiterbewegung und aus anderen emanzipatorischen Bewegungen an. Wir bündeln politische Erfahrungen aus der Deutschen Demokratischen Republik und der Bundesrepublik Deutschland.“ Doch welche Erfahrungen sind damit genau gemeint?
Das Jahr 1914: In der europäischen Geschichte steht dieses Jahr für eine Epochengrenze, für den Übergang vom „langen“ 19. ins „kurze“ 20. Jahrhundert. Was läge da näher, als die historischen Wurzeln der Linkspartei in diesem geschichtsträchtigen Schicksalsjahr zu verorten? Natürlich auf der Seite der Guten, der Pazifisten, die den Krieg von Anfang an ablehnten: „1914 spaltete der Krieg die Sozialdemokratie“, heißt es dazu im Programmentwurf. Was gut klingt, ist historisch jedoch schlicht falsch: Der Split der SPD in USPD und MSPD erfolgte erst drei Jahre später, im Jahr 1917, als die militärische Niederlage bereits abzusehen war. Im August 1914 hatte die deutsche Sozialdemokratie noch geschlossen für die Kriegskredite gestimmt – wie alle anderen im Reichstag vertretenen Parteien auch.

Die zwanziger und frühen dreißiger Jahre: Im Entwurf erfährt man dazu, der Widerstand von Kommunisten, Sozialdemokraten und Gewerkschaftern gegen die aufziehende nationalsozialistische Barbarei sei letztlich erfolglos gewesen. Das ist zweifellos richtig. Die Autoren erwähnen jedoch nicht, dass die blutige Feindschaft zwischen Kommunisten und Sozialdemokraten maßgeblich zur Schwächung des antinazistischen Lagers in dieser Zeit beigetragen hat. Was im Jahr 1914 der Pazifismus war, ist für die Jahre vor 1933 eine vermeintlich linke Einheitsfront gegen den Nationalsozialismus: Beides hat es in dieser Form nie gegeben. Auch hier wird ein Geschichtsbild durch geschickte Auslassungen und punktuelle Verkürzungen in die gewünschte Richtung gerückt. 

BRD und DDR: Während die BRD auch nach ihrer Gründung 1949 in „autoritären und obrigkeitsstaatlichen Strukturen“ verhaftet blieb, setzten sich die Ostdeutschen nach Kriegsende umgehend „für den Aufbau einer besseren Gesellschaftsordnung und für ein friedliebendes, antifaschistisches Deutschland ein“. So zumindest
sehen es die Autoren des Textes. Dass der damit einhergehende Zwangszusammenschluss von SPD und KPD zur Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) 1946 nicht gänzlich freiwillig verlief, wird zwar eingeräumt, zugleich jedoch mit dem Hinweis auf den „gemeinsamen Widerstand gegen den Faschismus“ nachträglich legitimiert; zumal – auch darauf wird hingewiesen – die KPD im Westen ebenfalls zahlreichen Repressionen ausgesetzt gewesen sei. Erst die „gesellschaftskritische außerparlamentarische Opposition“ der sechziger Jahre habe der BRD zu „mehr Demokratie“ und weniger „autoritären Tendenzen“ verholfen. Ganz anders hingegen stelle sich die Erfahrungswelt der Menschen im Osten Deutschlands dar: Diese hätten nicht nur „die Beseitigung von Arbeitslosigkeit und die wirtschaftliche Eigenständigkeit der Frauen“ erlebt, sondern auch „die weitgehende Überwindung von Armut, ein umfassendes soziales Sicherungssystem, ein hohes Maß an sozialer Chancengleichheit im Bildungs- und Gesundheitswesen sowie in der Kultur“. Angesichts der unzähligen Opfer der SED-Gewaltherrschaft sowie Hunderttausender Menschen, die aufgrund ihrer politischen und religiösen Überzeugungen von Unterdrückung und Staatswillkür betroffen waren, ist die Darstellung der DDR als eine bildungs- und chancengerechte Gesellschaft nicht nur historisch bedenklich – sie grenzt an Zynismus.   

Die Wiedervereinigung: Die PDS habe nach „einem schwierigen und selbstkritischen Prozess“ im Februar 1990 die Nachfolge der SED angetreten. Laut Programmentwurf waren zwei Gründe ausschlaggebend: die Missachtung der „Errungenschaften und Erfahrungen der Ostdeutschen“ im Prozess der Wiedervereinigung sowie das Scheitern der „demokratischen Neubegründung des vereinigten Deutschlands“ im Herbst 1989. Beides habe zum „wirtschaftlichen und sozialen Niedergang vieler ostdeutscher Regionen“ beigetragen. Keine Frage: Im Nachhinein lässt sich trefflich darüber streiten, ob – und falls ja, welche – Entscheidungen im Zuge der Deutschen Einheit besser anders hätten getroffen werden müssen. Gleichwohl kann man es getrost als einen Treppenwitz der Geschichte bezeichnen, wenn nun ausgerechnet die
direkte Nachfolgerin der einstigen DDR-Staatspartei Gesamtdeutschland ein Demokratiedefizit unterstellt – zumal vor dem Hintergrund der zahlreichen Stasi-Enthüllungen der jüngsten Zeit.

Die DDR? War fast gelungen!


Welche historische Tradition ist es also, in der sich die Linkspartei mit ihrem (ersten) Grundsatzprogramm zu verorten sucht? Es ist die Tradition eines pazifistischen Sozialismus, wenngleich mit demokratischem Antlitz. Die Sozialdemokratie wird lediglich 1914 und in der Zeit vor 1933 als Bezugspunkt für die eigene Politik herangezogen, in beiden Fällen – keine Ironie der Geschichte, sondern durchaus Kalkül – in stark verkürzter Version, bei der historische Begebenheiten und Hintergründe bewusst ausgespart werden. Dasselbe gilt für die historische Beurteilung sowohl der BRD als auch der DDR. Während die Autoren Westdeutschland scharf kritisieren, verklären sie die Geschichte der DDR: Folgt man dem Programmentwurf, haperte es lediglich mit der Demokratie an der einen oder anderen Stelle, doch sei man sich dessen mittlerweile bewusst und habe entsprechend darauf reagiert – Stichwort: demokratisches Antlitz!

Die Konstruktion von Vergangenheit ist für Parteien stets ein Drahtseilakt, bei dem es darauf ankommt, die Balance zwischen dem politisch Gewünschten und dem – im Sinne der Auslegung der Geschichte – historisch Machbaren zu wahren. Die Linkspartei hat diese Balance in ihrem ersten Grundsatzprogramm verloren. Das dort präsentierte historische Panorama grenzt an Geschichtsklitterung. «

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