Was jetzt in den Schulen zu tun ist

Dreißig Prozent der Asylsuchenden in Deutschland sind minderjährig. Die Integration dieser Kinder und Jugendlichen stellt die Schulen vor besondere Herausforderungen. Was jetzt zu tun ist, zeigt sich mit Blick auf die kulturelle Vielfalt in unseren Klassenzimmern

Laut Bundesamt für Migration und Flüchtlinge stellten im vergangenen Jahr 137 479 minderjährige Geflüchtete einen Asylantrag in Deutschland. Genau wie alle anderen 6 bis 16-Jährigen sind auch diese Kinder und Jugendlichen hierzulande schulpflichtig. Ab wann sie eine Schule besuchen müssen, legt jedes Bundesland individuell fest: In Thüringen beginnt die Schulpflicht drei Monate nach Ankunft, in Baden-Württemberg erst nach einem halben Jahr und in anderen Ländern bereits sofort nach der Ankunft. Angesichts dieser massiven Neuzugänge stehen Schulleitungen wie Lehrende vor vielen offenen Fragen: Wie sollen sie die Willkommensklassen strukturell und inhaltlich gestalten? Wie können sie bestmöglich zur Arbeitsmarktintegration der Jugendlichen beitragen? Wie sollen sie mit traumatisierten Geflüchteten umgehen? Und wie können sie die kulturelle Vielfalt im Klassenzimmer zum Vorteil aller nutzen?

Willkommensunterricht als Brücke in die regulären Schulklassen

Das Konzept der Deutschlernklassen ist nicht neu. Bereits im Jahr 1971 führte der Berliner Senat sie ein. Die überwiegend türkischstämmigen Zuwanderer sollten innerhalb von ein bis zwei Jahren Deutsch lernen. 2007 gab der Senat dieses Konzept jedoch mit der Begründung auf, dass die Kinder und Jugendlichen besser integriert würden, wenn sie direkt in das reguläre Schulsystem einträten und ergänzenden Deutschunterricht an den Nachmittagen erhielten. Vier Jahre später führte der Senat die Willkommensklassen jedoch wieder ein, um die überforderten Lehrer zu entlasten. Bis zum vergangenen Sommer war die Zahl der Deutschlernklassen bereits auf das Vierfache gestiegen; aktuell sind es 670. Die rund 7 380 Schülerinnen und Schüler wechseln spätestens nach anderthalb Jahren in den regulären Schulbetrieb.

Für die Lehrenden ist die größte Herausforderung die Vielfalt der Schüler. Die Unterschiede betreffen nicht allein ihren kulturellen und sprachlichen Hintergrund; auch ihr Alter und Bildungsstand unterscheiden sich. Manche Schüler verfügen über sehr gute Vorkenntnisse, andere sind nicht einmal alphabetisiert, weil sie bisher keinen Zugang zu Bildung hatten.

Ein Beispiel aus der Praxis: Vor einem knappen Jahr übernahm die Lehrkraft Nissren Schäfer eine neu gegründete Willkommensklasse in einer Berliner Schule. Sie setzt vor allem auf Binnendifferenzierung und kleine Lerngruppen, um den Bedürfnissen der zwölf Lernenden gerecht zu werden. Damit die Schüler sich nicht über- oder unterfordert fühlen, passt Schäfer die Aufgaben ihrem individuellen Kenntnisstand an. Zusätzlich werden Teams mit Schülern unterschiedlicher Leistungsstufen gebildet. Diese erarbeiten sich gemeinsam neue Inhalte und festigen den Unterrichtsstoff.

Das Problem: Die Unterrichtsgestaltung und die Suche nach geeigneten Unterrichtsmaterialien liegt allein in der Verantwortung der befristet angestellten Lehrkräfte. Die Berliner Senatsverwaltung stellt lediglich Hinweise zur Feststellung der Deutschkenntnisse und einen Leitfaden zur Verfügung, der Themen festlegt, die im Unterreicht nicht behandelt werden sollen - etwa Religion, Politik, Biografien und Familie. Bislang gibt es jedoch keine konkreten Vorgaben – und damit keinen Orientierungsrahmen, den die Lehrkräfte gerade zu Beginn ihrer Tätigkeit benötigen. Um ihnen die pädagogische Arbeit zu erleichtern, wird der Berliner Senat ab Februar Starterpakete in allen Schulen mit Willkommensklassen verteilen. Diese enthalten Informationen zum Thema Sprachunterricht und Geflüchtete, einen Film, der das Berliner Schulsystem in verschiedenen Sprachen erklärt, sowie Arbeitsmaterialien, die sich bereits in Willkommensklassen bewährt haben. Darüber hinaus bedarf es neben einem Rahmenlehrplan jedoch auch eines Lehrbuches, das speziell auf diese Zielgruppe abgestimmt ist und Inhalte bis zum Sprachniveau B1 abdeckt.

In den Berlinern Willkommensklassen ist es zudem üblich, dass die Schülerinnen und Schüler ausschließlich Deutschunterricht erhalten. Nur in vereinzelten Fällen dürfen sie am Regelunterricht in den Fächern Sport, Musik oder Kunst teilnehmen. Der Unterricht ist demnach sehr einseitig; Wissen, das sie später für den Einstieg in den anderen Fächern benötigen, wird nicht vermittelt. Um mehr Abwechslung in den Schulalltag zu bringen und um den Übergang in reguläre Klassen zu erleichtern, dürfen die Kinder und Jugendlichen in Schäfers Schule mittlerweile zu 30 Prozent am regulären Unterricht teilnehmen, wahlweise in Mathe, Englisch, Physik und Chemie. So kommen sie vermehrt mit deutschen Muttersprachlern in Kontakt und lernen neue Inhalte. Zusätzlich organisieren die Lehrer gemeinsame Aktivitäten am Nachmittag, um beide Seiten zusammenzubringen: Die Schüler kochen zusammen oder unternehmen Ausflüge. Dies erfordert zum einen offene und kooperationsfreudige Lehrer und Schulleitungen. Zum anderen sind entsprechende personelle und finanzielle Ressourcen in den Willkommensklassen notwendig.

Beratung an den Schulen ebnet den Weg in Bildung und Beruf

Die Lehrkräfte übernehmen auch eine Schlüsselfunktion, wenn es um die Integration der jugendlichen Migranten in weiterführende Bildungsangebote und den Arbeitsmarkt geht. Neben dem allgemeinen Bewerbungstraining brauchen sie individuelle Studien- und Berufsberatungen. Coaching kann den jungen Erwachsenen dabei helfen, gezielt nach Ausbildungs- oder Studienplätzen zu suchen, mit potenziellen Arbeitgebern oder einem Immatrikulationsamt in Kontakt zu treten, sowie ihre Stärken und Schwächen zu analysieren. Im Rahmen von Workshops können sich die Jugendlichen von Personalern Feedback zu ihren Bewerbungsunterlagen und ihrer Außenwirkung einholen.

Da gute Noten bei der Bewerbung auf einen Ausbildungs- oder Studienplatz wichtig sind, wirbt Sara Appelhagen vom Netzwerk Integration dafür, dass Schulen sich vermehrt um Kooperationen mit Bildungsträgern bemühen. Diese bieten Unterstützung bei der Erledigung von Hausaufgaben und der Prüfungsvorbereitung sowie Übungs- und Nachhilfestunden an. Zudem könnte man die Jugendlichen zu Jugendleitern ausbilden. Die ehrenamtliche Jugendarbeit würde ihnen die Gelegenheit geben, Zusatzqualifikationen zu erwerben, die ihnen bei späteren Bewerbungen zugutekommen. An Projektschulen im niedersächsischen Landkreis Diepholz wurden diese Maßnahmen bereits eingeführt – mit großem Erfolg.

Traumatisierten Kindern und Jugendlichen Halt geben

Nicht selten sind die geflüchteten Kinder und Jugendlichen traumatisiert. Laut einer Studie der Universität Konstanz zeigte in einer Gemeinschaftsunterkunft fast jeder fünfte Minderjährige Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung. Ursache für diese Traumata sind erhebliche Verluste: der Verlust oder die räumliche Trennung von Familienmitgliedern, Freunden und einer vertrauten Umgebung sowie der Verlust ihres sozialen Satus und Orientierung stiftender soziokultureller und religiöser Praktiken. Zusätzlich mangelt es diesen jungen Menschen an persönlichen Zukunftsperspektiven, einem Sicherheitsgefühl und an Selbstidentifikation. Kinder und Jugendliche sind besonders von solchen seelischen Beeinträchtigungen betroffen, weil sie in einem Alter sind, in dem ihre Persönlichkeit auf der biologischen und psychischen Ebene noch nicht vollständig entwickelt ist. Außerdem machen sie in Deutschland Erfahrungen, die ihre Traumata verstärken können: etwa Anfeindungen durch Anwohner, Diskriminierungen in der Schule oder die Angst vor der Abschiebung. Oftmals leiden auch ihre Eltern und Geschwister unter psychischen Erkrankungen. In solch einem dysfunktionalen familiären Umfeld haben sie kaum eine Möglichkeit, ihre Traumata zu verarbeiten. Häufig üben die Angehörigen zusätzlichen Druck auf sie aus, da die Integration in Schule und Beruf oftmals die Grundlage für die weitere Aufenthaltserlaubnis der Familie ist.

David Zimmermann, Wissenschaftler am Berliner Institut für Traumapädagogik, hat herausgefunden, dass traumatisierte Kinder und Jugendliche in der Schule oft unruhig, unkonzentriert und aggressiv auftreten - oder aber ein introvertiertes, depressives und selbstzerstörerisches Verhalten an den Tag legen. Um die traumatischen Störungen nicht zu verstärken, müssen die Pädagogen die psychosoziale Situation und die individuellen Bedürfnisse ihrer Schüler verstehen. Sie müssen bereit und in der Lage sein, den traumatisierten Schülern Interesse an ihrer Lebensgeschichte entgegenzubringen, ihnen Halt zu geben, und einen sicheren Raum zu schaffen. Es bedarf außerdem einer sensiblen Erinnerungskultur in der Klasse. Qualifizierungsmaßnahmen können helfen, die Lehrkräfte für dieses Thema zu sensibilisieren und theoretische Grundkenntnisse der Traumapsychologie zu vermitteln. Zudem lernen sie, wie sie traumapädagogische Ansätze in die tägliche Praxis einbinden können. Um dies zu leisten, so Zimmermann, sind außerdem professionelle Reflexionsräume für die Lehrenden vonnöten. Zudem sollte das Lehramtsstudium um ein entsprechendes Lernmodul ergänzt werden. Und schließlich müssten die Schulen etwas von ihrer Leistungsfixierung abrücken.

Der Bund hat den Ländern sechs Millionen Euro für die Geflüchteten zugesagt. Diese Mittel können zwar nicht direkt an die Schulen fließen, weil sie unter den alleinigen Zuständigkeitsbereich der Länder fallen. Sie könnten jedoch genutzt werden, um Unterstützernetzwerke für traumatisierte Geflüchtete in den Schulen zu schaffen, die aus Teams von Betreuern, Sozialarbeitern, Trauma-Experten, (Schul-)Psychologen und Dolmetschern bestehen.

Gleichberechtigte Teilhabe am Unterricht garantieren

Bereits seit den siebziger Jahren stehen Lehrer vor der wichtigen Aufgabe, Schüler, deren Muttersprache nicht Deutsch ist, in die Regelklassen zu integrieren. Mit der steigenden Zahl der Zugewanderten ergeben sich jedoch neue Herausforderungen. Im Jahr 2014 hatte hierzulande jede dritte Person im Alter von 5 bis 15 Jahren einen Migrationshintergrund im engeren Sinne. Das bedeutet, dass entweder die Großeltern, die Eltern oder sie selbst nach 1949 in das heutige Gebiet der Bundesrepublik eingewandert sind. Die Kultusministerkonferenz empfiehlt den Schulen daher, interkulturelle Bildung als Teil des allgemeinen Erziehungsauftrags zu verstehen. Das heißt, dass alle Schüler zu Humanität, Freiheit, Verantwortung, Solidarität, Völkerverständigung, Demokratie und Toleranz erzogen werden und interkulturelle Kompetenzen erwerben sollen. Idealerweise sollten die Lehrkräfte interkulturelles Lernen als Querschnittsaufgabe der pädagogischen Arbeit verstehen, und Interkulturalität nicht anhand einzelner Themen und isolierter Fächer vermitteln. Wichtig ist, dass alle Kinder und Jugendlichen lernen, ihre eigenen Sichtweisen zu hinterfragen. Um dies zu leisten, muss der Unterricht laut Regine Hartung, Leiterin der Beratungsstelle für Interkulturelle Erziehung in Hamburg, Raum für den Wechsel von Perspektiven und unterschiedliche Sichtweisen auf Unterrichtsgegenstände bieten. Inhalte, Methoden sowie Lehr- und Unterrichtspläne müssen der kulturellen und sprachlichen Vielfalt in den Klassen angepasst und die Schüler individuell gefördert werden. Daher sollten Unterrichtsmaterialien verwendet werden, die auf die Reproduktion von Stereotypen verzichten und stattdessen eine tiefergehende Auseinandersetzung mit Vielfalt anregen. Jeder Einzelne soll die Möglichkeit erhalten, seinen oder ihren kulturellen und sprachlichen Hintergrund in das Schulleben einbringen zu können – und zwar auf Augenhöhe mit der Mehrheit. Auf diese Weise können die Schüler eine integrative, multiperspektivische Lernkultur aktiv mitgestalten; und Schulen werden zu Lernorten des sozialen Zusammenhalts und der gleichberechtigten Teilhabe.

Die nächsten Schritte

Wie können Lehrer und Schulleitungen also den Herausforderungen gerecht werden, die sich aus der steigenden Zahl an geflüchteten Kindern und Jugendlichen ergeben? Dies erfordert erstens, dass die Schüler in den Willkommensklassen fit für die Regelklassen gemacht werden. Die Lehrer sollten den Kontakt zu deutschen Muttersprachlern fördern, indem sie ihnen frühzeitig die Teilnahme am regulären Unterricht in Schlüsselfächern wie Englisch, Mathe oder Physik ermöglichen und gemeinsame Freizeit- und Projektaktivitäten an den Nachmittagen ausbauen. Damit die Geflüchteten erfolgreich in den Arbeitsmarkt integriert werden können, bedarf es zweitens Unterstützungsangebote wie Bewerbungstrainings, Hausaufgabenhilfe und individuelle Berufs- und Studienberatungen. Dringend notwendig ist drittens, dass in Kooperation mit einem Unterstützernetzwerk sichere Räume an den Schulen geschaffen werden, die den traumatisierten Kindern und Jugendlichen Halt geben und es ihnen ermöglichen, ihre Traumata aufzuarbeiten. Darüber hinaus müssen die Lehrer viertens interkulturelle Unterrichtskonzepte in ihrer pädagogischen Praxis anwenden, die die gleichberechtigte Teilhabe der Zugewanderten an Bildungsprozessen ermöglichen. Mithilfe dieses Maßnahmesets können die Schulen einen entscheidenden Beitrag zur erfolgreichen Integration der jungen Menschen mit Migrationsgeschichte in unsere Gesellschaft leisten.

(Dieser Text ist am 3. Februar 2016 als Online-Spezial-Beitrag der Berliner Republik erschienen.)