Was ein gesetzlicher Mindestlohn leisten kann

Immer mehr Menschen in Deutschland müssen von extrem niedrigen Löhnen leben. Fast ein Sechstel der Beschäftigten in Ostdeutschland erhält schon heute Tariflöhne auf Sozialhilfeniveau. Sollte der Staat eingreifen? Und wenn ja, wie?

Kann ein Friseurgehilfe von einem Stundenlohn in Höhe von 4,80 Euro leben? Oder ein Hoteldiener von 5,10 Euro? Die Antwort auf beide Fragen lautet: Nein. Doch stellt sich die Frage, ob der Staat an dieser Stelle eingreifen sollte. Und wie er dieses Problem dann lösen kann. Fest steht, dass sich der Niedriglohnsektor in den letzten Jahren ausgeweitet hat. Und auch, dass dies in den kommenden Jahren noch stärker der Fall sein wird. 12 Prozent der Beschäftigten in Ostdeutschland erhalten Tariflöhne auf Sozialhilfeniveau oder sogar darunter. Die hohe Arbeitslosigkeit und das Aufbrechen der Tarifverträge begünstigen eine branchenübergreifende Ausweitung der niedrigen Löhne. Und es handelt sich dabei nicht etwa nur um die Beschäftigungsverhältnisse, die ohnehin befristet oder in Teilzeit eingegangen werden, sondern niedrige Löhne nehmen auch bei den Vollzeitbeschäftigten zu.

Die Folge liegt auf der Hand: Die Arbeitnehmer, die zwar in Vollzeit beschäftigt sind, aber nur einen geringen Lohn erhalten, leben an der Armutsgrenze. Gerade die fehlende Kaufkraft schwächt jedoch in Deutschland das Wachstum. Darüber hinaus schwindet bei niedrigen Löhnen der Anreiz, den Lebensunterhalt durch eine Erwerbstätigkeit zu sichern. Die Reformen auf dem Arbeitsmarkt setzen zwar ebenfalls an dieser Stelle an, jedoch liegen die monatlichen Leistungen aus dem Arbeitslosengeld II für eine Familie mit zwei Kindern in einer Höhe, die einem Berufstätigen mit einer Erwerbstätigkeit im Niedriglohnbereich nicht zur Verfügung stehen.

In einer Reihe von OECD-Staaten und in 18 der 25 Mitgliedstaaten der Europäischen Union gibt es heute Mindestlöhne, so etwa in Großbritannien oder Frankreich. In Frankreich erhalten die Arbeitnehmer den höchsten Mindestlohn im Vergleich zu den übrigen OECD-Staaten; allerdings kompensiert der Staat dies mit Erleichterungen für die Unternehmen bei den Sozialleistungen, die sie für ihre Arbeitnehmer erbringen müssen. Dort wird zurzeit flächendeckend und branchenübergreifend ein Mindestlohn von 7,61 Euro gezahlt, der jedes Jahr der Preisentwicklung angepasst wird. In der Bundesrepublik Deutschland müsste ebenfalls ein flächendeckender Mindestlohn festgelegt werden, der für alle Branchen gilt. Auch wenn die Arbeitsleistung in den einzelnen Branchen grundsätzlich unterschiedlich entlohnt wird, so soll der Mindestlohn dennoch nur dazu dienen, das Existenzminimum eines Arbeitnehmers zu sichern. Hier muss in Kauf genommen werden, dass die Lebenshaltungskosten innerhalb der Bundesrepublik variieren, die Ausgaben in München für den Lebensunterhalt wahrscheinlich höher sind als die Ausgaben in Cottbus.

Kann die Politik überhaupt eingreifen?

Aber kann die Politik bei der Frage des Lohnniveaus überhaupt eingreifen, damit das Existenzminimum eines Arbeitnehmers im Niedriglohnsektor gesichert ist? Kritiker tragen gegen die Einführung von Mindestlöhnen vor, auf diese Weise werde die Tarifautonomie ausgehöhlt. Dem ist jedoch zu entgegnen, dass ein Mindestlohn lediglich eine untere Lohngrenze festlegt und nicht etwa die Tarifparteien daran hindert, einen darüber liegenden Lohn zu vereinbaren.

Alternative Lösungen zum gesetzlichen Mindestlohn versprechen keinen Erfolg. Im Augenblick bleibt jedem Arbeitnehmer, der der Ansicht ist, zu gering entlohnt zu werden, nur der Weg zu den Gerichten. Die Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt und die Angst, bei Streitigkeiten mit dem Arbeitgeber den Job zu verlieren, haben dazu geführt, dass Arbeitnehmer den zu niedrigen Lohn – wenn überhaupt – erst nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses anfechten. Ihnen bleibt im Augenblick also faktisch keine Möglichkeit, sich beispielsweise gegen Lohndumping zur Wehr zu setzen. Den Arbeitgebern steht es daher im Grunde genommen frei, Arbeitnehmer zu niedrigen Löhnen zu beschäftigten.

Eine Allgemeinverbindlichkeit der Tarifverträge stellt ebenfalls keine Lösung dar, schließlich sind teilweise schon die Tariflöhne so niedrig, dass sie den Lebensunterhalt der Arbeitnehmer nicht sichern können. Den Arbeitnehmern, die in einer Branche beschäftigt sind, in denen ein Tarifvertrag die Lohnhöhe auf einem niedrigen Niveau regelt, wäre mit einer Allgemeinverbindlichkeit nicht geholfen. Als denkbare Lösung bleibt daher die Einführung gesetzlicher Mindestlöhne übrig, die in der Bundesrepublik keine Neuheit darstellen: Schon mit dem Entsendegesetz in den neunziger Jahren etablierte sich der Mindestlohn in der deutschen Baubranche; mit ihm sollte drohendes Lohndumping durch Arbeitnehmer aus dem Osten verhindert werden.

Doch welche Auswirkungen wird die Einführung eines Mindestlohnes auf die Beschäftigung haben? Über diese Frage streiten seit Jahrzehnten die Wissenschaftler. Zahlreiche empirische Studien, die in den achtziger Jahren diese Frage thematisiert haben, kamen zu dem Ergebnis, dass ein Mindestlohn nur zu geringem Rückgang der Beschäftigung führen wird. Die OECD hat Ende der neunziger Jahre eine Studie zu neun Ländern mit Mindestlöhnen vorgelegt. Ergebnis: Eine Anhebung des Lohnes ist mit nur geringen negativen Auswirkungen auf die Beschäftigung der unter 20-Jährigen verbunden; für die übrigen Altersgruppen sind keine Nachteile zu erwarten.

Es kommt auf die richtige Lohnhöhe an

Die konkreten Auswirkungen eines Mindestlohnes in Deutschland werden in der Praxis aber vor allem davon abhängen, in welcher Höhe ein Mindestlohn angesetzt wird. Die Erfahrungen in den OECD-Staaten, in denen Mindestlöhne bereits seit vielen Jahren gezahlt werden, zeigen, dass dort die Höhe offenbar angemessen bestimmt worden ist. Es kommt deshalb darauf an, auch in Deutschland eine angemessene Lohnhöhe zu bestimmen. Die Gefahr einer sinkenden Nachfrage für weniger qualifizierte Arbeitnehmer oder andere Personengruppen, beispielsweise Jugendliche, die erfahrungsgemäß ohnehin einen schwereren Einstieg in den Arbeitsmarkt haben, ist auch nach der Studie der OECD nicht von der Hand zu weisen. Mit einem Mindestlohn würde die Beschäftigungsschwelle für sie angehoben; ein solches Einstellungshemmnis ist keinesfalls akzeptabel.

Wenn also – zumindest nach Expertenmeinung – Personengruppen auszumachen sind, die bei der Einführung eines gesetzlichen Mindestlohnes schlechtere Chancen auf dem Arbeitsmarkt haben werden, muss dieser Gefahr bereits im Vorfeld begegnet werden. Zu überlegen ist, ob mit gezielten Lohnsubventionen das Risiko einer erhöhten Beschäftigungsschwelle aufgefangen werden kann. So ließen sich beispielsweise Personengruppen definieren, bei denen zu erwarten ist, dass die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohnes ihre Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt hemmen wird. Die Einstellung eines Arbeitnehmers, der einer solchen Personengruppe zuzuordnen ist, könnte dann gezielt durch Subventionen gefördert werden.

Auch Lohnsubventionen jedoch werden von vielen skeptisch gesehen: So bestünde hier die Gefahr, dass sich der Niedriglohnbereich auf Kosten des Staates etabliert und die finanziellen Lasten der Arbeitgeber auf den Staat verschoben würden. Bei einer flächendeckenden Einführung von Lohnsubventionen wären diese Bedenken sicherlich nicht von der Hand zu weisen. Um dieser Gefahr vorzubeugen, sollte die Subventionierung degressiv angelegt sein: Die finanziellen Zuschüsse müssten sich in den Folgejahren der Beschäftigung verringern, bis sie nach einem Zeitraum von vielleicht drei Jahren ganz eingestellt werden. Im Zusammenspiel mit gesetzlichen Mindestlöhnen können Lohnsubventionen Arbeitnehmern, die einer der genannten „Risikogruppen“ zuzuordnen sind, einen Platz auf dem Arbeitsmarkt sichern.

Ein Existenzminimum für alle Arbeitnehmer

Im Übrigen ist nicht zu erwarten, dass Arbeitgeber alle Arbeitnehmer langfristig „eintauschen“ gegen Arbeitnehmer, die einer der festgelegten Personengruppen entstammen, um auf diese Weise Lohnzuschüsse zu erhalten und damit den gesamten Lohnkosten zu entgehen. Die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohnes ist unter den genannten Voraussetzungen und Bedingungen ein geeignetes Mittel, um allen Arbeitnehmern ein Existenzminimum zu sichern, damit sie in der Lage sind, losgelöst von staatlichen Transferleistungen selbst für ihren Lebensunterhalt aufzukommen.

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