Warum Vermögen verpflichtet

Eine isolierte Steuerdebatte wird keine befriedigende Antwort auf die Frage liefern, wie sich die soziale Kluft in unserer Gesellschaft schließen lässt. Plädoyer für eine erweiterte Debatte um Gleichheit und Gemeinwohl, Eigentum und Vermögen

Sechs von zehn Deutschen klagen, der gesellschaftliche Zusammenhalt in Deutschland nehme ab. Gerade einmal ein Fünftel hält die Einkommens- und Vermögensverteilung für gerecht. Und lediglich vier Prozent der im Februar 2010 von den Allensbacher Demoskopen Befragten erklärten, unser Land sei in den vergangenen Jahren sozial gerechter geworden. Die Boulevardpresse, aber nicht nur sie, macht dafür „die da oben“ verantwortlich: Manager und Banker, die Reichen und die Raffkes und – nicht zu vergessen – „die“ Politiker. Alarmierend ist zudem der aus weiteren Umfragen abzuleitende Zusammenhang von Ungerechtigkeitsempfinden und Verlust des Vertrauens in die Soziale Marktwirtschaft sowie in unser demokratisches System.

Eine der wichtigsten Ursachen für das steigende Ungerechtigkeitsempfinden dürfte in der Erosion der gesellschaftlichen Mitte liegen, die einerseits Abstiegsängste hegt und der andererseits immer mehr Lasten aufgebürdet werden. Das frühere Aufstiegsversprechen an die Arbeiter- und Mittelstandskinder bleibt heute für viele unerfüllt, trotz guter Ausbildung und hoher Leistungsbereitschaft. Während das obere Ende der Gesellschaft nach wie vor im Wortsinne „exklusiv“ lebt und von den neuen globalen Möglichkeiten in vieler Hinsicht profitiert, besteht für die Angehörigen der neuen Unterschicht kaum mehr die Aussicht auf einen Weg nach oben. Die deutsche Einheit und – stärker noch – die Auswirkungen der Globalisierung sorgten dafür, dass die „Bonner Republik“ mit ihrer Verheißung fortwährender Prosperität und einem immer enger gewobenen Netz sozialer Sicherung auch wirtschafts- und sozialpolitisch nur noch Geschichte ist. Wir haben gleichsam nicht nur vom Rhein, sondern ebenso vom Modell der Nivellierten Mittelstandsgesellschaft Abschied nehmen müssen.

Auch die Bundesregierungen unter Beteiligung der Sozialdemokraten – im Jahr 1998 angetreten unter dem Signet „Innovationen und Gerechtigkeit“ – konnten die zunehmende soziale Spreizung nicht aufhalten. Im Gegenteil hat sich seit der Veröffentlichung des ersten „Armuts- und Reichtumsberichtes der Bundesregierung“ im Jahr 2001 die Spaltung unserer Gesellschaft verschärft. Allen politischen Beschwörungen und dem Hinweis auf die zahlreichen neu entstandenen Arbeitsplätze zum Trotz hat sich das Gefühl von einem Mehr an Gerechtigkeit nicht eingestellt.

Auch dem »einfachen Arbeiter« geht es besser

Übersehen wird dabei leider oft, dass der Wohlstand unserer Gesellschaft in den vergangenen Jahrzehnten tatsächlich zugenommen hat. Auch der vielgerühmte „einfache Arbeiter“ verfügt heute – staatliche Leistungen eingerechnet – über eine weit höhere Kaufkraft als sein Pendant in den siebziger Jahren. Die Welt hat unsere Befindlichkeit in Bezug auf unseren Wohlstand einmal pointiert unter der Überschrift „Deutsche fühlen sich arm – doch allen geht’s gut“ zusammengefasst. Allerdings ist die europaweit im vergangenen Jahrzehnt vor allem von sozialdemokratisch geführten Regierungen aufgemachte Rechnung, eine zunehmende Gehaltsspreizung mit überproportionalen Zuwächsen am oberen Ende sei hinzunehmen, solange auch die Mitte – in bescheidenerem Maße – mitwachse, jedenfalls aus Sicht der eigenen Klientel nicht aufgegangen.

Seitdem selbst die Wirtschaftswissenschaften das Bild vom Menschen als reinem „homo oeconomicus“ in Frage stellen, wissen wir, dass das subjektive Gefühl von Gleichheit und Gerechtigkeit nicht unbedingt mit realen Zahlen einhergeht, sondern relativ zu anderen Menschen verstanden wird. Ein stärkerer Vermögenszuwachs am oberen Ende der Einkommensskala wird eben nicht kritiklos hingenommen. Anders ausgedrückt: Auch wenn das Schiff (die Gesellschaft) luxuriöser geworden ist (steigender Wohlstand), freuen sich die Kreuzfahrtgäste (steuerzahlende Bürger) weniger an ihren besser ausgestatteten Kabinen (individuelle Wohlstandsgewinne), sondern schauen auf das exklusive Sonnendeck („die Reichen“). Haften bleibt vor allem, worüber „die da oben“ verfügen und welche Zuwächse sie erzielen. Die Zahlen sprechen dabei eine deutliche Sprache: Dem Armuts- und Reichtumsbericht des Jahres 2008 zufolge haben sich die realen Bruttolöhne im untersten Viertel der Einkommensstatistik innerhalb des letzten Jahrzehnts um fast 14 Prozent verringert. Viele Menschen dieser Gehaltsgruppen wurden daher Empfänger staatlicher Transfers.

Dagegen nahmen die Einkommen im ersten Viertel um 3,5 Prozent zu. Für das oberste Prozent schätzen Wissenschaftler der FU Berlin den Zuwachs sogar auf einen zweistelligen Prozentbereich. Besonders augenfällig ist der Anstieg der Millionäre. Gab es 1997 erst 130.000 Personen mit einem frei verfügbaren Vermögen von über einer Million – damals in D-Mark –, so sind es nach einer Studie von Boston Consulting heute schon 430.000 Haushalte, die dieses Kriterium erfüllen – noch dazu jetzt in Euro bemessen. Der World Wealth Report 2009 weist sogar 810.000 so genannte High Net Worth Individuals in Deutschland mit einem frei verfügbaren Vermögen von mehr als einer Million US-Dollar aus. Das obere Drittel der Gesellschaft besitzt knapp 60 Prozent aller Vermögenswerte, das oberste Prozent allein sogar mehr als ein Fünftel, während die untere Hälfte der Haushalte über deutlich weniger als 10 Prozent des gesamten Nettovermögens verfügt. Selbst die Finanz- und Wirtschaftskrise, in deren Verlauf einige prominente Vermögen stark reduziert wurden, hat an diesem Bild nichts substanziell geändert. Das „Sonnendeck“ dürfte in Folge der anstehenden Erbenwelle sogar noch größer werden: Schätzungen zufolge werden in Deutschland in den kommenden zehn Jahren etwa zweieinhalb Billionen Euro vererbt – und zwar vornehmlich in den oberen, bildungsnahen Schichten Westdeutschlands.

Wie kann dieses Vermögen gesellschaftlich gewinnbringend, langfristig und nachhaltig genutzt werden? Gibt es Möglichkeiten, die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich wieder zu verringern? Hilft dabei eine Vermögenssteuer – sollen „die fetten Hammel geschoren werden“, wie gelegentlich politisch gefordert wird? Oder sind auch andere, neue Wege denkbar, Vermögen für das Gemeinwohl zu aktivieren?

Ein transparentes Steuersystem könnte helfen

Zunächst bleibt festzuhalten, dass die extreme Intransparenz des bestehenden Steuersystems der gesamten Diskussion um die Verteilung von Vermögen abträglich ist und Neiddebatten geradezu herausfordert. Ob das Kirchhofsche Vorhaben der Steuervereinfachung, im Bundestagswahlkampf 2005 von Gerhard Schröder erfolgreich als „illusorisch und zutiefst ungerecht“ verdammt, die soziale Temperatur im Lande wirklich abgesenkt hätte, ist zumindest zweifelhaft. Aber ein einfaches und damit transparentes Steuersystem kann durchaus für mehr Gerechtigkeit sorgen – und zwar quer durch alle gesellschaftlichen Schichten. Das einkommenstärkste Viertel der Bevölkerung steuert heute bereits rund 80 Prozent des Einkommensteueraufkommens bei, während 15 Millionen eigentlich steuerpflichtige Bürger – und damit jeder Dritte – unter der Steuerschwelle bleibt und gar keine Einkommensteuer mehr zahlt. Die rein vermögensbezogenen Steuern in Deutschland liegen hingegen mit 0,9 Prozent des Bruttoinlandsprodukts im internationalen Vergleich gerade einmal bei der Hälfte des Durchschnitts.

Zu der lang andauernden Debatte um eine Vermögenssteuer sei an dieser Stelle jedoch – neben dem abermaligen Hinweis auf eine damit einhergehende Verkomplizierung des Steuersystems – nur so viel angemerkt: Zwar nimmt das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) an, dass eine einprozentige Vermögensabgabe dem Fiskus über 20 Milliarden Euro in die Kassen spülen könnte. Andererseits weist das DIW aber auch darauf hin, dass das globalisierte Kapital längst nicht mehr an nationalstaatliche Grenzen gebunden ist. Einen guten Eindruck davon, wie einfach es ist, große Vermögen ganz legal „offshore“ zu transferieren, liefert ein Artikel mit dem passenden Titel „Die Fluchthelfer“ in der Zeit vom Dezember 2009: Demnach ist eine Staatsbürgerschaft im karibischen Low-Compliance und Low-Tax-Paradies St. Kitts im Gegenzug für eine „Spende“ in Höhe von gerade einmal 250.000 Dollar erhältlich.

Eine isolierte Steuerdebatte wird, zumal unter der Bedingung entgrenzter Kapitalmärkte, keine befriedigende Antwort auf die Frage liefern, wie sich die soziale Kluft im Land schließen lässt. Es bedarf vielmehr einer ganzheitlichen Betrachtung – und nicht weniger als eines gesellschaftlichen Mentalitätswandels: „Schaff und erwirb, zahl Steuern und stirb“ lautete das Motto rechtschaffener früherer Generationen. In unserer polyglotten und ungleich reicheren Gesellschaft sollte es hingegen heißen: „Learn, earn, and return“. Ebenso wünschenswert wie zeitgemäß ist eine aktive gesellschaftliche Verantwortung Vermögender. Der Begriff „Vermögen“ ist in einem umfassenden Sinne zu verstehen – auch als Verpflichtung, sich einzubringen. Ein jeder vermag etwas zu tun; sei es mit Geld, mit Zeit, mit Ideen.

Mit dieser neuen Verantwortungskultur ließen sich auch die Erkenntnisse der in den vergangenen Jahren populär gewordenen „Economics of Happiness“ berücksichtigen, besonders im Hinblick auf sehr große materielle Vermögen. Denn: Persönlicher Reichtum hat einen individuellen Grenznutzen, was möglicherweise sogar für gesellschaftlichen Wohlstand gilt. Überfluss und Konsum machen nicht zwangsläufig glücklicher. Einen Grund dafür hat der Stifter Hasso Plattner einmal treffend in dem Satz zusammengefasst: „Je mehr man in seinen Konsum investiert, desto kleiner wird man in seinem Konsumpalast.“ Auch für großzügig abgefundene Ex-Manager scheint das „wohlverstandene Eigeninteresse“ ein zunehmend wichtiges Motiv zu sein. Oder war es nur öffentlicher Druck, der jüngst zu einigen prominenten Spenden und Zustiftungen in Millionenhöhe führte?

Interessanterweise sind gerade die Vereinigten Staaten – in Fragen von Vermögen und deren Verteilung sonst zu Recht skeptisch beäugt – beim philanthropischen Einsatz großer Privatvermögen weiter. Dort gehört es geradezu zum guten Ton, sich als Mäzen zu „entreichern“: „Die größte Auszeichnung für einen Philanthropen ist es, wenn der Scheck vom Beerdigungsinstitut zurückkommt, weil er nicht gedeckt ist“, sagt etwa Michael Bloomberg, Bürgermeister von New York, der ein Milliarden-Vermögen sein Eigen nennt. Und Bill Gates, auch in Sachen Stiftungsengagement zur amerikanischen Benchmark avanciert, hat bereits 8 Milliarden Dollar für wohltätige Zwecke ausgegeben. Noch zu Lebzeiten möchte er 95 Prozent seines auf etwa 50 Milliarden Dollar geschätzten Vermögens sozial investieren, und nur 0,02 Prozent davon an seine drei Kinder vererben.

In Deutschland sind Persönlichkeiten wie die SAP-Gründer Hasso Plattner und Klaus Tschira, die den größten Teil ihrer Vermögen bereits gestiftet haben, eher noch Einzelfälle. Sie stehen aber beispielhaft für die zunehmende Zahl der „guten Reichen“, die ihrem materiellen Vermögen einen immateriellen Sinn beigeben möchten. „Emotionale Rendite“ nennt der Stifter Roland Berger treffend das dahinter stehende Motiv.

Für diese nicht – oder zumindest: weniger – gewinnorientierten Marktteilnehmer wurde in der Ökonomie das klassische Modell des „Return on Investment“ erweitert. Ende der neunziger Jahre hielt der „Social Return on Investment“ auch im deutschsprachigen Raum Einzug. Es handelt sich um ein Modell sozialer Investitionsrechnung, mit dem der gesellschaftliche Mehrwert sozialer Projekte abgebildet werden kann. Solche Methoden sind ein Beitrag zu mehr Transparenz und Wirkungsmessung im gemeinwohlorientierten Sektor, die wiederum wichtige Voraussetzungen für mehr strategisch ausgerichtete soziale Investitionen sind. Jedes Jahr werden in Deutschland Milliarden Euro gespendet – ob immer in sinnvoller Weise, muss leider bezweifelt werden. Die riesigen Spenden, die nach dem Tsunami in Südostasien 2004 eingesammelt wurden, sind bis heute nicht vollständig abgerufen worden. Manche Hilfsorganisation war mit den enormen Summen schlicht überfordert, während es nach anderen Katastrophen am Nötigsten fehlt. Und selbst im deutschen Stiftungssektor muss die Frage gestellt werden, ob wirklich jede Neuerrichtung sinnvoll ist. Einerseits ist zwar zu begrüßen, dass die Zahl der Stiftungen prosperiert. Jedes Jahr kommen an die 1.000 neue Stiftungen hinzu, und nach Expertenschätzungen denken noch einmal fünf- bis zehnmal so viele Menschen darüber nach, zumindest einen Teil ihres Vermögens in eine Stiftung einzubringen. Doch anderseits bleiben viele dieser Organisationen unterkapitalisiert oder dienen schlicht selbstreferenziellen Zwecken. Auch hier könnten mehr Transparenz und Methoden der Wirkungsmessung von Projekten helfen, Ressourcen effizient zu gebrauchen und andere Vermögende dazu bewegen, ebenfalls gemeinnützig aktiv zu werden.

Auf die Selbstwirksamkeit kommt es an

Hinzu kommt ein motivierender psychologischer Effekt: Einer der stärksten Beweggründe für jede Form des Engagements ist die Erfahrung von Selbstwirksamkeit. So könnte größere Transparenz dazu beitragen, dass noch mehr Stifter „nicht als Repräsentanten einer exklusiven Kultur, sondern als verantwortungsvolle und gemeinwohlorientierte Anstifter und nicht zuletzt als Vorbilder in der Öffentlichkeit“ fungieren würden, wie es der ehemalige Bundespräsident Horst Köhler einmal formuliert hat. Und im Gegenzug wäre es ebenso wünschenswert, dass die Gesellschaft dieses Engagement auch entsprechend würdigen würde. Zu dem skizzierten gesellschaftlichen Mentalitätswandel sollte eine stärkere Anerkennungskultur selbstverständlich dazugehören.

Auch auf der Ebene der Verwaltung und der politischen Akteure gibt es eine ganze Reihe weiterer Stellschrauben, die zu dem skizzierten Mentalitätswandel beitragen können. Eine Schlüsselstellung haben hierbei die weitgehend im Verborgenen wirkenden Stiftungsaufsichten, die das Stiftungsvermögen in Höhe von insgesamt 100 Milliarden Euro in Deutschland kontrollieren. Neben der schon erwähnten Transparenz ließen sich etwa Innovationen und Unternehmergeist im Stiftungsbereich aktiv fördern. Allein die Bildung von Netzwerken und die Unterstützung bei der Koordination kleinerer Stiftungen mit ähnlichen Zwecken könnte eine enorme Wirkung entfalten.


Eine weitere Schlüsselrolle hat der Gesetzgeber. So ist bei der Erstdotation von Stiftungen derzeit lediglich ein Betrag von insgesamt einer Million Euro steuerlich absetzbar, was für sehr vermögende Menschen ein nur geringer steuerlicher Anreiz ist. Auch wenn die Nutzung der Kapitalerträge an den Stiftungszweck und damit letztlich an den Willen des Stifters gebunden ist, wird das Kapital der Stiftung trotzdem dauerhaft für das Gemeinwesen nutzbar gemacht. Vielleicht müsste nur einmal der ewige „Social Return on Investment“ beispielsweise der Sozialstiftung Fuggerei in Augsburg, einer der ältesten Stiftungen Deutschlands, berechnet werden, damit dies noch mehr Menschen erkennen. Wohlgemerkt, wir sprechen hier von echten Stiftungen und nicht von Liechtensteiner Konstruktionen, mit denen dem deutschen Fiskus Gelder vorenthalten werden sollen. Auch eine steuerliche Besserstellung von Stiftungs-Holdings, mit denen sich die allgemeinen Verwaltungskosten senken ließen, die Förderung der Gründung von Gemeinschaftsstiftungen oder die staatliche Prämierung von Best-Practice-Stiftungsaktivitäten sind Ideen, die zum Weiterdenken anregen könnten.

Mit dem zuletzt genannten Vorschlag verbunden ist übrigens auch die Frage, was dem Gemeinwohl dient, oder, noch weiter gefasst, was genau sich eigentlich hinter dem Begriff „Gemeinwohl“ verbirgt. Auch dies ist eine durchaus konfliktträchtige Diskussion. Jedenfalls sollte die Debatte über das Vermögen von Menschen in Deutschland nicht mehr länger auf Fragen von haben oder nicht haben, auf arm oder reich, auf oben oder unten und auf Steuern und Abgaben verengt werden. Jeder Mensch verfügt über ein Vermögen, und wir alle sind gefordert, es zum Wohle der Allgemeinheit einzubringen – der eine mehr, und der andere sogar noch ein bisschen mehr. «

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