Warum Europa ohne eindeutige Ziele nicht vorankommt

Die Lissabon-Strategie sollte Europa zum dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt machen. Das hat nicht geklappt. Darum muss die Nachfolgestrategie "Europa 2020" verbindliche Ziele und verbindliche Verfahren festlegen - und Europa zu einer wirklichen Sozialunion machen

Die Wirtschafts- und Finanzkrise war ein Weckruf für Europa. Eine politische Ideologie ist grandios gescheitert, die das Zurückdrängen des Staates forderte, den unbedingten Glauben an den Markt beschwor und eine Wirtschaft förderte, die fiktive Zahlen produziert, statt tatsächliche Werte zu schaffen. Gleichzeitig hat die Lissabon-Strategie der EU ihr Ziel verfehlt, Europa zum dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt zu machen. Die Botschaft ist eindeutig: Die Wachstumsbegriffe von einst sind überholt. Wer sich allein auf die wirtschaftliche Entwicklung konzentriert, der verkennt, dass unsere modernen Industriegesellschaften in einer globalisierten Welt nur mit einer nachhaltigen Wirtschaftspolitik und einer stärkeren Koordinierung der Sozialpolitik auf europäischer Ebene erfolgreich sein können.

In Europa müssen wir auf eine Reihe von Fragen Antworten finden: Wie können unsere Gesellschaften ihren Wohlstand im globalen Wettbewerb erhalten? Wie reagieren wir auf die Alterung der Bevölkerung? Wie kann die Integration aller Bevölkerungsgruppen gelingen? Was folgt aus dem Wandel der klimatischen Bedingungen? Fest steht: Wachstum nach herkömmlichem Verständnis und ein Binnenmarkt, der ausschließlich auf Wettbewerb und Bürokratieabbau ausgerichtet ist, reichen als Antworten nicht aus. Die Lissabon-Strategie ist auch deshalb nicht erfolgreich gewesen, weil sie zu unverbindlich war, weil die Mitgliedsstaaten nicht wirklich an einer gemeinsamen Politik interessiert sind und weil die einzelnen Politikbereiche nicht kohärent aufeinander abgestimmt wurden. Auch waren die Sozialpartner und die Parlamente (die nationalen wie das Europäische Parlament) nur ungenügend eingebunden.

In dieser Situation hat die europäische Sozialdemokratie die Chance, Lehren aus der Vergangenheit zu ziehen und ein Modell für das 21. Jahrhundert zu formulieren, das eine starke Wirtschaft mit sozialem Fortschritt und dem nachhaltigen Umgang mit Ressourcen verknüpft. Genau deshalb hat die SPD-Bundestagsfraktion frühzeitig und in enger Zusammenarbeit mit der Sozialdemokratischen Partei Europas sowie den sozialdemokratischen Mitgliedern des Europäischen Parlaments ihre Erwartungen an die neue EU-Strategie „Europa 2020“ formuliert und zur Diskussion gestellt. Zentrale Forderungen sind, endlich verbindliche Ziele zu vereinbaren und einen Gleichklang von Wirtschafts-, Beschäftigungs-, Sozial- und Umweltpolitik zu erreichen – es geht also um eine Strategie aus einem Guss. Maßnahmen für gute Bildung und eine effektive Kontrolle der Finanzmärkte, die Verbesserung der Qualität der Arbeit, der Kampf gegen Armut und der Einsatz für die Umwelt müssen gleichberechtigte Bestandteile einer solchen Strategie sein. Nur wenn uns das gelingt, können wir die politische Deutungshoheit in Europa zurückgewinnen. Und nur so ist Europa ein Modell und ein Vorbild für andere Teile der Welt.

Erfolg nur durch sozialen Fortschritt

Erfolgreich kann eine Wirtschaftsstrategie nur sein, wenn auch soziale Fortschritte erzielt werden. Das Credo von Konservativen und Liberalen, dass soziale Maßnahmen die Wirtschaft behindern und so dem Fortschritt schaden, hat ausgedient. Menschen, die von ihrer Arbeit leben und ihre Familien versorgen können, die Planungssicherheit haben und sich in ihrer Arbeit wohl fühlen, sind der beste Erfolgsgarant für Unternehmen und Betriebe. Deshalb muss die Politik der Wirtschaftsunion in Europa endlich eine gleichrangige Sozialunion an die Seite stellen, die diesen Namen auch verdient. Der Wohlstand einer Gesellschaft drückt sich nicht nur in der Anzahl der Menschen aus, die einen Arbeitsplatz haben, sondern auch darin, unter welchen Bedingungen diese Menschen arbeiten. Die Förderung einer abstrakten Beschäftigungsquote ist keine Antwort auf unser größtes Problem, dass viele Menschen von ihrer Arbeit nicht leben können. Wir müssen eine qualitative Verbesserung der Arbeit erreichen. Doch all dies fehlt in den bisherigen Vorschlägen der Barroso-Kommission und den Beschlüssen des Europäischen Rats für die Strategie „Europa 2020“ vollkommen.

Die SPD dagegen fordert konkrete Maßnahmen für ein soziales Europa: einen sozialen Stabilitätspakt und garantierte Mindesteinkommen, Mindestlöhne und Entgeltgleichheit für Frauen und Männer in der gesamten Europäischen Union. Auch auf dem Gebiet der Gleichstellung von Männern und Frauen in der EU, etwa bei der Besetzung von Führungspositionen, erreichen wir nur dann Fortschritte, wenn wir uns auf konkrete Ziele verständigen. Ohne eindeutig festgelegte Ziele und klare Verfahren zur Überprüfung des  Erreichten bleiben alle getroffenen Maßnahmen bloße Ankündigungen. Daran scheiterte nicht zuletzt die Lissabon-Strategie. Wir wollen in allen Bereichen der Strategie „Europa 2020“ eine eindeutige Verpflichtung auf die gemeinsamen Ziele mit der Möglichkeit, Verstöße zu sanktionieren. Wie europäische Zielvorgaben auch national positive Anreize entfalten und soziale Rahmenbedingungen verbessern können, zeigen die Beschäftigtenzahlen älterer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die in Europa von 37 Prozent im Jahre 2000 auf fast 46 Prozent im Jahr 2008 gestiegen sind – und in Deutschland parallel von 37,6 auf 53,8 Prozent. Eine koordinierte Sozial- und Beschäftigungspolitik kann in Europa die Lebensumstände von Millionen Menschen verbessern.

Bundeskanzlerin Angela Merkel und die schwarz-gelbe Bundesregierung haben kein Konzept und keine Vision für Europa. Statt die Debatte um die Zukunft Europas mit eigenen Vorschlägen mitzubestimmen und den Einfluss Deutschlands als größtem Mitgliedsland der EU zu sichern, regiert in Berlin „Frau Nein“. Die Vorschläge der Kommission wurden überwiegend abgelehnt oder ignoriert, der deutsche Akzent ist das „Nein“ zu einem gemeinsamen Ziel bei der Reduzierung der Armut und zu Zielen in der Bildungspolitik. Deutschland war immer der Motor der europäischen Integration, jetzt wird es zum Bremsklotz. Es ist unverständlich, warum das von der Europäischen Kommission vorgeschlagene Ziel, 20 Millionen Menschen aus der Armut zu führen, von der Bundesregierung abgelehnt wird. Es ist eine europapolitische Bankrotterklärung. Dabei genügt ein Blick auf die Zahlen, um zu erkennen, wie dringend Europa hier handeln müsste. Rund 16 Prozent der europäischen Bürgerinnen und Bürger haben nicht genügend Mittel, um grundlegende Bedürfnisse zu befriedigen. In der EU leben 79 Millionen Menschen unterhalb der Armutsgrenze, darunter 19 Millionen Kinder. Frauen, vor allem alleinerziehende Mütter sind von Armut stärker betroffen als Männer. Auf die materiellen Einbußen folgt der Verlust der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. In einem demokratischen und sozialen Europa dürfen wir dies nicht hinnehmen.

Für die deutsche Sozialdemokratie ist klar: Europa muss mehr tun, um Armut zu bekämpfen und sozialer Ausgrenzung entgegenzuwirken. Das Jahr 2010 ist das Europäische Jahr zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung. Wir müssen das Bewusstsein für die Lage armer Menschen schärfen, ihren Zugang zu Rechten, Ressourcen und Dienstleistungen fördern und gleichzeitig Stereotype und Stigmatisierungen bekämpfen. Die Stärkung des sozialen Zusammenhalts ist eine Aufgabe der ganzen Gesellschaft. Armutsbekämpfung zum gemeinsamen Ziel europäischer Politik zu machen, wäre ein deutliches Zeichen, dass die Botschaft des Europäischen Jahres verstanden wurde. Schwarz-Gelb belässt es leider bei Sonntagsreden und vagen Ankündigungen.

Auf dem Gebiet der Wirtschaft und Finanzen müssen wir die politischen Lehren aus der Krise ziehen, um eine Wiederholung für die Zukunft auszuschließen. Wir müssen die Regulierung der Finanzmärkte verstärken, eine globale Transaktionssteuer einführen und die Koordinierung der Finanzaufsichtsbehörden verbessern. Ein ausreichend finanzkräftiger Staat ist dafür die wichtigste Voraussetzung. Das Ausbluten des Staates durch Steuersenkungen macht die Länder Europas zum Spielball von Spekulanten und unterminiert unsere Anstrengungen für Wachstum und Beschäftigung.

Gemeinsame Bildungsziele für ganz Europa

Wirtschaftliche Stärke und weniger Armut setzen voraus, dass in ganz Europa mehr in Bildung investiert wird. Deshalb ist es richtig, sich in Europa gemeinsame Ziele auch in der Bildung zu setzen, zum Beispiel weniger Schulabbrecher und mehr Hochschulabschlüsse. Sich darauf zu einigen, beschneidet übrigens keineswegs die Kompetenz der Bundesländer.

Nicht zuletzt müssen all diese Anstrengungen transparent und unter Einbeziehung der Öffentlichkeit erfolgen. Das Europäische Parlament, die nationalen Volksvertretungen, die Sozialpartner und die Zivilgesellschaft müssen mitwirken und beteiligt werden, um „Europa 2020“ zum Erfolg zu führen. Die Zusammenarbeit aller sozialdemokratischen Parteien in Europa ist dabei von besonderer Bedeutung und muss weiter intensiviert werden. Wir können uns nicht damit abfinden, dass nur ein Drittel der Mitgliedsländer der Europäischen Union von sozialdemokratischen Regierungen geführt wird. Ein starkes und soziales Europa braucht eine starke und erfolgreiche Sozialdemokratie.

Das Sozial- und Wirtschaftsmodell Europas kann gerade in der globalen Krise für den Ausgleich von Markt und Staat, Arbeit und Kapital beispielhaft sein. Wenn es uns gelingt, eine nachhaltige Strategie für Wachstum, Beschäftigung und Wohlstand zu verwirklichen, dann stärken wir nicht nur das Ansehen Europas in der Welt. Wir versetzen auch die Europäische Union in die Lage, im internationalen System als positive Kraft zu wirken. Von der internationalen Kooperation beim Umwelt- und Klimaschutz bis hin zur Entwicklungszusammenarbeit und zur Förderung von Menschen- und Bürgerrechten kann ein starkes Europa positive Impulse geben.

Die Strategie der Europäischen Union muss Antworten formulieren, die dieser Zukunft gewachsen sind. Der Entwurf der SPD für die Strategie „Europa 2020“ zeigt einen Weg, der Wachstum und Beschäftigung fördert, Wohlstand mehrt und die Lebensqualität aller Europäerinnen und Europäer verbessert. Unter der spanischen Ratspräsidentschaft besteht eine gute Chance, diese Vorschläge in konkrete Politik umzuwandeln. «

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