War die Haustürkampagne ein Schuss in den Ofen?

Der Plan der SPD, im Wahlkampf frühere Wähler massenweise mittels Hausbesuchen zu mobilisieren, ging nicht auf. Klar ist jetzt: Eine vermurkste Kampagne ist auf diese Weise nicht zu drehen. Dennoch sollte das gerade erst eingeweihte Instrument nicht gleich wieder in die Rumpelkammer entsorgt werden

Auf dem Dresdner Parteitag 2009 appellierte Sigmar Gabriel an seine Partei, wieder stärker auf die Menschen zuzugehen, ihre Probleme ernst zu nehmen und verkrustete Parteistrukturen aufzubrechen. „Wir müssen raus ins Leben, dahin, wo es laut ist, manchmal riecht, gelegentlich auch stinkt“, rief er den Delegierten zu. Vier Jahre später zog der SPD-Vorsitzende auf dem Parteitag in Leipzig eine ernüchternde Bilanz. Gabriel diagnostizierte eine tiefer werdende Kluft zwischen dem Innenleben der SPD einerseits und den Wünschen, Sorgen und Bedürfnissen der sozialdemokratischen Wählerschaft andererseits.

Dabei hatte sich die SPD durchaus um Bürgernähe bemüht: Auf den „Bürgerdialog“ im Herbst 2012 folgte ein aufwendiger „Bürgerkonvent“ im Frühjahr 2013. Im Bundestagswahlkampf setzte die Partei auf dialogorientierte Auftritte des Spitzenkandidaten statt auf die üblichen Großveranstaltungen. Vor allem aber stach der bundesweite Haustürwahlkampf hervor, bei dem Freiwillige an fünf Millionen Türen klingelten und für die SPD warben.

Zweifellos dienten der SPD die beiden erfolgreichen Kampagnen Barack Obamas als Vorbild: Ein hochprofessionalisiertes „Canvassing“ hatte 2008 und 2012 wichtige Wählergruppen mobilisiert und ihm mit den Siegen in entscheidenden Swing-States seine (Wieder-)Wahl gesichert. Zudem hatte die Parti Socialiste im französischen Präsidentschaftswahlkampf im vergangenen Jahr vorgemacht, dass sich das angloamerikanische Konzept auch in „Old Europe“ erfolgreich anwenden lässt.

Eine Partei, die nachfragt und zuhört

Mit dem Haustürwahlkampf verfolgte die SPD zwei wesentliche Ziele: Erstens sollten möglichst viele derjenigen Wählerinnen und Wähler zurückgewonnen werden, die sich bei der vorangegangen Bundestagswahl in die Nichtwählerschaft verabschiedet hatten. Zweitens wollte sich die SPD als eine Partei präsentierten, die nachfragt, zuhört und ihre Wähler ernst nimmt. Der Haustürwahlkampf erhielt dabei innerhalb der SPD-Kampagne eine hervorgehobene Stellung; in der Vorwahlkampfphase bezeichnete Sigmar Gabriel den Klingelknopf gar als wichtigstes technisches Hilfsmittel der SPD.

Im Wahlkreis Erfurt und Weimar, in dem die Autoren für den Haustürwahlkampf verantwortlich waren, fiel das neue Kampagnenelement auf fruchtbaren Boden. Schon bei den vergangenen Kommunalwahlen hatte die Partei erste Erfahrungen damit gesammelt. Überdies lieferte das Ergebnis der Bundestagswahl 2009 stichhaltige Gründe, den Haustürwahlkampf zu intensiveren: Nach beachtlichen Wahlerfolgen in den Jahren 1998, 2002 und 2005 hatte die SPD im Jahr 2009 in Erfurt und Weimar mehr als 12 Prozentpunkte an Zweitstimmen eingebüßt. Die Wahlbeteiligung war um 9 Prozentpunkte gesunken, während die Linkspartei deutlich zulegen konnte – vor allem in den Plattenbausiedlungen.

Ehrliche Evaluation ist unabdingbar

Genau diese Wohngebiete identifizierten wir mithilfe eines Indizes als primäre Zielgebiete. Nach einigen Schulungen und zahlreichen Testläufen schwärmten die Freiwilligen in der heißen Phase sieben Wochen lang aus, jede Woche in einen anderen Stadtteil Erfurts und Weimars. Um den Bedarf an längeren Gesprächen zu decken, luden die Teams bei allen Haustürgesprächen zu Diskussionsmöglichkeiten mit dem Wahlkreiskandidaten und dem Oberbürgermeister am Ende der jeweiligen Woche ein, und zwar vor Ort im Viertel. Anfangs machten eher die Jüngeren mit, aber zunehmend begeisterten sich auch erfahrene Wahlkämpfer für die Haustürkampagne. Schließlich ging ein Team von über 40 Freiwilligen, mit und ohne Parteibuch, in Erfurt und Weimar von Tür-zu-Tür. Mit dem Ergebnis hatte angesichts der überschaubaren ostdeutschen Parteistrukturen kaum jemand gerechnet: Die Freiwilligen beider Kreisverbände klingelten bis zum Wahltermin an mehr als 50 000 Türen, sie führten dabei etwa 17 500 Gespräche (rund 35 Prozent der Türen wurden geöffnet) und erreichten somit jeden vierten Erfurter Haushalt sowie neun von zehn Weimarer Türen.

Nach einem kräftezehrenden Sommer folgte am Abend des 22. September die Ernüchterung. Nicht nur gingen alle Thüringer Wahlkreise mit deutlichem Abstand an die CDU, auch das bundesweite Ergebnis blieb mit 25,7 Prozent weit hinter dem Erhofften zurück. Mit Blick auf die Wählerwanderungen bleibt festzuhalten: Das Ziel, bundesweit im großen Stil Nichtwähler zu mobilisieren, verfehlte die SPD eindeutig. Während die Wahlbeteiligung im Vergleich zu 2009 nahezu stagnierte, entschieden sich infratest dimap zufolge gerade einmal 360 000 ehemalige Nichtwähler für die SPD, während die Union aus diesem Lager 1 130 000 Stimmen für sich gewinnen konnte. Die bescheidenen Zugewinne der SPD erklären sich vor allem durch die Schwäche der Grünen und der FDP, die jeweils über eine halbe Million Wähler in Richtung SPD verloren.

Trotz dieses schlechten Resultats wäre es fatal, die Wahlkampagne nach dem Motto „mitgehangen, mitgefangen“ schnurstracks in den Papierkorb zu werfen und einfach wieder zum Alltag überzugehen. Stattdessen ist es dringend geboten, neben den Positionen und dem Personal auch die verschiedenen Wahlkampfelemente kritisch auf ihren Beitrag zur Wahlniederlage abzuklopfen. Eine ausführliche Evaluation der Tür-zu-Tür Kampagne, jenseits des im Wahlkampf verbreiteten Storytellings ausgewählter Positivbeispiele, ist gerade angesichts des immensen Organisationsaufwands und hohen personellen Einsatzes unabdingbar.

Die Effektivität der Haustürkampagne wurde aus zwei Richtungen unterminiert: Erstens bestand bereits mit dem Eintritt in die Phase erhöhter gesellschaftlicher Wahrnehmung des politischen Geschehens keinerlei glaubwürdige Machtperspektive jenseits der Großen Koalition. Dadurch wurde es immer schwieriger, potenzielle Wähler aus dem Lager der Merkel-Gegner durch Hausbesuche zu mobilisieren. Wer aber mit einer Großen Koalition gut leben konnte, entschied sich gleich für die Union. Zweitens war Spitzenkandidat Peer Steinbrück gerade der Hauptzielgruppe des Haustürwahlkampfes schlicht nicht vermittelbar. Hierzu leistete neben individuellen Fehlern gewiss auch ein systematisches Negativframing der deutschen Medien einen wesentlichen Beitrag. Immer wieder machten die Bürger den Haustürwahlkämpfern deutlich, sich aufgrund des Spitzenkandidaten gegen die SPD entschieden zu haben. Leider stützt auch die Wahlanalyse diese subjektiven Erfahrungen: Gerade einmal ein Fünftel der sozialdemokratischen Wählerschaft (21 Prozent) entschied sich wegen Peer Steinbrück für die SPD. Angela Merkels Popularität hin oder her – für einen Kanzlerkandidaten ist das zu wenig.

Überforderte Mitstreiter, schwache Zentrale

Ebenso ist naheliegend, dass der Haustürwahlkampf die SPD-Basis in einigen Fällen überrumpelte oder gar überforderte. Zumindest die Wahlkreise ohne solide Strukturen hauptamtlicher Mitarbeiter standen vor immensen organisatorischen Herausforderungen. Zudem stellte sich das neugeschaffene Online-Portal „mitmachen.spd.de“, welches das Freiwilligenmanagement eigentlich erleichtern sollte, als wenig praxistauglich heraus. Im Ergebnis setzten die Wahlkreise die Haustürkampagne in äußert unterschiedlicher Weise um, wodurch die SPD mutmaßlich viel Potenzial verschenkte.

Gerade vor diesem Hintergrund sind quantitative Einsichten über die Wirkungsweise des Haustürwahlkampfes dringend notwendig. Einen wirklichen Erkenntnisgewinn kann dabei nur eine Auswertung auf Bundesebene liefern. Jedoch ist unklar, ob überhaupt bundesweit nachvollzogen werden kann, in welchen Wahlbezirken Freiwillige aktiv waren. Ein einzelner Wahlkreis verfügt allerdings nicht über genügend Wahlbezirke, um den statistischen Einfluss rein zufälliger Schwankungen ausreichend zu reduzieren, weshalb die Daten aus Erfurt und Weimar keine verallgemeinerbaren Schlüsse zulassen. Als Indiz lässt sich lediglich festhalten, dass es uns entgegen des negativen Trends in Ostdeutschland gelang, im Vergleich zu 2009 mehr als 3 000 Erststimmen dazuzugewinnen und auch bei den Zweitstimmen leicht zuzulegen.

Kein Wundermittel, aber ausbaubar

Wesentlich systematischer gingen die Organisatoren des Haustürwahlkampfs 2012 in Frankreich vor. Im Nachgang der Präsidentschaftswahlen analysierte dort Vincent Pons die Ergebnisse von 22 500 Wahlbezirken. Demnach entschieden sich etwa sechs Prozent der angesprochenen Wähler aufgrund des Kontakts an der Tür für die Wahl François Hollandes. Obwohl sich dieses Ergebnis nicht exakt auf die Bundestagswahl übertragen lässt, liefert es immerhin einen Anhaltspunkt dafür, was unter besseren Rahmenbedingungen möglich ist: Geht man davon aus, dass sich jede dritte Tür öffnet, ergibt sich bei fünf Millionen besuchten Haushalten für die SPD ein Zugewinn von etwa 100 000 Stimmen. Hinzu kommen schwer messbare Zweitrundeneffekte durch Mundpropaganda. Nach dieser Rechnung könnte der Haustürwahlkampf zu einem Stimmenzuwachs von bis zu einem Prozentpunkt führen. Was zunächst nach wenig klingt, ist nicht zu unterschätzen – man bedenke nur die vier Mandate, die der Union zur absoluten Mehrheit fehlen. Trotzdem: Ein Wundermittel, das eine vermurkste Kampagne im Alleingang zu drehen vermag, ist der Haustürwahlkampf nicht.

Rechtfertigt nun der mögliche Effekt an den Wahlurnen den gewaltigen Aufwand, der vor und während des Wahlkampfes betrieben wurde? Bei der Beantwortung dieser Frage dürfen wir das zweite Ziel des Haustürwahlkampfes nicht vergessen: ein klares Zeichen für eine lebendige Mitgliederpartei zu setzen.

Ohne Zweifel fand die SPD mit dem Haustürwahlkampf erfolgreich Eingang in die öffentliche Berichterstattung. Allerdings: Gutes Marketing allein reicht für eine langfristige Neuausrichtung der Partei nicht aus. Entscheidend ist vielmehr, wie die SPD das millionenfach an den Haustüren abgegebene Versprechen einlöst, die Meinung des Gegenübers ernsthaft zu berücksichtigen. Bisher zumindest fehlt ein Kanal, durch den die Botschaften der zahlreichen Gespräche ihren Weg in die parteiinternen Diskussionen finden. Um den Dialog an der Haustür glaubwürdig fortzusetzen, müssen Parteimitglieder zudem auch außerhalb von Wahlkämpfen vor Ort unterwegs sein. Ohne weitreichende Unterstützung aus dem Willy-Brandt-Haus ist dies gleichwohl unrealistisch.

Die denkbar schlechteste Entscheidung der SPD wäre allerdings, den Haustürwahlkampf zu einer Showveranstaltung verkommen zu lassen. Gelingt nämlich die Transformation vom reinen Kampagnenelement hin zu einem wirklichen Dialogformat, ergäbe sich die einmalige Gelegenheit, als erste Partei wirklich ernst zu machen mit Transparenz und Partizipation. Statt in exklusiven Genossenzirkeln unter sich zu bleiben, könnte sich die SPD für Nicht-Mitglieder öffnen und zugleich auf ihre Wählerschaft zugehen. Die Partei hat also die Chance, verloren gegangenes Vertrauen zurückzugewinnen und sich wieder stärker in der Gesellschaft zu verankern. Eine Chance, die sie nicht vergeben sollte.

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