Wahlkampf für die Zukunft

Europas Progressive suchen in den USA nach Ideen für ihre Kampagnen. Doch die Bedingungen dort sind völlig anders. Voneinander lernen lässt sich dennoch

Auch wenn sie bei den jüngsten Wahlen sehr unterschiedliche Ergebnisse erzielt haben: Progressive in Deutschland und in den USA werden von einem gemeinsamen positiven Trend begünstigt. In beiden Ländern neigen die Jüngeren zu fortschrittlichen Haltungen und teilen damit die Wertvorstellungen der traditionellen Fortschrittsparteien der linken Mitte: in den USA die Demokratische Partei und in Deutschland die SPD. Dies ist ein entscheidender Faktor, denn wenn die progressiven Parteien auf der Grundlage eines auf die Zukunft ausgerichteten Programms authentisch für sich werben möchten, dann müssen sie die jüngeren Generationen als ihre wichtigste Wählergruppe ansprechen.

Zum Leidwesen der deutschen Sozialdemokraten lässt sich die Wertebasis, die sie mit der jungen Generation im Land teilt, nicht automatisch in Wählerstimmen aus dieser Gruppe ummünzen. Junge Leute empfinden den Politikstil innerhalb der SPD oft als überholt und sklerotisch. Zunehmend fühlen sie sich hingezogen zu innovativen, flexiblen und weniger hierarchischen Bewegungen wie den Grünen, den Freien Demokraten und in manchen Fällen zu Kampagnengruppen im Internet.

Darum haben viele Sozialdemokraten nach Inspiration in Amerika und bei der Obama-Kampagne gesucht. Zwar zog die Demokratische Partei junge Wähler noch vor kurzem scheinbar magnetisch an, inzwischen aber fällt es ihr bereits schwerer, den im Wahlkampf 2008 generierten Enthusiasmus in dauerhafte Kraft für den progressiven Wandel im Land zu überführen. Die Kongressdebatten über das Konjunkturpaket, die Gesundheitsreform und die Truppenaufstockung in Afghanistan hat die „Millennium-Generation“ im vorigen Jahr nicht mehr mit dem zuvor gewohnten Engagement begleitet. Im ersten Jahr seiner Amtszeit hat Obama so gut wie nichts unternommen, um das Engagement der Jüngeren, das er während des Wahlkampfs entfacht hatte, aufs Neue anzuspornen. Einiges deutet darauf hin, dass Amerikas Jugend trotz ihrer überwältigenden elektoralen Unterstützung für Obama heute weniger denn je mit herkömmlicher Parteipolitik zu tun haben will.

Was bedeutet das für die Zukunft von Wahlkampf und politischer Organisation? Beim Vergleich der Parteien und Wahlkämpfe auf beiden Seiten des Atlantik ist ein Gegensatz zu beachten: In Europa sind politische Parteien stärker institutionalisiert und weniger flexibel. Das macht es ihnen erheblich schwerer, neue Technologien und Wahlkampftechniken in ihre Organisationsstruktur zu integrieren. In den USA hingegen ist die Infrastruktur der Parteien minimal und die meisten Wahlkämpfe werden um Personen herum gestrickt. Deshalb wird die politische Infrastruktur der Kampagne sui generis für den jeweiligen Kandidaten aufgebaut. Dies erlaubt einerseits zwar die Verwendung ausgefeilter Organisationsmethoden. Andererseits ist es aber viel schwieriger, diese Bewegung nach dem Wahlkampf mit der Partei in Einklang zu bringen. Darüber hinaus eignen sich die Organisationstechniken, die für Wahlkämpfe verwendet werden, nicht immer für den „permanenten Wahlkampf“ einer Regierungspartei.

Mangelt es an einer gemeinsamen Diskussionsbasis?

Diese unterschiedlichen Situationen oder Entwicklungslinien der amerikanischen Demokraten und der Sozialdemokratischen Parteien in Europa haben einige Kommentatoren zu der Behauptung veranlasst, es mangele an einer gemeinsamen Basis für transatlantische Diskussionen über Wahlkämpfe und Parteienorganisation. Die Erfahrungen der Obama-Kampagne, heißt es, könnten zwar zur Inspiration dienen, nicht aber als Modell herhalten. Dies bedeutet jedoch nicht, dass Wahlkämpfer und Aktivisten von beiden Seiten des Atlantik nicht aus gemeinsamen Diskussionen lernen könnten.

Beispielsweise unternahm der DNC unter Vorsitz von Howard Dean Anstrengungen, eine solidere Infrastruktur der Partei auf nationaler Ebene aufzubauen. Die „50-Staaten-Strategie“ war ein Versuch, die Demokratische Partei in eine nationale Organisation zu transformieren, die im gesamten Land wettbewerbsfähig sein sollte. Hierzu gehörten abgestimmte Bemühungen, die Infrastruktur des DNC in jedem der 50 Staaten aufzubauen und zu festigen. Dahinter stand der Gedanke, dass die Entwicklung der Partei insgesamt ebenso wichtig sei wie individuelle Kandidaten und ihre persönlichen Kampagnen. Dieser Ansatz unterschied sich drastisch von demjenigen, den Rahm Emanuel als Vorsitzender des Democratic Congressional Campaign Committee (DCCC) verfolgte. Emanuel richtete seine Aufmerksamkeit hauptsächlich darauf aus, attraktive Kandidaten für swing seats und aussichtsreiche Sitze ausfindig zu machen und die finanzielle Unterstützung vorrangig diesen Kandidaten zu sichern. Nun steht das DNC vor der Herausforderung, die auf Barack Obama gerichtete persönliche Unterstützung mit der bereits bestehenden und auszubauenden Partei-Infrastruktur zu vermählen. Kurz gesagt: Amerikas Progressive müssen in die stärkere Institutionalisierung – oder „Europäisierung“ – des DNC und der Demokratischen Partei investieren.

Umgekehrt haben die Sozialdemokratischen Parteien in Europa damit experimentiert, ihre Organisationen flexibler zu gestalten. Sigmar Gabriel hat vorgeschlagen, künftig auch so genannten Ein-Punkt-Kampagnen Platz innerhalb der SPD einzuräumen. New Labour strebt an, eine produktivere Kommunikation und Koordination zwischen Mitgliedern und denjenigen Bürgern aufzubauen, die der Partei zwar gewogen sind, aber nicht beitreten möchten. In ganz Europa bemühen sich Sozialdemokratische Parteien, die Macht des Internet und der Technologien sozialer Netzwerke für sich nutzbar zu machen, um damit spezifische Gruppen zu erreichen und die Spendeneinnahmen zu verbessern. Kurz gesagt: Die Europäer müssen in größere Flexibilität und Innovation – oder „Amerikanisierung“ – ihrer politischen Parteien investieren.

Bis heute glauben allerdings einige europäische Sozialdemokraten, die neuen Technologien könnten ohne weiteres, sozusagen als add-on features, an die bereits bestehende Partei-Infrastruktur angedockt werden. Das birgt Gefahren. Denn hier zeigt sich ein Missverständnis davon, auf welche Weise es diese neuen Technologien dem Obama-Wahlkampf ermöglicht haben, ein revolutionäres Modell von Massenorganisation zu kreieren, das auf Zweibahnstraßen-Kommunikation, auf der  Dezentralisation der Taktiken und größerem Vertrauen in Mitglieder und Unterstützer basierte.

Auch wenn amerikanische und europäische Progressive also von sehr unterschiedlichen Ausgangspunkten her kommen, haben sie dennoch allen Grund, mehr gemeinsame Anknüpfungspunkte zu suchen. Das allein sollte eine solide Basis für künftige Diskussionen bieten. Zumindest dürften die Europäer in der Lage sein, fundierten Rat zu den Gefahren zu starker Institutionalisierung zu geben, während die Amerikaner vor den Fallen zu großer Flexibilität ohne institutionelles Gedächtnis warnen könnten.

In den vor uns liegenden Monaten und Jahren sollte der bereits bestehende intensive Dialog über politische Konzepte um verstärkte Zusammenarbeit auf diesem organisationspolitischen Gebiet ergänzt werden. Wir müssen sicherstellen, dass wir Progressiven nicht bloß die besten Ideen dazu haben, wie man in Zukunft regiert, sondern auch im Hinblick auf Wahlkämpfe und Organisation an der Spitze stehen. Ich bin optimistisch: Wenn wir uns den Herausforderungen der kommenden Wahlkämpfe gewachsen zeigen, dann werden wir auch künftige Generationen von Wählern für uns gewinnen. «

Aus dem Englischen von Johanna Lutz

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