Vor der maximalen strategischen Herausforderung

Rot-Grün ist auf der Bundesebene gescheitert. Jetzt muss sich die SPD zwischen zwei riskanten Optionen entscheiden: Will sie die Sammlung des linken Lagers verfolgen? Oder versucht sie, die Hegemonie in der Mitte zu erobern? Tertium non datur

D as wahlpolitische Projekt Rot-Grün ist mit der Bundestagswahl 2013 erst einmal gescheitert. Nun müssen neue strategische Handlungs- und Machtoptionen gesucht werden. Denn auch diesmal blieben Sozialdemokraten und Grüne weit von einer eigenen Mehrheit entfernt. Drei Gründe haben wesentlich dazu beigetragen.

Erstens leben die von vielen bereits tot gesagten Lagerorientierungen der bürgerlichen Wähler fort – messbar über Partei-, Zweit- und Koalitionspräferenzen sowie Stimmensplitting. Natürlich gibt es auch unter ihnen inzwischen mehr Flexible, die Lagergrenzen locker überspringen. Dennoch existieren bei einem Großteil der bürgerlichen Wähler weiterhin lagergebundene Wertepriorisierungen. Allerdings funktionieren die abgrenzenden Lagerorientierungen nicht völlig voraussetzungslos und lassen sich von den politischen Akteuren nicht einfach steuern. Das bürgerliche Lager hat bei der Bundestagwahl einen Vorsprung von 2,5 Millionen (Zweit-)Stimmen erreicht (gerechnet ohne die AfD). Wäre die FDP 0,2 Prozentpunkte stärker gewesen, hätte es eine satte Mehrheit für Schwarz-Gelb gegeben. So gesehen hat die Union mit ihrer Zweitstimmen-Gegenkampagne diesmal etwas untersteuert, während sie bei der Landtagswahl in Niedersachsen übersteuert hatte. Grundsätzlich bleibt das bürgerliche Lager fluide. Allerdings sind die Wähler am 22. September nicht hinreichend bereit gewesen, der FDP ganz ohne Leistungen, inhaltliches Profil und eigene, zukunftsgerichtete Politikangebote ihre Stimme zu schenken. Außerdem hat das neue Wahlrecht Leihstimmen der Unionswähler reduziert. Der Niedergang der FDP dürfte aber nicht von Dauer sein. Eine (starke) personelle und (schwache) inhaltliche Erneuerung wird die Liberalen bald wieder ins Spiel zurück bringen.

Selbstgerechtigkeit siegt über Gerechtigkeit

Zweitens: Zugespitzt standen in diesem Wahlkampf fundamental gegensätzliche Alternativen zur Abstimmung – soziale Gerechtigkeit oder Selbstgerechtigkeit. Die Deutschen haben sich mehrheitlich für die zweite Variante entschieden, obwohl ihnen die soziale Frage ebenfalls wichtig ist. Ihr Euro-Egoismus trägt Züge von Selbstgerechtigkeit. Die Deutschen sind der Auffassung, dass sie als wohlmeinendes Volk von raffgierigen Nachbarn umgeben seien, dass sie bereits genug europäische Solidarität gezeigt hätten, und dass sie, weil sie das Geld geben, auch sagen dürfen, was die Südländer tun sollen. Sie verbitten sich Kritik. Historische Wahrheiten, wie die materiell großzügige Hilfe anderer Nationen nach dem Zweiten Weltkrieg trotz Angriffskrieg und Holocaust, werden dabei gern ausgeblendet. Gegen diese selbstgerechte Haltung, die Merkels Euro-Politik bedient, hatte die innenpolitische Zentralforderung nach mehr sozialer Gerechtigkeit keine politische Mehrheitschance. Den Bürgern reicht dafür ein sozialdemokratisches Korrektiv in einer Großen Koalition unter Merkel.

Drittens fehlte ein Impuls für den kompletten Machtwechsel und damit eine realistische Machtperspektive für Rot-Grün. Abnehmende Sorgen und zunehmende Zufriedenheit der Bürger angesichts der positiven eigenen beziehungsweise allgemeinen wirtschaftlichen Situation und das gigantische Vertrauen in die Kanzlerin haben in der Bevölkerung ein sicherheitsorientiertes Keine-Experimente-Gefühl geschaffen, dem die Opposition mit ihren Hinweisen auf gesellschaftliche Fehlentwicklungen zu wenig entgegenzusetzen hatte. Ohne die tatsächliche Möglichkeit eines rot-grünen Wahlsiegs fehlte ein wichtiges Element für die Mobilisierung der eigenen Anhänger.

Was folgt auf die große Koalition?

Wenn sich die SPD in die Große Koalition rettet, muss sie aus der Position des Juniorpartners neue Machtoptionen entwickeln. Sie hat noch nicht einmal begonnen, die kreativen Potenziale einer begrenzten Opposition in der Großen Koalition zu ermitteln. Die Große Koalition ist ein Übergangs-, aber kein Zukunftsprojekt. Zwei grundlegend unterschiedliche Optionen sind denkbar: eine Lagerstrategie, die das gesamte linke Lager umfasst; oder eine lagerübergreifende Strategie, die die SPD in die Mitte bewegt. Die jeweiligen Chancen und Risiken dieser beiden Varianten muss die SPD kalkulieren, intern die Vor- und Nachteile diskutieren, um dann eine strategische Entscheidung zu treffen. Beide Optionen sind zwar Hochrisikostrategien, aber das blinde Festhalten an Rot-Grün stellt keine Alternative mehr dar.

Bei der Lagerstrategie muss die knappe parlamentarische Mehrheit von SPD, Grünen und Linkspartei für die Zukunft in eine realistische Koalitionsoption umgewandelt werden. Denn nach wie vor ist das linke Lager blockiert. Die Hindernisse für ein Linksbündnis sind groß. Bisher ist die Linkspartei der eigentliche Bremsklotz. Interne Zerstrittenheit, nicht zustimmungs- und kompromissfähige Koalitionsbedingungen (zum Beispiel die Beendigung aller Auslandseinsätze) und die Wiederauferstehung ihres Lieblingsfeindes, einer SPD in der Großen Koalition, erschweren die Auflösung der politischen Blockade.

Eine Neuausrichtung der bisherigen Politik der Linkspartei ist nach dem Ergebnis dieser Bundestagswahl vorerst nicht zu erwarten. Sie kann aus Sicht der Sozialdemokraten überhaupt nur gelingen, wenn der Spieß umgedreht wird: Die SPD formuliert die zentralen inhaltlichen Bedingungen, unter denen ein Linksbündnis für sie denkbar wird – und forciert so den Druck für eine Neustrukturierung der Linkspartei.

Der Weg in die ökonomische Mitte ist weit

Nicht nur die Hindernisse, auch die Gefahren einer linken Lagerstrategie sind groß. So kann es etwa durch Verluste der SPD an ihrer rechten Flanke zur Verkleinerung des linken Gesamtlagers kommen. Auch bei vielen sozialdemokratischen Wählern ist das Schreckgespenst Rot-Rot-Grün bislang keineswegs gebannt.

Der Ausgangspunkt einer lagerübergreifenden Strategie, für die eine Koalitionsoption nicht unmittelbar feststeht, wäre die inhaltlich-thematische Beanspruchung der politischen Mitte durch die Sozialdemokratie – ganz im Sinne von Sigmar Gabriels Diktum, dass die politische Mitte kein fester Ort sei, sondern die Deutungshoheit in der Mitte der Gesellschaft meine. Dann ist die Mitte eine Chiffre für Sicherheit, ökonomische Prosperität und begrenzten Wandel.

Vergegenwärtigt man sich die drei Mehrheiten, die die deutsche Gesellschaft prägen, liegt die Mitte vor allem bei der ökonomischen Mehrheit. Die soziale und die kulturelle Mehrheit sind dem linken Lager bereits zuzurechnen. Eine lagerübergreifende Mittestrategie bedeutet also für die SPD, nicht nur die soziale und kulturelle Mehrheit zu erringen, sondern die bürgerlich dominierte ökonomische Mehrheit für sich zu reklamieren und dort mit eigenen Politikkonzepten die Deutungshoheit zu gewinnen.

Die Eroberung der Deutungshoheit von links, und damit die Eroberung der Mitte, kann nur mit einem überzeugenden, innovativen Ökonomiekonzept gelingen, das den bürgerlichen Parteien ihre Übermacht bei der ökonomischen Mehrheit streitig macht. Da die Mehrheiten über Parteikompetenzen verteilt werden, müsste das Augenmerk auf der Profilierung einer sozialdemokratischen Ökonomiekompetenz liegen.

Die Grundidee dieser Strategie bestünde darin, das rechte Lager mit seinen eigenen Mitteln zu schlagen. Der Weg dorthin wäre weit. Er würde die glaubwürdige Personalisierung eines ökonomischen Mitteprojekts voraussetzen. Da es unwahrscheinlich ist, eine solche Mitte durch eine Person zu repräsentieren, müsste es der SPD gelingen, ein Gesamtpaket aus Gesichtern sozialer, ökonomischer und kultureller Modernität zu entwickeln, die das lagerübergreifende Angebot an eigenen Projekten überzeugend darstellen können.

Einfach weiter so? Das wäre die Kapitulation

Auch die Risiken einer lagerübergreifenden Strategie sind gewaltig. Sie kann zu einem Scheitern bei der Ökonomiekompetenz und dem gleichzeitigen Verlust sozialer und kultureller Mehrheitsfähigkeit führen.

Sich zwischen zwei Hochrisikostrategien entscheiden zu müssen, bedeutet für eine Partei die maximale strategische Herausforderung. Die vermeintliche dritte strategische Option, ein Festhalten an Rot-Grün auf Bundesebene, wäre jedoch das Eingeständnis, aus eigener Kraft gegen die Merkel-CDU nicht gewinnen zu können. Sie könnte nur unter zwei Bedingungen gelingen: Wenn die Union in der Nach-Merkel-Ära abgewirtschaftet ist und die Linkspartei sich selbst marginalisiert hat. Beides ist zurzeit nicht absehbar, auch wenn Angela Merkel mit dieser Wahl ihren Machtzenit überschritten hat und die Linkspartei innerparteilich nicht gefestigt erscheint. Allein auf eine Schwächung der Konkurrenten zu setzen, von der man nicht einmal weiß, ob und wann sie eintreten wird, käme aus heutiger Sicht einer strategischen Kapitulation gleich.

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