Von Kenia lernen heißt siegen lernen

Europa ist längst nicht mehr obenauf. Im Süden der Welt löst die Krise des Alten Kontinents gemischte Gefühle aus: einerseits eine gewisse Schaden­freude, andererseits Furcht vor einem globalen Flächenbrand. Wollen die darbenden Staaten der Europäischen Union wieder auf die Beine kommen, tun sie gut daran, sich ein Beispiel an manchen Schwellenländern des Südens zu nehmen

Die rasanten weltwirtschaftlichen Entwicklungen können Assoziationen an „Good Bye Lenin“ wecken. In dem Film fällt eine felsenfeste Sozialistin vor dem 9. November 1989 ins Koma. Als sie nach der Wende wieder aufwacht, gaukeln ihr die Mitmenschen die Fortexistenz der alten Welt vor. Die Nachricht von der Revolution wäre ein gesundheitsgefährdender Schock gewesen.

Der weltwirtschaftliche Umbruch des vergangenen Jahrzehnts vollzog sich zwar schrittweise, er war aber nicht minder dramatisch als in der Zeit nach dem Ende des Kalten Krieges. Um die Jahrtausendwende hielt die asiatische Finanzkrise die Welt in Atem, bald darauf folgte die russische Schuldenkrise. Auch viele der ärmsten Staaten litten unter erdrückenden Schulden; erst die große Entschuldungsinitiative ab dem Jahr 2000 verbesserte die Situation. Zu dieser Zeit strotzten die meisten westlichen Staaten vor Wirtschaftskraft, allen voran die USA. Sie profitierten vor allem von einer dynamischen Telekommunikationsindustrie.

Portugiesen wandern nach Angola aus

Seither wurden die wirtschaftlichen Verhältnisse auf den Kopf gestellt: China stabilisiert den Euro. Portugiesen suchen Arbeit in Angola. Firmen des Silicon Valley kommen nach Kenia, um von afrikanischen Innovationen zu lernen. Die Idee, vom Süden zu lernen, gilt nicht länger als absurd. Und Europa tut gut daran, sich an diese neue Weltordnung zu gewöhnen.

Will man die neue Welt mit einer einzigen Kennziffer erklären, bietet sich die Schuldenquote an: Der Westen macht Schulden und wirkt orientierungslos, dagegen haben die Schwellenländer ihre Schuldenlast schrittweise abgebaut. Ein Blick auf die G20-Länder zeigt das. Im Jahr 2000 beliefen sich die Verbindlichkeiten der reichsten Volkswirtschaften (G7) auf 68 Prozent des Sozialproduktes; die aufstrebenden Volkswirtschaften (die übrigen 13 Mitglieder der G20) waren schon damals nur mit knapp 50 Prozent verschuldet. Seitdem hat sich die Schere enorm geöffnet. Bei den fortgeschrittenen Volkswirtschaften stieg die Verschuldung auf über 110 Prozent, parallel reduzierten die Schwellenländer ihre Schuldenlast kontinuierlich auf etwa 35 Prozent.

Auch demografisch öffnet sich die Schere. Global wächst die Bevölkerung rapide, aber in Europa stagniert sie. Im Jahr 1970 war jeder fünfte Mensch Europäer, heute nur noch jeder Zehnte. Deutschland ist einer der bedeutendsten demografischen Absteiger und wird bis 2025 nur noch ein Prozent der Weltbevölkerung stellen. Andererseits besitzt Europa noch immer den größten Wirtschaftsraum der Welt, bildet knapp ein Drittel des Weltsozialproduktes und betreibt die Hälfte des Welthandels. Ein großer Teil des europäischen Handels ist Binnenhandel. Dank offener Grenzen handeln die vielen kleinen Staaten Europas rege miteinander.

Sollte die Eurokrise zum Flächenbrand werden, könnte dies die Weltwirtschaft an den Rand des Abgrunds bringen. Die möglichen Auswirkungen könnten noch schlimmer sein als die der Welt­finanzkrise 2008/09, denn die meisten Staaten haben heute weniger Reserven, um sich einer Rezession nochmals mit voller Wucht entgegenzustemmen. Die Schuldenstände sind nach oben geschnellt und die Zinsen befinden sich nahe der Nullgrenze. Mehr Schulden und geringere Zinsen sind praktisch nicht mehr möglich. Anders als die Vereinigten Staaten oder Schwellenländer besitzen die europäischen Staaten auch keine „demografischen Reserven“, die es erlauben würden, jetzt höhere Schulden zu machen in der Hoffnung, dass die nachwachsenden Generationen eine neue Wirtschaftsdynamik entfalten. Das Gegenteil ist der Fall: Europa, vor allem Deutschland, bräuchte gerade jetzt Reserven, um den demografischen Wandel relativ schmerzfrei zu gestalten.

Europas Gewicht nimmt dramatisch ab

Die europäische Krise wird nicht nur langfristige wirtschaftliche Auswirkungen haben, sie wird auch psychologisch nachwirken. Man war gewohnt, an den Hebeln globaler Macht zu sitzen und anderen Regionen zu helfen, auf die Beine zu kommen. Heute besteht die Gefahr, dass Europas Bedeutung in der Welt dramatisch abnimmt, vor allem, wenn Partikularinteressen und nationale Reflexe die Überhand gewinnen sollten. Im Süden wird die Eurokrise deshalb mit gemischten Gefühlen wahrgenommen. Einerseits gibt es eine gewisse Schadenfreude, dass der Kontinent der Kolonialmächte nun selbst in großen Schwierigkeiten steckt und nicht mehr uneingeschränktes Entwicklungsmodell ist. Andererseits besteht eine Teil-Abhängigkeit von Europa. Die europäischen Länder zahlen weiterhin den Großteil der Entwicklungshilfe und sind die wichtigsten Handelspartner, vor allem für afrikanische Staaten. Einen Einbruch in Europa werden nicht nur andere reiche Länder zu spüren bekommen, mit denen die Handels- und Finanzbeziehungen sehr eng sind, sondern auch Schwellen- und Entwicklungsländer. Wie es Weltbank-Präsident Jim Yong Kim formulierte: „Was heute in Europa passiert, betrifft den Fischer in Senegal ebenso wie den Software-Programmierer in Indien.“

Europa könnte von fast allen Schwellenländern lernen, was Fragen makroökonomischer Stabilisierung betrifft. Selbst von Afrika: Die afrikanischen Staaten weisen fast durchgängig geringere Schuldenquoten auf als europäische Länder. Könnten beispielsweise Griechenland und Kenia die Rollen tauschen, stünde Europa makroökonomisch deutlich besser da als derzeit. Kenias heutiger Schuldenstand beläuft sich auf etwa 43 Prozent des Sozialproduktes, das ist ungefähr ein Viertel der griechischen Schuldenlast und wäre der drittniedrigste Schuldenstand in der Eurozone. Nur die Kleinstaaten Estland (6 Prozent) und Luxemburg (20 Prozent) liegen darunter.

Gewiss haben Kenia und Griechenland unterschiedliche Ausgangs- und Rahmenbedingungen, Lösungsansätze sind nicht einfach übertragbar. Anders als Griechenland hat Kenia keine großen ausländischen Kapitalzuflüsse erhalten, die während der weltweiten Finanzkrise wieder abgezogen wurden. Auch ist Kenia nicht Teil einer Währungsunion und kann deshalb im Krisenfall seine Währung abwerten, um wieder wettbewerbsfähig zu werden. Und dennoch: Das kenianische Beispiel belegt, dass eine umsichtige Finanzpolitik die Grundlage für gesundes Wirtschaften bilden kann. Wie viele andere Schwellenländer kann Kenia drei Stärken vorweisen, die Griechenland und anderen südeuropäischen Staaten derzeit fehlen.

Kein Schuldenabbau ohne Wachstum

Erstens hat Kenia in guten Jahren vorgesorgt und Schulden abgebaut. Noch im Jahr 2003 lagen Kenias Staatsschulden bei rund 60 Prozent des Sozialproduktes. In den guten wirtschaftlichen Jahren bis 2007 drückte das Land die Schuldenlast dann auf unter 40 Prozent. Deshalb konnte die Regierung in den Krisenjahren 2008 und 2009 die Ausgaben steigern und wichtige Investitionsprogramme fortsetzen, um die Wirtschaft anzukurbeln. Seit 2010 erzielt Kenia wieder ein relativ robustes Wachstum.

Zweitens stellte das Land über das vergangene Jahrzehnt hinweg sein Steuersystem um. Heute kann Kenia seinen Haushalt zu mehr als 90 Prozent selbst finanzieren. Die Entwicklungshilfe spielt nur noch eine kleine Rolle. Zudem vollzog das Land eine schrittweise Abkehr von Zöllen, die als wirtschaftsfeindlich gelten, da sie den Handel abschwächen. Stattdessen setzte Kenia auf eine Ausweitung der Einkommens- und Mehrwertsteuer; beide Steuerarten bilden inzwischen das Rückgrat der kenianischen Fiskalpolitik. Der Gesamtwert der Staatseinnahmen beläuft sich in diesem Jahr auf geschätzte 25 Prozent des Sozialproduktes. Für Afrika ist dieser Wert rekordverdächtig und auch deshalb beachtlich, weil Kenia noch keine nennenswerten Einnahmen aus Rohstoffen hat. In vielen anderen afrikanischen Staaten finanziert der Abbau von Diamanten, Gold oder Uran den Haushalt mit.

Drittens setzten die Kenianer zunehmend auf Wachstum. Die Regierung begann eine bewusste Politik der Wachstumsförderung. Vor etwa zehn Jahren öffnete Kenia seine Wirtschaft, vor allem in den Dienstleistungssektoren. Diese schufen eine Wachstumsdynamik, von der Kenia noch heute zehrt. Es war das robuste Wirtschaftswachstum, das Kenias makroökonomische Lage verbesserte – und nicht die Sparpolitik. Kenias Gesamtverschuldung ist heute höher als noch vor zehn Jahren. Aber weil das Sozialprodukt so stark wuchs, ist die Schuldenquote wesentlich geringer als damals.

Reformen aus innerer Überzeugung

Auch in Griechenland zeigt sich, dass es nicht auf die Schuldenmenge ankommt, sondern auf den Schuldenstand, also auf das Verhältnis der Schulden zur Gesamtwirtschaft. Den neuesten Zahlen zufolge hat Griechenland in den vergangenen zwölf Monaten sogar Schulden abgebaut: Der Schuldenstand sank um 22 Milliarden Euro auf derzeit 333 Milliarden Euro. Da die Wirtschaft weiter schrumpft, hat sich die Schuldenkrise dennoch verschärft. Noch nie hat ein Land eine Schuldenkrise überwunden, ohne zu wachsen. Es ist wichtig, die öffentlichen Ausgaben zu kappen. Aber mindestens ebenso wichtig ist es, das Bruttoinlandsprodukt zu erhöhen.

Auch bei der Verwirklichung von Strukturreformen gibt es langjährige Erfahrungen von anderen Kontinenten, die Europa nutzen könnte. Seit den neunziger Jahren hat die internationale Gemeinschaft, vor allem die Weltbank und der Internationale Währungsfonds, in vielen Ländern Strukturanpassungsprogramme durchgeführt. In fast allen Fällen waren strukturelle Reformen notwendig. Häufig waren die Ökonomien der Länder nicht wettbewerbsfähig – so wie in Griechenland heute. Die Bedingungen waren wirtschaftsfeindlich und schadeten damit der gesamten Gesellschaft. Inflation, Fiskaldefizite und Schuldenstand waren aus dem Ruder gelaufen, derweil die Betriebe und Investoren unter Bürokratie, Misswirtschaft und Korruption litten.

Trotz ähnlicher Grundvoraussetzungen erzielte die Strukturanpassungspolitik äußerst unterschiedliche Erfolge. Das lag nicht an den Maßnahmen selbst (wenngleich einige davon umstritten sind), sondern an der fehlenden Reformbereitschaft in vielen Entwicklungsländern. Nachhaltige Reformen können selten von außen aufgezwungen werden.

In anderen Ländern wirkten die Reformprogramme hingegen erfolgreich, besonders wenn die Regierungen sie selbst entwarfen und die internationale Gemeinschaft dann baten, bei der Verwirklichung der Reformen gezielt zu helfen. Dazu gehören erfolgreiche Schwellenländer wie Brasilien, Indonesien oder die Türkei. Aber auch viele afrikanische Staaten haben in den vergangenen zehn Jahren große Fortschritte gemacht, vor allem bei der makroökonomischen Stabilisierung.

Die wichtigste Lehre aus zwei Jahrzehnten Strukturanpassungspolitik lautet, dass die Form ebenso wichtig ist wie der Inhalt. Es braucht einen inneren Anker, die oft schmerzhaften Reformen müssen aus Überzeugung vorangetrieben werden. Denn immer gibt es Nutznießer des „alten Systems“, die von der Ineffizienz der Gesamtwirtschaft profitieren und Reformen verhindern können. In vielen Fällen ist es besser, gute Reformvorschläge aus dem betroffenen Land aufzugreifen, als zu versuchen, vermeintlich ideale Maßnahmen von außen zu oktroyieren.

Aufgewacht auf einem anderen Planeten

Wäre jemand vor der Jahrtausendwende ins Koma gefallen und würde erst jetzt wieder erwachen, er würde glauben, auf einem anderen Planeten zu sein. Europa war der große Verlierer des vergangenen Jahrzehnts, zugleich erstrahlte Asien zu neuem Glanz. Allerdings besitzt der„alte Kontinent“ weiterhin den höchsten Lebensstandard der Welt. Der Stern Europas ist noch nicht verblasst. Osteuropa wurde erfolgreich integriert und konnte seinen Lebensstandard in Rekordzeit fast auf das westliche Niveau anheben. Europa ist weiterhin das lifestyle powerhouse der Welt. Es ist der einzige Ort, dem es gelungen ist, eine gute Balance zu gewährleisten zwischen Arbeit und Leben, Familie und Beruf – und für diejenigen zu sorgen, die keine Arbeit haben. Dies schafft in vielen europäischen Ländern – vor allem auch in Deutschland – einen sozialen Frieden, der in anderen Teilen der Welt nicht selbstverständlich ist.

Der Beitrag gibt ausschließlich die persönliche Auffassung des Autors wieder.


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