Vom Vertrauensverlust in die Vertrauenskrise?

Debatten über Charakterschwächen von Politikern führen ins Leere. Tatsächlich zweifeln die Menschen an der Leistungsfähigkeit und Bürgernähe der Institutionen. Mehr Responsivität und das offene Eingeständnis von Handlungsgrenzen würden helfen

Das Vertrauen der Deutschen in ihre politischen Institutionen und ihre politischen Eliten befindet sich auf einem historischen Tiefpunkt. In der Bundesrepublik – wie in allen anderen westlichen Demokratien – ist das politische Vertrauen seit den siebziger Jahren kontinuierlich gesunken. Eine Trendumkehr ist unwahrscheinlich. Daher warnen Sozialwissenschaftler immer wieder vor den Gefahren, die von einer Vertrauenskrise ausgehen. Zunächst wurden ihre kritischen Anmerkungen meist als Kassandra-Rufe linker Professoren abgetan, die schon deshalb notorisch „Krise!“ schreien, um die eigene Profession zu sichern. Inzwischen hat die Rhetorik der „Vertrauenskrise“ jedoch die Zinnen der hohen Politik erreicht. Es erscheint angebracht, das sinkende Vertrauen aufmerksam zu analysieren – ohne dabei in Krisenrhetorik zu verfallen.

Ein gewisses Maß an Unaufgeregtheit sollte aus der Tatsache folgen, dass die Diagnose des sinkenden Vertrauens nicht auf alle Institutionen und politischen Eliten in gleicher Weise zutrifft. Die rechtsstaatlichen Institutionen wie das Bundesverfassungsgericht, die einfache Gerichtsbarkeit und die Polizei genießen auch weiterhin hohes Vertrauen – selbst wenn es in langfristiger Perspektive leicht gesunken ist. Bei den Institutionen des demokratischen Prozesses, etwa beim Bundestag und bei der Bundesregierung, fällt der Vertrauensrückgang hingegen drastisch aus. Und geradezu dramatisch ist der Vertrauensverlust, den die Berufsgruppe der „Politiker“ hinnehmen musste: Ihre Vertrauenswerte rangieren inzwischen auf einem Niveau mit Gebrauchtwagenhändlern und Immobilienmaklern.

Wieso unterscheidet sich die Entwicklung der Vertrauenswerte verschiedener politischer Institutionen und Akteure so stark? Eine Erklärung muss sich mit dem demokratischen Prozess auseinandersetzen und dabei die relevanten Veränderungen der vergangenen 30 Jahre in den Blick nehmen. Denn je stärker eine Institution oder eine Berufsgruppe in den demokratischen Prozess involviert ist, desto größer war über die vergangenen drei Jahrzehnte ihr Vertrauensverlust. Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass seit Bestehen der Bundesrepublik das (zu Unrecht) als politikfern wahrgenommene Bundesverfassungsgericht unter allen politischen und juristischen Institutionen fast durchgängig das höchste Vertrauen genießt.

Vertrauen Sie dem Verfassungsgericht?

Vertrauensumfragen werden – sowohl von der Politik als auch in der Medienöffentlichkeit – at face value genommen. Dabei geht man davon aus, dass die Menschen in der Lage sind, das Ausmaß ihres Vertrauens unmittelbar abzuschätzen und in Form eines Skalenwertes zu äußern, was empirische Studien übrigens belegen. Doch was sagt es uns, wenn die Bundesbürger auf einer Skala von 1 (gar kein Vertrauen) bis 7 (volles Vertrauen) den Bundestag im Jahr 2004 durchschnittlich mit einem Wert von 3,7 bewerten? Um sinnvolle Schlüsse aus den empirischen Umfragen ziehen zu können, muss man die Perspektive der Bürger einnehmen und versuchen zu verstehen, was sie assoziieren, wenn man sie nach ihrem Vertrauen in eine Institution fragt.

Die in empirischen Umfragen übliche Frage lautet: „Vertrauen Sie dem Bundesverfassungsgericht/der Bundesregierung/dem Parlament?“ Es fällt sofort auf, dass hier eine Auslassung vorliegt. In der Regel vertraut man nicht bedingungslos und ohne sachliche Begrenzung, sondern in Bezug auf ein ganz konkretes Vertrauensobjekt. Die vollständige Frage müsste daher lauten: „Vertrauen Sie der Institution X in Bezug auf Y?“ Erst so gelangt man zu einem sinnvollen Verständnis von Vertrauen, nämlich als die Erwartung, dass eine Person oder eine Institution in der Zukunft freiwillig Handlungen ausführen werden, die für mich positiv sind. Das Besondere einer Vertrauensbeziehung besteht in ihrer zeitlichen Dimension. Zwar schenkt man Vertrauen (auch) auf Basis vergangener Erfahrungen und Eindrücke. Im Kern des Vertrauens steht jedoch immer die Erwartung zukünftigen Handelns von anderen.

Kompetenz und moralische Integrität

Aus diesen definitorischen Überlegungen ergeben sich zwei für die Politik zentrale Fragen: Welche Faktoren beeinflussen die Erwartung der Bürger, dass politische Institutionen und politische Eliten in einem spezifischen Sinne handeln werden? Und welche konkrete Handlungserwartung haben die Bürger, was ist also das Objekt des Vertrauens?

Vertrauen speist sich aus vielen Quellen, von denen zwei für mein Argument besonders wichtig sind: die Einschätzung der Sachkompetenz sowie die Bewertung der charakterlichen Qualitäten einer Person, also ihrer moralischen Integrität.

Die aktuelle politische Diskussion fokussiert maßgeblich auf die charakterlichen Qualitäten von Politikern – und verkürzt damit die Vertrauensdiskussion auf problematische Weise. Deshalb stellt sich die Frage, ob die charakterliche Integrität des politischen Personals in den westlichen Demokratien in den vergangenen 30 Jahren tatsächlich so stark abgenommen hat, wie dies die sinkenden Vertrauenswerte nahelegen. Diese Annahme ist absolut unwahrscheinlich! Denn ein goldenes Zeitalter der Demokratie, in dem der politische Prozess frei war von Skandalen, Enthüllungen und moralischen Verfehlungen seiner Eliten, hat es niemals gegeben. Als Referenz für aktuelle Enttäuschungserlebnisse hätte die Politik daher jederzeit dienen können.

Der Blick muss also auf die zweite Quelle von Vertrauen gelenkt werden: die Einschätzung der Sachkompetenz der politischen Eliten. Da der Vertrauensverlust alle westlichen Demokratien betrifft, kann sinkende individuelle Kompetenz der politischen Eliten logisch ausgeschlossen werden. Es gilt also, nach den strukturellen Gründen zu fragen, warum Politik die spezifischen Erwartungen nicht mehr erfüllen kann. Doch welches Handeln erwarten die Bürger konkret von ihren Institutionen und ihren politischen Eliten? Die Handlungserwartungen variieren von Institution zu Institution. So lautet die Erwartung an juristische Institutionen, Gerechtigkeit herzustellen. Von der Bundesregierung und dem Bundestag (sowie den darin handelnden Politikern) wird responsives Handeln erwartet: Die Politik soll sich an den politischen Wünschen und Präferenzen der Bürger orientieren. In dieser Erwartungshaltung liegt ein Schlüssel für das sinkende Vertrauen in politische Institutionen und politische Eliten.

Die Ratlosigkeit der Volksparteien

Soziologische Studien haben in den vergangenen Jahren überzeugend verdeutlicht, dass sich die Lebensstile in den westlichen Demokratien radikal pluralisiert haben, und mit ihnen auch die Anforderungen an das politische System. Auf die zunehmende Fragmentierung reagieren alle großen Volksparteien ratlos; ihre historisch gewachsenen politischen Profile sind nicht beliebig dehnbar. Deshalb sind sie zunehmend schlechter in der Lage, die fragmentierten politischen Präferenzen programmatisch zu integrieren. Die sinkende Bindungskraft der beiden großen Volksparteien in Deutschland bestätigt diese These.

Seit dem Ende der realsozialistischen Staaten des Ostblocks verschärfen drei Entwicklungen die gerade genannten Probleme sogar noch: Erstens müssen die westlichen Demokratien ihre Normativität aus sich selbst schöpfen, da der Verweis auf die defizitäre Realität „im Osten“ nicht länger möglich ist. Damit geraten die Defizite der liberalen Demokratien viel stärker als zuvor ins Bewusstsein der Öffentlichkeit. Zweitens hat der Siegeszug des ökonomischen Neoliberalismus bestimmte politische Spillover-Effekte. Die Bürger tragen ihre politischen Präferenzen heute selbstbewusster als früher an das politische System heran und erwarten deren Berücksichtigung mit einer Selbstverständlichkeit, die in historischer Perspektive neu ist. Politik wird immer weniger als ein kollektives Unterfangen aller Staatsbürger mit dem Ziel der Gemeinwohlorientierung verstanden. Mit dem souveränen Konsumenten des Neoliberalismus korrespondiert nämlich der souveräne Bürger-Konsument in der politischen Sphäre. Der Bürger-Konsument nimmt das politische System vor allem als Dienstleister wahr, der die vielen und häufig inkompatiblen Anforderungen der Bürger möglichst schnell und umfassend realisieren soll. Schließlich sinkt drittens die Handlungsfähigkeit nationalstaatlicher Regierungen aufgrund der bekannten Phänomene ökonomischer Globalisierung, politischer Supranationalisierung und so fort.

Die Bürger erwarten Responsivität

Genau deshalb haben die Regierung und Parlament sukzessive weniger Möglichkeiten, responsiv zu handeln. Die Tragik der Entwicklung liegt darin, dass die Bürger zugleich immer mehr responsives Regierungshandeln erwarten. Wenn Responsivität also eine wichtige Voraussetzung von Vertrauen ist – wofür viel spricht –, kann das stetig sinkende Vertrauen nicht verwundern. Es sinkt in dem Maße, in dem sich politische Gestaltungsspielräume verengen.

Die öffentliche Diskussion über die moralischen und charakterlichen Qualitäten unserer Politiker erscheint vor dem Hintergrund dieser Diagnose als Nebenkriegsschauplatz. Sie ist eine Scheindebatte, die am kausalen Kern des sinkenden Vertrauens vorbei geht. Für diese Einschätzung spricht auch, dass empirisch eine frappierende Korrespondenz zwischen dem Vertrauen in eine Institution und der Bewertung der Leistung einer Institution besteht. Obwohl die Ergebnisse nicht identisch sind – was angesichts der unterschiedlichen Fragen auch nicht zu erwarten ist –, liegen sie doch so nahe beieinander, dass sie offenkundig miteinander korrespondieren.

Der Aufstieg des critical citizen

„Vertrauen in Institutionen“ misst also im Wesentlichen die Bewertung der Leistung einer Institution, angereichert um einen Schuss Unsicherheit darüber, was die Zukunft bringen wird. „Vertrauen in politische Eliten“ misst ebenfalls die Bewertung der Leistungen dieser Eliten, wobei allerdings anders als bei Institutionen die charakterlichen Qualitäten eine ergänzende Rolle spielen. Vertrauensverlust ist mithin ein Indiz für eine Politik, die auf der sachlichen Ebene kritisiert wird: als nicht gut genug, als zu entfernt von den Wünschen der Bürger, als nicht gemeinwohlorientiert.

Folgt aus dieser Analyse nun, dass unsere Demokratie bedroht ist? Ich denke: Nein. Denn wenn man sich von der Fokussierung auf die Kategorie des Vertrauens löst, wird eines deutlich: Die Verankerung der abstrakten normativen Ideale der Demokratie in Deutschland ist – wie in den meisten anderen etablierten Demokratien des Westens – so tief, dass von einer Gefahr für die Demokratie nicht die Rede sein kann. Vielmehr erleben wir seit einigen Jahren das Aufkommen eines neuen Bürgertypus, den die amerikanische Politikwissenschaftlerin Pippa Norris als critical citizen bezeichnet hat. Der Kritische Bürger erkennt die Defizite seiner realen, gelebten Demokratie und moniert diese auch – zum Beispiel in Form sinkenden Vertrauens in politische Institutionen. Dennoch ist er ein überzeugter Verfechter der Idee von Demokratie und im Zweifelsfall ein reformfreudiger politischer Aktivist. Ein politisch offenerer Umgang mit den Grenzen aktueller politischer Gestaltungsspielräume könnte ein erster Schritt sein, das Vertrauen der Kritischen Bürger zurückzugewinnen.

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