Vom "Jungen Wilden" zum Patriarchen

Kohl in alten Protokollen des CDU-Bundesvorstandes

Der politische Werdegang von Helmut Kohl ist schon erstaunlich. Kohl begann seine Karriere als ein Reformer, der wie kaum ein anderer für die Demokratisierung der Parteispitze eintrat. Und er beendete sie mit dem Offenbarungseid, dass gerade er die demokratische und offene Parteiführung wie kaum ein zweiter missachtete. Die Differenz zwischen dem jungen und dem alten Kohl ist ebenso frappierend wie die Ähnlichkeiten zwischen dem "System Adenauer" und dem "System Kohl". Kohl schien nicht bereit, aus den Fehlern seiner Vorgänger zu lernen. Was er allerdings lernte, war, wie man dauerhaft seine Macht sichert.

Der junge Kohl kämpfte im Schatten zweier Patriarchen, die sich über zwei Jahrzehnte an ihre Posten klammerten. Im heimischen Rheinland-Pfalz musste er sich mit dem seit 1947 regierenden Ministerpräsidenten Peter Altmeier auseinandersetzen. Dessen Rücktritt war in den sechziger Jahren längst überfällig. Nachdem Kohl 1963 den Fraktionsvorsitz übernommen hatte, kündigte er sich rasch als Nachfolger an. Tatsächlich sollte er jedoch bis 1969 von Altmeier vertröstet werden, ehe er endlich Ministerpräsident werden durfte. Eine ähnliche Konstellation erlebte der junge Kohl bei seinen ersten Auftritten auf der Bonner Bühne. Hier war es der mittlerweile greise Adenauer, der zunächst nicht seine Kanzlerschaft, dann bis 1966 nicht seinen Parteivorsitz abgeben wollte. Helmut Kohl erfuhr in beiden Fällen hautnah, wie zermürbend und parteischädigend ein lang hinausgezögerter Abschied von der Macht wirkte. Trotz dieser quälenden Erfahrung handelte Kohl in den neunziger Jahren selbst nicht anders.


Man kann den Begriff ruhig verwenden: Der Helmut Kohl der sechziger Jahre war ein "junger Wilder". Dabei war er nicht nur jünger als seine späteren Epigonen, er war tatsächlich auch ungestümer. Bereits mit 34 Jahren wurde er in den CDU-Bundesvorstand gewählt. Nachdem er beim ersten Zusammentreffen nur beobachtend zuhörte, nahm er bei seiner zweiten Vorstandssitzung im November 1964 kein Blatt vor den Mund. Schon seine ersten Sätze begannen mit einem Paukenschlag: Es sei "ein uraltes CDU-Rezept, durch eine Fülle von Referaten die Zeit so auszudehnen, dass nachher für die Diskussion kein Raum mehr da ist. [...] Ich will keine Mohrenwäsche machen, sondern nur klarstellen, was der Bundesvorstand ist: ein führendes Gremium der Partei. Nachdem wir aber nicht einmal unseren satzungsmäßigen Anspruch seit einem halben Jahr erfüllt haben, sondern gelegentlich eine Tagung vor drei Monaten hatten, sollten heute Nägel mit Köpfen gemacht werden. Und deshalb muss hier gesprochen werden."

Adenauer begegnete Kohls Einwürfen wie gewohnt mit Konzilianz und humoresken Spitzfindigkeiten. Besänftigen ließ sich der junge Kohl dadurch nicht. Vielmehr konterte er schlagfertig und scheute sich nicht, den übermächtigen Adenauer direkt für den Reputationsverlust der Union verantwortlich zu machen: Wenn "jemand eine Schuld hat, dann sind Sie es", hielt Kohl dem Bundesvorsitzenden vor. Denn "die größten Verdienste um unsere Partei auf der einen Seite rechtfertigen nicht, dass daraus ein irgendwie geartetes, ich will nicht sagen Recht, aber eine Möglichkeit herauskommen könnte, etwa jetzt in der zweiten Phase der deutschen Politik oder auch der CDU/CSU, der Partei Abbruch zu tun."


Die "Jungen Wilden" der neunziger Jahre dürften ähnliches über Helmut Kohl gedacht haben. Ob sie allerdings den Mut aufbrachten, dies so offen im Vorstand zu artikulieren, ist mehr als fraglich.

In fast allen folgenden Sitzungen wies Kohl beharrlich auf Missstände hin. Da er stets abwägend argumentierte und gerade im Hinblick auf Adenauer vielen aus der Seele sprach, wurden seine Beiträge akzeptiert. Kohls Reformforderungen umkreisten vor allem zwei Bereiche: Die Partei solle "offen diskutieren", und die offiziellen Führungsgremien sollten zugunsten der informellen Zirkel aufgewertet werden. "Eine Partei wie die CDU wird tot sein und keine Zukunft mehr haben, wenn in dieser Partei keine Diskussion mehr lebendig ist", hatte er bereits im November 1964 orakelt. Sein Forderungskatalog war entsprechend lang. Die Tagesordnung solle so festgesetzt werden, dass Zeit zum Debattieren blieb; in den unterschiedlichen Gremien sollten sich nicht die gleichen langen Lageberichte des Vorsitzenden wiederholen; Konflikte sollten in Zukunft nicht in den Medien, sondern in den Parteigremien ausgetragen werden.

Er selbst praktizierte die eingeforderte offene Diskussionskultur. Immer wieder hakte Kohl in den Sitzungen neugierig nach, wenn ihm etwas unklar erschien. Bei unausgesprochenen Personalfragen oder Problemen war er oft der erste, der die Dinge beim Namen nannte. Auch wenn es - wie im Dezember 1967 - um das verdeckte CDU-Spendensystem ging, war Kohls Fragedrang kaum zu bremsen. Kiesingers Parteiführung verschonte er dabei ebenfalls nicht mit Kritik und nannte es unverständlich, "dass wir sozusagen jetzt im Kanzleramt unsere Meinung abgegeben haben und dann gottesergeben warten, was von dort kommt (Zuruf: Weil wir in einer Notlage sind!). Wir sind jetzt zwanzig Jahre Kanzlerpartei."

Kohl trat für eine demokratisierte Führungsspitze ein, um selbst an der Macht teilzuhaben. Sein Plädoyer gegen die informellen Zirkel führte schnell dazu, das er selbst in diese eingebunden wurde. Bereits nach Kohls erstem kritischen Auftritt im Bundesvorstand beruhigte Adenauer ihn mit den Worten: "Heute nachmittag können wir mal ein Gespräch haben, dann will ich Ihnen sagen, was ich zum Beispiel hier sehr gerne gesagt hätte, aber ich habe es mir verkniffen, weil mir der Kreis zu groß ist und weil es dann zu leicht ungewollte Indiskretionen gibt." Die Forderung nach Offenheit verkehrte sich somit bereits in den sechziger Jahren in ihr Gegenteil. Als Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz führte Kohl schließlich sein Kabinett mit einem alles überdeckenden Harmonie-Anspruch, der die einst geforderte "offene Diskussion" ausblendete. Die langen Lageberichte, die fehlenden Aussprachen und die informelle Leitung vom Kanzleramt her wurden letztlich auch auf Bundesebene zu seinem Markenzeichen.

Selbst als Ehrenvorsitzender wurde Kohl von seiner eigenen Vergangenheit eingeholt. Im Oktober 1966 hatte er noch gewitzelt: "Es soll ja manche führende Parteifreunde geben, bei denen man den Eindruck haben kann, wenn der Ehrenvorsitzende da ist, reden sie nicht mit der gleichen Präzision, wie wenn er nicht da ist." 1999 war es der Ehrenvorsitzende Kohl, der durch seine ständige Anwesenheit in Präsidium und Bundesvorstand die Reformdiskussionen blockierte. Wie der alte Kohl mit einem jungen Mitdreißiger umgegangen wäre, der ähnlich wie er selbst einst Transparenz eingefordert hätte, kann nur gemutmaßt werden. Chancen auf eine dauerhafte Parteikarriere dürfte so jemand unter Kohls Kanzlerschaft sicherlich kaum gehabt haben.

Helmut Kohl litt unter Adenauer und Altmeier. Gleichzeitig waren sie seine Lehrmeister. Vermutlich brachte er beiden eine Hassliebe entgegen, die sich in allen Berufsfeldern gegenüber dem allzu übermächtigen und scheinbar ewigen Chef einstellen kann. Und ebenso wie in anderen Branchen übernahm auch der Politiker Kohl die einst kritisierten Eigenschaften der Vorbilder. Wenn allerdings selbst der Reformer Helmut Kohl diesen Weg beschritt, stellt sich natürlich die Frage, ob es den "Jungen Wilden" von heute tatsächlich gelingt, in zwanzig Jahren Helmut Kohl nicht nachzueifern. Eine Beschränkung der Amtszeit wäre somit nicht die schlechteste Idee, um die jungen Reformer von heute in der Zukunft vor sich selbst zu schützen.

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