Verraten wir unsere Helfer in Afghanistan?

Der Rückzug der Bundeswehr hat begonnen. »Denjenigen unter Ihnen, die wir leider nicht weiter beschäftigen können, wünschen wir schon jetzt alles Gute«, heißt es in einem Schreiben an die afghanischen Ortskräfte. Doch gute Wünsche sind zu wenig. Deutschland muss für die Afghanen, auf deren Hilfe die Bundeswehr jahrelang angewiesen war, handfeste Verantwortung übernehmen

Sediq Faizi war einmal davon überzeugt, dass die Deutschen seine Freunde sind. Dass man sich in schwierigen Phasen gegenseitig helfen werde, sich aufeinander verlassen könne. Jetzt beschreibt er seine Gefühle so: „Es ist, als ob man weint, und keiner nimmt einen zur Kenntnis.“

Faizi war im Norden Afghanistans für die Bundeswehr im Einsatz, als „Sprachmittler“, wie es im Bürokraten- und Bundeswehrdeutsch heißt. Am besten beschreiben lässt sich diese Tätigkeit so: Der 24-Jährige war für die Soldaten Augen, Ohren und Mund zugleich.

Ohne Übersetzer wie Faizi könnten die Truppen die einheimischen Sicherheitskräfte nicht ausbilden, und bei den Einsätzen außerhalb der Lager wären die Deutschen buchstäblich sprachlos. Die afghanischen Übersetzer dolmetschen aber nicht nur – sie erklären kulturelle Unterschiede, sie versorgen die Soldaten mit Informationen und berichten über die Stimmungen in der Bevölkerung. In vielen Fällen, so erzählen es Armeeangehörige in Kundus und Masar-i-Scharif immer wieder, entsteht ein enges Vertrauensverhältnis, eine regelrechte Freundschaft. Doch nun fällt es einigen Soldaten im Einsatz nicht mehr so leicht, ihren afghanischen Freunden in die Augen zu schauen. Denn die Übersetzer blicken sorgenvoll in die Zukunft, weil die bisher von Berlin angebotene Hilfe äußerst dürftig ist.

1 500 Ortskräfte verlieren ihren Job

Ende 2014 endet der Kampfeinsatz der Bundeswehr. Die Bundesregierung beteuerte in der vergangenen Legislaturperiode zwar, auch während der so genannten Transformationsdekade von 2015 bis 2024 in Afghanistan engagiert bleiben zu wollen – aber nur, sofern „künftige Haushaltsbeschlüsse des Deutschen Bundestages und die Entwicklung der Sicherheitslage dieses zulassen“. Die meisten der im Moment noch 1500 afghanischen Ortskräfte verlieren so oder so ihren Job. Schlimmer noch: Nicht wenige fürchten um ihr Leben. Etwa Sediq Faizi, der eigentlich anders heißt, der aber nicht mit seinem richtigen Namen genannt werden will, weil er Repressionen fürchtet: „Ich habe für die Deutschen gearbeitet. Spätestens wenn sie abgezogen sind, wird mich das zur Zielscheibe für die Extremisten machen“, sagt er.

Kopfgeburt eines deutschen Beamten

Berlin will den Eindruck vermeiden, dass die Afghanen am Ende des Kampfeinsatzes ein Land übernehmen, aus dem diejenigen fliehen müssen, die für Deutschland gearbeitet haben. Gleichwohl gibt es ein hübsch formuliertes Schreiben, das Ende der vergangenen Legislaturperiode an die Übersetzer gerichtet war: Deutschland sei sich seiner „besonderen Verantwortung“ für die Dolmetscher, Fahrer und sonstigen Angestellten bewusst: „Wenn sich Ihre Sicherheitsbedenken bestätigen, werden wir für Ihren konkreten Fall nach Möglichkeiten suchen, diesen Gefährdungen zu begegnen“, heißt es darin.

Das klingt zunächst großzügig. Bei genauer Betrachtung ist es das aber nicht. Die Deutschen schlagen den Ortskräften eine „Beschäftigung an anderer Stelle oder ein Umzug in eine andere Region“ vor. Beide Möglichkeiten erscheinen für Afghanistan wenig praktikabel: Übersetzer verlieren dort in den nächsten Monaten massenhaft ihren Job, so wie Sediq Faizi seinen bereits verloren hat. Auch wenn einige von ihnen bei zivilen Einrichtungen unterkommen können – das Gros hat die Bundeswehr beschäftigt. Und ein Umzug? Der Vorschlag wirkt angesichts der von Familien- und Clanstrukturen geprägten afghanischen Gesellschaft wie die Kopfgeburt eines deutschen Beamten. Bislang hat die Bundesregierung auf die so genannte Einzelfallprüfung gesetzt, um herauszufinden, welche Übersetzer so gefährdet sein könnten, dass ein Umzug nach Deutschland erforderlich ist. Das klingt erneut erst einmal großzügig, ist es jedoch – abermals – keineswegs. Anders als etwa Großbritannien und die USA, die generöse, pauschale Ausreisekontingente für ihre afghanischen Mitarbeiter bereitstellen, muss sich ein für Deutschland arbeitender Übersetzer erst einmal bei seiner Dienststelle melden, wenn er sich bedroht fühlt. Für diesen Fall haben Auswärtiges Amt, Innenministerium, Verteidigungsministerium und das Entwicklungshilfeministerium 14 Kriterien erarbeitet. Mit deren Hilfe soll auf einer Skala von null bis vier festgestellt werden, wie hoch die Gefährdungslage der Mitarbeiter tatsächlich ist und wie ihre Familienstrukturen aussehen. Bis zum Sommer hatten sich knapp 100 afghanische Ortskräfte bei ihren Vorgesetzen gemeldet. 21 Fälle wurden bis dahin geprüft. In gerade einmal zwei Fällen wurde eine Aufnahme in Deutschland empfohlen.

Droht Afghanistan ein Braindrain?

Diese Zahlen belegen: Es geht nicht darum, großzügige Ausreiseregelungen zu schaffen, um jene Afghanen zu schützen, denen der westliche Einsatz zum Verhängnis werden kann. Ist der bürokratische Umgang mit den Ortskräften also schon der erste Beleg dafür, dass die gängige Formel des Außen-, Innen- und Verteidigungsministers – „die Afghanen werden auch nach 2014 nicht im Stich gelassen“ – der Praxis nicht standhalten wird? Das ist eine Frage der Perspektive: Zwar sagen viele Übersetzer wie Sediq Faizi, dass sie Angst vor der Zukunft haben. Aber nicht nur in Berlin, sondern auch in Afghanistan selbst gibt es die Forderung, nicht jedem Dolmetscher sofort die Ausreise zu ermöglichen.

Präsident Hamid Karsai etwa befürchtet, dass die klügsten Köpfe Afghanistan verlassen, wenn sie die Gelegenheit dazu bekommen – unabhängig davon, ob sie gefährdet sind oder nicht. Auch einige afghanische Menschenrechtler, die dem Präsident keineswegs nach dem Mund reden, fürchten den Braindrain, das Abwandern der klügsten Köpfe.

Die neue Regierung muss sich kümmern

Allerdings dürfte der Anteil der jungen Afghanen, die die erstbeste Chance nutzen und aus wirtschaftlichem Kalkül ihre Heimat verlassen, gering sein. Denn vor allem diese Generation ist erpicht darauf, ihr Land aufzubauen. Sie trägt einen tiefen Stolz in sich, eine Hingabe für ihre geschundene Nation und den festen Vorsatz, ihren Beitrag zu leisten, um Afghanistan voranzubringen. Der weit verbreitete Drang, das Land dennoch zu verlassen, hat vor allem ein zentrales Motiv: die Angst vor der Zukunft. „Wenn mehr Afghanen, vor allem junge Leute, die Möglichkeit hätten zu gehen, würden sie auch gehen“, sagt ein Journalist, der in Kabul jahrelang für westliche Medien gearbeitet hat. Gewiss sei der mögliche Braindrain eine reale Gefahr für sein Land, aber deutlich problematischer sei die schlechte wirtschaftliche Perspektive. „Gerade in den Dörfern ist Afghanistan nach wie vor das unterentwickelte Land, das es immer schon war“, sagt er.

Tatsächlich hat es der Westen in zwölf Jahren versäumt, den jungen Afghanen eine Perspektive zu geben. Zwar sind Schulen entstanden, in die auch Mädchen gehen dürfen, es gibt mehr Strom und Straßen als je zuvor. Doch Millionen junger Afghanen haben keine Aussicht auf einen Job. Nun fallen auch noch die „Kriegsindustrie“ und die damit verbundenen Dienstleistungen weg.

Sediq Faizi erzählt, dass er in seinem Jahr bei der Bundeswehr etwa 500 Dollar im Monat verdient hat – für afghanische Verhältnisse ist das ein üppiges Gehalt. Momentan mache er sich nur Sorgen, aber spätestens nach dem Abzug der westlichen Kampftruppen werde die Gefahr für ihn real: „Sollen wir etwa warten, bis die Taliban uns Übersetzern die Ohren oder Köpfe abschneiden?“

„Denjenigen unter Ihnen, die wir leider nicht weiter beschäftigen können, wünschen wir bereits jetzt alles Gute für Ihre persönliche und berufliche Zukunft“, heißt es am Ende des Briefes an die afghanischen Ortskräfte. Sediq Faizi kann mit solchen Sätzen nichts anfangen. Am liebsten würde er Afghanistan sofort verlassen. Aber daraus wird nichts, wenn Berlin keine neue Regelung auf den Weg bringt. Die wäre aber dringend erforderlich. Die nächste Bundesregierung muss sich um Männer wie Faizi kümmern. Sie muss deutlich einfachere Regeln schaffen für die afghanischen Sprachmittler, aber auch für Fahrer und sonstige Helfer, die der Bundeswehr im Einsatz mit Rat und Tat zur Seite stehen. Außerdem hat sie die Pflicht, sich auch um die ehemaligen Mitarbeiter zu kümmern, vor allem um diejenigen, ohne die der Einsatz schlicht nicht möglich gewesen wäre. Andernfalls verkommt das Versprechen, Afghanistan und seine Menschen „nicht im Stich zu lassen“, schon vor dem Abzug zur bloßen Floskel.

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