Vernünftig, richtig, vorausschauend

Das Prinzip "Nachhaltigkeit" auf dem Weg zur Ideologie

"Wie die Strahlen der Sonne die Finsternis der Nacht vertreiben und alles klar wird, so dringt die Idee von der nachhaltigen Entwicklung mehr und mehr in das Bewusstsein und in die Herzen der Menschen ein. Wie die Sonne täglich im Osten aufgeht, so breitet sich auch das Prinzip der Nachhaltigkelt unaufhaltsam über die Erde aus. [...] Die Hülle wird fallen, die Blinden werden sehend werden, sie werden erkennen, was weiß und was schwarz ist. Alle Völker werden sich davon überzeugen, dass es einen Weg zum Fortschritt der ganzen Menschheit, zu einem besseren Leben gib, das ist der Weg zu einer nachhaltigen Entwicklung."

Richtig, es wurde etwas verändert an diesem Auszug aus einer Rede Nikita Chruschtschows, die er im März 1959 auf der "Gesamtdeutschen Arbeiterkonferenz" in Leipzig hielt. Das Wort "Kommunismus", das der Sowjetführer bei dieser Gelegenheit in beinahe jedem Satz zu gebrauchen pflegte, wurde hier durch Begriffe ersetzt, die sich allmählich im heutigen politischen Sprachgebrauch zu etablieren beginnen. Die Rede ist von nachhaltiger Entwicklung oder Nachhaltigkeit. Bisher können nur wenige diese Ausdrücke mit Leben füllen - die Mehrheit der Bevölkerung weiß kaum etwas mit ihnen anzufangen. Um so unverständlicher erscheint nun ihre Verwendung in der Ansprache Chruschtschows. Die Erklärung dafür ist jedoch denkbar einfach: Durch die vorgenommenen Änderungen wurde seine Rede auf den neuesten ideologischen Stand gebracht.


Vieles hat sich verändert im letzten Jahrzehnt des ausgehenden Jahrhunderts. In Deutschland darf man jetzt auch Witze über Ausländer machen ("Wo du wolle?") und alles kommt ohne Umwege zu uns: Bonn direkt, Aspirin direkt und - es kam, wie es kommen musste - SPD direkt. Außerdem hat für viele westdeutsche Politiker, die sich früher dem Sozialismus verpflichtet fühlten, dieser als Ideologie ausgedient. Zunächst schien keine bahnbrechende Idee, die eine umfassende Verbesserung der Lebensumstände auf der ganzen Welt versprach, das entstandene weltanschauliche Vakuum ausfüllen zu können. Erst die Theorien der Umweltbewegung versprachen wieder das, worauf es einer ideologisch geleiteten Politik ankommt: die Beanspruchung universeller Geltung.


Dem Begriff Nachhaltigkeit kommt dabei eine zentrale Bedeutung zu. Nachhaltige Entwicklung heißt, dass die Bedürfnisse der Gegenwart befriedigt werden, ohne die Möglichkeiten zukünftiger Generationen zu beschränken. Nachhaltige Entwicklung hat eine soziale, eine wirtschaftliche und eine ökologische Dimension. Alle drei Aspekte sollen in Lösungsansätzen verknüpft werden mit dem Ziel, nach und nach ein Gesamtverständnis zu entwickeln, das den vielfältigen Wechselwirkungen zwischen den unterschiedlichen Bereichen gerecht werden kann.


Dieser Ansatz deutet bereits auf die allseitige Anwendbarkeit des Prinzips der Nachhaltigkeit hin. Es geht schon längst nicht mehr nur um nachhaltiges Bauen und Wohnen, nachhaltige Landwirtschaft oder nachhaltige Mobilität. Über die Bereiche Umwelt- und Entwicklungspolitik hinaus reicht die Diskussion über die Konsolidierung der öffentlichen Haushalte im Sinne einer nachhaltigen Finanzentwicklung oder die nachhaltige Reform der Sozialversicherungssysteme bis hin zu einer nachhaltigen Friedenssicherung. Auch die Frage der Gerechtigkeit und der Solidarität gehört in die Nachhaltigkeits-Debatte. Nord und Süd, Arm und Reich, jetzt lebende Menschen und zukünftige Generationen - das Prinzip der Nachhaltigkeit verspricht einen Ausgleich.


Kein Wunder, dass ein solches Gedankengebäude auch in der Sozialdemokratie Anklang findet. Jene, die sich innerhalb der Partei als pragmatisch bezeichnen, werden die neue Vokabel, die als Synonym für vernünftig, richtig, vorausschauend gelten kann, jedenfalls für ihre politische Rhetorik gebrauchen können: nachhaltig! Für diejenigen, die auf der Suche nach ideologischer Orientierung sind, die eine Formel vermissen, die das Elend auf der Welt beendet und Frieden und Wohlstand verspricht, kann das Konzept der nachhaltigen Entwicklung als würdiger Nachfolger den Sozialismus ersetzen: Nachhaltigkeit!


Oder geht es doch zu weit, Nachhaltigkeit als Ideologie zu bezeichnen? Ein Blick in die einschlägige politikwissenschaftliche Literatur vermittelt die notwendige analytische Perspektive. Als Ideologie wird generell ein Wert- und Überzeugungssystem bezeichnet, das eine hohe Verbindlichkeit für das handelnde Individuum hat sowie eine zeitliche Stabilität im Unterschied zu temporären Einstellungen und Meinungen aufweist. Sie hat eine große Reichweite im Sinne von Totalitätsbezug und Weltanschauung und ist gekennzeichnet durch die Geschlossenheit der Wertorientierung.


Das Prinzip der Nachhaltigkeit ist auf nahezu allen Gebieten politischen Handelns anwendbar.


Nachhaltigkeit orientiert sich unter anderem an den Prinzipien der Menschenwürde, des sozialen Ausgleichs und einer gerechten Wohlstandsverteilung sowie eines harmonischen Miteinanders der verschiedenen Kulturen. Damit bestimmen verbindliche Wertvorstellungen die politische Praxis nachhaltiger Entwicklung.


Ob Ideologie oder nicht - die rot-grüne Bundesregierung jedenfalls will eine "nationale Nachhaltigkeitsstrategie mit konkreten Zielen" erarbeiten. So steht es im Koalitionsvertrag. Demnächst wird Nachhaltigkeit also Gesetz.

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