Venezuela auf dem Weg in den Abgrund?

Einst von Linken weltweit als "Sozialismus des 21. Jahrhunderts" gefeiert, versinkt der von Hugo Chávez begründete Chavismo heute in Gewalt und Elend. Noch hält das Regime die Oppositionsbewegung gewaltsam in Schach, doch Venezuelas Perspektiven verfinstern sich von Tag zu Tag

Wann hört ein politisches Regime auf, demokratisch zu sein? Moment und Merkmale des Umschlagspunktes sind häufig theoretisch wie empirisch umstritten, vor allem wenn sich die Erosion der Demokratie als schleichender Prozess darstellt. Die durch Wahlen und den Einsatz plebiszitärer Mechanismen erzeugte Input-Legitimität verschleiert oft die autoritäre Machtausübung, etwa den Abbau der Gewaltenteilung oder die Einschränkung der Meinungs- und Versammlungsfreiheit. Dies erlaubt es politischen Regimen, für eine längere Zeit eine demokratische Fassade zu wahren. Venezuela hat aber auch die Fassade mittlerweile zweifellos eingebüßt, denn die Wahlbehörde hat im Jahr 2016 sowohl das von der Opposition initiierte Referendum zur Abberufung des Präsidenten als auch die Regionalwahlen aufgeschoben beziehungsweise vertagt. Nun soll ein verfassungsgebender Prozess die aktive Partizipation des Souveräns inszenieren.

Im Präsidentialismus ist die Gewaltenteilung eng verknüpft mit der Logik getrennter demokratischer Legitimation von Exekutive und Legislative sowie von checks and balances – der gegenseitigen institutionellen Kontrolle. Die populistisch-autoritäre Praxis der venezolanischen Regierung verkehrte diese Logik jedoch in eine Systemblockade.

Auf der einen Seite sind die exekutive, die judikative und die elektorale Gewalt gleichgeschaltet. Die regierende Vereinigte Sozialistische Partei Venezuelas (Partido Socialista Unido de Venezuela, PSUV) bestimmt über die personelle Besetzung des Obersten Gerichtshofs und der Wahlbehörde. Die Urteile beider Institutionen folgen daher den politischen Wünschen der Exekutive.

Auf der anderen Seite dominiert das Oppositionsbündnis Tisch der Demokratischen Einheit (Mesa de la Unidad Democrática, MUD) seit seinem Wahlerfolg im Jahr 2015 mit qualifizierter Mehrheit die Nationalversammlung. Die Gesetzgebung des Einkammerparlaments wird aber weder von der Exekutive noch von der Judikative anerkannt. In den Worten von Präsident Nicolás Maduro: „Venezuela hat heute kein Parlament“ – denn es handle widerrechtlich. Die Begründung: Drei Abgeordnete der MUD hätten trotz mutmaßlichen Wahlbetrugs ihre parlamentarischen Mandate angenommen. Das Urteil des Obersten Gerichtshofs gegen die Abgeordneten verhindert, dass die MUD die für die Gesetzgebung entscheidende Zweidrittelmehrheit erhält. Die Opposition wiederum prangert die autoritäre Machtausübung der Regierung und deren Missachtung des politischen Mehrheitswillens an.

Die wechselseitige Ablehnung der beiden „institutionellen Lager“ hat zahlreiche verfassungswidrige Konsequenzen: Das Parlament kann sein Budgetrecht nicht ausüben, da die Regierung mit einem Haushaltsplan operiert, der ihm nie zur Genehmigung vorgelegt wurde. Zudem verweigerte Präsident Maduro der Nationalversammlung die ihr zustehenden Haushaltsmittel mit dem Argument, einer inexistenten Institution könne man keine Gelder überweisen. Von dem „finanziellen Ersticken“ der Legislative sind sowohl die Gehälter der Abgeordneten und Angestellten als auch der institutionelle Betrieb betroffen. Das Parlament wiederum stellte Anfang dieses Jahres mit großer Mehrheit – allerdings ohne faktische Wirkung – per Beschluss die „Missachtung des Amtes“ durch Nicolás Maduro fest, was einer Amtsenthebung des Präsidenten gleichkommt. Der Oberste Gerichtshof erklärte diesen Beschluss jedoch postwendend für nichtig.

Systemimmanenter Putsch

Die institutionelle Auseinandersetzung spitzte sich im März 2017 zu, als der Oberste Gerichtshof den nationalen Abgeordneten ihre juristische Immunität entzog, formal die legislativen Kompetenzen der Nationalversammlung übernahm und dem Staatsoberhaupt unter Verweis auf den herrschenden Ausnahmezustand Sonderbefugnisse zusprach.

Dieser systemimmanente Putsch, den große Teile der internationalen Gemeinschaft verurteilten, führte auch innerhalb der chavistischen Reihen zu kontroversen Reaktionen. Die Generalstaatsanwältin Luisa Ortega und der Nationale Verteidigungsrat – das Beratungsgremium der Exekutive – riefen den Obersten Gerichtshof dazu auf, seine Urteile zu „überprüfen“. Daraufhin modifizierte dieser die umstrittensten Punkte seines Urteils. Präsident Maduro reagierte widersprüchlich: Zunächst begrüßte er die Entscheidung der Judikative, rief dann aber den Nationalen Verteidigungsrat an und lobte schließlich die verfassungskonforme Überwindung der „Kontroverse zwischen dem Obersten Gerichtshof und der Generalstaatsanwaltschaft“.

Am 1. Mai kündigte Maduro an, eine verfassungsgebende Versammlung einzuberufen. Das verschärfte den institutionellen Konflikt. Bezeichnend ist, wie zügig die Wahlbehörde dabei die hierfür erforderlichen Schritte einleitete. Die Zusammensetzung der Versammlung und die Wahl ihrer Mitglieder sollen mittels einer Kombination aus territorialen und korporatistischen Kriterien erfolgen, die zu einer gravierenden Unterrepräsentation der urbanen Zentren und der Opposition führen würde.

Fast 100 Tote in 100 Tagen

Laut Umfragen lehnen 85 Prozent der Bevölkerung diese Verfassungsinitiative ab. Hierzu gehören auch einige Figuren des Chavismo: So etwa die Generalstaatsanwältin Ortega, die die Einberufung einer verfassungsgebenden Versammlung durch den Präsidenten für nichtig erklärte. Zugleich ficht sie die Legitimität von regimetreuen Mitgliedern der Konstitutionellen Kammer des Obersten Gerichtshofs an, die den verfassungsgebenden Prozess unterstützen. Nach der eindeutigen Niederlage der Regierungspartei bei den Parlamentswahlen im Dezember 2015 hatten diese ihre Ämter in einer Express-Ernennung durch die scheidende Nationalversammlung erlangt.

Die institutionelle Systemblockade führt allerdings nicht zu einer Pattsituation zwischen Regierung und Opposition. Vielmehr lassen die regimetragenden (zivilen wie militärischen) Kräfte bisher keine großen internen Brüche erkennen und behalten im Institutionengefüge die Oberhand – nicht zuletzt auch dank des systematischen Drucks auf die Opposition.

Die Offensive des Obersten Gerichtshofs veranlasste die oppositionelle MUD dazu, zu Massendemonstrationen aufzurufen. Seit Anfang April finden diese gehäuft und nun unter dem Motto „friedlicher Widerstand“ statt. Aber auch die Regierung brachte die eigenen Anhänger auf die Straße. Bis Anfang Juli sind bei den Demonstrationen fast 100 Menschen umgekommen, Tausende wurden verhaftet. Die Protestierenden fordern vor allem die Achtung der Nationalversammlung, die Unabhängigkeit der Justiz, Neuwahlen, die Freilassung der politischen Gefangenen sowie die Einrichtung eines humanitären Korridors.

Mit dieser Mobilisierung änderte die stark heterogene, jedoch einmütig gegen den Chavismo gerichtete Opposition erneut ihre Strategie: Nach einer Phase, in der sie sich politisch zurückgezogen hatte (etwa während der Parlamentswahlen 2005), um der Chávez-Regierung die demokratische Legitimation zu entziehen, engagiert sie sich inzwischen wieder politisch, um das chavistische Regime mit allen zur Verfügung stehenden demokratischen Mitteln zu bekämpfen. Sie beteiligte sich an sämtlichen Wahlen und strengte 2016 erneut ein Abberufungsreferendum gegen den Präsidenten an. Da die Regierung dies zu verhindern wusste und die anstehenden Regionalwahlen immer wieder aufschob, wurde die Opposition endgültig ihrer Wahlkampfarena beraubt, die ohnehin schon stark eingeschränkt war. Die Wahlbehörde gab zudem im Februar eine Liste mit denjenigen Parteien heraus, die sich einem „Erneuerungsprozess“ unterziehen müssen. Ihr legaler Status hängt nun von der Neuregistrierung ihrer Mitglieder ab – einem logistisch aufwendigen Verfahren. Dass die Wahlbehörde der Regierungspartei PSUV diese Legitimationshürde ersparte und den angeordneten „Erneuerungsprozess“ als weiteren Grund anführte, um Urnengänge zu verschieben, verwundert dabei nicht.

Die oppositionelle Führungsriege wird auch direkt juristisch verfolgt, was den politischen Wettbewerb ebenfalls einschränkt. Beispielsweise befindet sich Leopoldo López, der ehemalige Bürgermeister von Chacao und Vorsitzender der Partei Volkswille (Voluntad Popular, VP) seit 2014 in Haft. Gegen Henrique Capriles, Mitglied von Zuerst Gerechtigkeit (Primero Justicia, PJ), verhängte die Prüfungsbehörde des Rechnungshofs am 7. April das für 15 Jahre geltende Verbot, ein Wahlamt zu bekleiden. Zur Begründung verwies sie dabei auf kompetenzüberschreitende Handlungen, die er als Gouverneur von Miranda begangen haben soll. Seitdem Capriles Maduro bei den Präsidentschaftswahlen 2013 nur knapp unterlegen war, gilt er als aussichtsreichster Kandidat für die Präsidentschaftswahlen 2018.

Vandalismus, Erpressungen und Mord

Die Schikanen gegen Oppositionsangehörige sind aber nicht nur juristischer Natur: Neben der Polizei und der Nationalgarde (die für innere Angelegenheiten zuständige vierte Truppengattung der Streitkräfte) sind die Colectivos Bolivarianos inzwischen ein fester Bestandteil des Straßenbildes. Diese schwer bewaffneten, motorisierten und aus Zivilisten bestehenden paramilitärischen Verbände hatte Hugo Chávez gegründet, sie sollten die Revolution verteidigen. Ursprünglich konzentrierten sich die Colectivos auf die soziale und ideologische Arbeit in den Kommunen. Heute agieren sie unter verschiedenen lokalen Führungsfiguren als Stoßtrupps, die von der Regierungsspitze gesteuert, jedoch dezentral organisiert sind. Sie sind verantwortlich für Vandalismus, Erpressungen und Mord. Einige Verbände besitzen einen eigenen Namen sowie Uniformen und Flaggen als identitätsstiftende Symbole. Die Colectivos werden nicht nur gegen die Demonstrationen der politischen Opposition eingesetzt, sondern auch um Journalisten, Studierende auf Versammlungen oder Gewerkschaften bei Tarifverhandlungen im staatlichen Sektor einzuschüchtern. Offen bleibt vorerst die Frage, wie lange sich die Streitkräfte, die das zivil-militärische Regime tragen, gegenüber den Protestierenden beziehungsweise gegenüber dem politischen Regimeflügel zurückhalten und ob sie im Falle eines Einsatzes geschlossen agieren werden.

Tiefe humanitäre Krise trotz Ölreichtum

Diese gefährliche Entwicklung vollzieht sich in einem ohnehin gewalttätigen Klima, das sich durch die sozioökonomische Krise weiter verschärft hat. Laut der venezolanischen Gewaltbeobachtungsstelle wies das Land im Jahr 2016 mit 91,8 Morden pro 100 000 Einwohnern die weltweit zweithöchste Mordrate auf. Privater Waffenbesitz ist stark verbreitet.

Trotz seines Erdölreichtums befindet sich Venezuela in einer ökonomischen Krise. Die Volkswirtschaft stützt sich stark auf den Export von Erdöl und die sinkenden Rohstoffpreise auf dem globalen Markt wirken sich entsprechend negativ aus. Zudem haben Rechtsunsicherheit, staatliche Preiskontrollen und das Missmanagement staatlicher Unternehmen einen Prozess der Deindustrialisierung gefördert. In der Folge hat sich die Versorgung mit Nahrungsmitteln und Medikamenten (die meisten müssen eingeführt werden) seit dem Jahr 2014 extrem verschlechtert. Die Effekte sind verheerend: Beispielsweise stiegen die Mutter- und Kindersterblichkeitsraten im Jahr 2016 signifikant. Während im Volksmund zynisch von der „Maduro-Diät“ gesprochen wird, weil die Menschen stark an Gewicht verloren haben, leugnet die Regierung die Existenz einer humanitären Krise, macht die Oligarchie für einen „Wirtschaftskrieg“ verantwortlich und hindert Nichtregierungsorganisationen daran, Hilfe zu leisten. Angestellten der staatlichen Krankenhäuser, die sich öffentlich über die Notlage äußern, droht die Entlassung.

Nach Schätzungen des Internationalen Währungsfonds wird die venezolanische Volkswirtschaft im Jahr 2017 um 7,4 Prozent schrumpfen und die Inflationsrate auf 720,5 Prozent ansteigen. Damit lassen die Prognosen derzeit wenig Raum für Optimismus.

Nachdem in den ersten Jahren des Chavismo vor allem Leute mit Fachwissen (Braindrain) und später politisch Verfolgte auswanderten, flüchten die Menschen gegenwärtig aufgrund von Hunger und Krankheit vor allem in die Grenzgebiete der Nachbarländer Brasilien und Kolumbien, wo sie auf die dringend benötigte Versorgung hoffen.

Diese Entwicklung bedeutet eine Umkehr der großen Leistung, die Venezuela zu Zeiten der Militärdiktaturen als eine der wenigen Demokratien in Lateinamerika erbracht hat: die bereitwillige Aufnahme politischer Exilanten. Zahlreiche politische Systeme in Lateinamerika weisen gravierende demokratische und rechtsstaatliche Defizite auf. Dennoch gehört Venezuela zusammen etwa mit Kuba und Nicaragua zu jener glücklicherweise kleinen Gruppe lateinamerikanischer Staaten, die sich heute immer noch nicht beziehungsweise nicht mehr als kompetitive Regime qualifizieren. Auch der Populismus ist kein exklusiv venezolanisches Phänomen, er hat aber im Land aufgrund seiner autoritären Intensität und seiner Handlungslogik, die ökonomische Grundprinzipien missachtet, einen erheblichen Schaden für Politik, Wirtschaft und Gesellschaft angerichtet.

Die tiefen Ursachen der Krise reichen weit zurück

Die demokratische Erosion in Venezuela hat nicht erst mit Maduro begonnen, sondern setzte bereits während der ersten Präsidentschaft von Chávez ein und verschärfte sich in den folgenden Jahren sukzessiv. Die Gründe, die dafür verantwortlich sind, dass eine solche Führungsfigur die Präsidentschaft übernehmen und sich der Chavismo so lange an der Macht halten konnte, liegen jedoch weiter zurück. Zum Nährboden gehörten beispielsweise eine wenig responsive Elite, verbreitete Armut und große soziale Ungleichheit. Der Chavismo widmete sich diesen Problemen und weckte mit einer Reihe von Reformen und Maßnahmen bei großen Teilen der venezolanischen Bevölkerung sowie der Linken außerhalb des Landes sehr schnell die Hoffnung auf die ersehnte soziale und politische Inklusion. Die bereits sehr früh sichtbar gewordenen antidemokratischen Tendenzen wurden dabei ignoriert oder hingenommen – und zwar im Sinne des bekannten wie falschen Dilemmas: Gleichheit versus Freiheit.

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