Urbanität und Fortschritt

Die SPD erreicht ihre einstige Stammklientel nicht mehr - davon reden alle. Dass der Partei zugleich die modernen und großstädtischen Wähler der "linken Mitte" abhanden kommen, findet viel weniger Beachtung. Zu Unrecht, meinen unsere Autoren

Bei der Europawahl ist die SPD in zahlreichen Städten nur noch drittstärkste Kraft geworden. Im Osten hat die PDS die geschwächte SPD überholt. Im Westen liegen die Grünen in Großstädten wie Berlin, München, Freiburg, Frankfurt, Bonn, Münster und Aachen vor der SPD. Im Westen gibt es für diese Entwicklung bei der Europawahl zwei durchaus gleichgewichtige Gründe. Dass viele frühere SPD-Wähler nicht mehr zur Wahl gegangen sind, wurde in den vergangenen Wochen von vielen Seiten beleuchtet. Viel zu wenig wurde über die Gründe gesprochen, warum die SPD in den Großstädten so viele Stimmen an die Grünen abgeben musste.

Es ist nicht damit getan zu beklagen, die Klientel der Grünen sei von der Agenda 2010 weniger betroffen als SPD-Stammwähler - so wichtig diese Erkenntnis auch ist. Die entscheidende Frage lautet, warum die Grünen bei der Europawahl und bei anderen Wahlen ehemalige Wähler der SPD an sich binden konnten, wo doch die Grünen für dieselben Reformen auf dem Gebiet des Sozialen, der Wirtschaft und der Steuern stehen.

Die Antwort ist so einfach wie gefährlich für die SPD: Ja, die Grünen stehen zur Agenda 2010. Sie werben für diese Politik ohne schlechtes Gewissen. Sie entschuldigen sich nicht für notwendige politische Reformen. Und, viel wichtiger für den Wechsel vieler Wähler von der SPD zu den Grünen: Die Grünen besetzen darüber hinaus konsequent Themen wie Umwelt- und Verbraucherschutz, Bürgerrechte, Gleichstellung und Nachhaltigkeit, die die SPD zumindest in der öffentlichen Wahrnehmung aufgegeben hat.

Diese vermeintlich "weichen" Themen sind aber entscheidend für die Orientierung desjenigen Teils des Wählerspektrums in Deutschland, um das SPD und Grüne konkurrieren, also für die Wechselwähler zwischen Rot und Grün. Sie haben ihre Stimmen bei der Europawahl im großen Stil den Grünen gegeben. Dieses Milieu der zwischen SPD und Grünen schwankenden Wähler ist in den großen Städten in den vergangenen Jahren deutlich gewachsen. Hier liegt der Hauptgrund für den Absturz der SPD in den Großstädten. Der Teil des Wählerspektrums, den man als "Neue Mitte", "solidarische Mitte" oder schlicht "linke Mitte" bezeichnen kann, hat bei der Europawahl fast geschlossen die Grünen gewählt. Diese Menschen fühlen sich nicht als Verlierer von Globalisierung, EU-Osterweiterung oder Agenda 2010. Im Gegenteil, sie sehen darin viele materielle Chancen und verlangen eben auch politische Lösungen außerhalb der Diskussion um "Sozialabbau und Armut", die uns Sozialdemokraten derzeit zu 100 Prozent beschäftigt. Die Grünen haben dies längst erkannt und konsequent an der Bindung dieses Milieus gearbeitet.

Das rot-grüne Spektrum wählt heute Grün

Bei der Wahl 2002 und noch mehr bei der Wahl 1998 hat dieses rot-grüne Spektrum mehrheitlich SPD gewählt. In Städten wie Stuttgart, Münster und Bonn haben diese Wähler 2002 gegen den Trend der Bundespartei sogar den SPD-Kandidaten zum Gewinn des Direktmandats verholfen. Diese Verbindung der "linken Mitte" zur SPD ist jetzt extrem geschwächt. Rot-grüne Wechselwähler in den Städten nehmen die SPD in Fragen des Umweltschutzes, der Nachhaltigkeit, der Gleichstellung, der Bürgerrechte und anderer Themen nur noch als unsicheren Kantonisten wahr.

Das war Anfang der achtziger Jahre schon einmal so. Damals führte es - bei einem noch weit schwächer ausgeprägten Milieu - zur Gründung der Grünen, zum Verlust der Regierungsfähigkeit der SPD und zum Fehlen einer ganzen sozialdemokratischen Generation. Erst mit der erneuten Öffnung der SPD für die "weichen" Themen haben sich Teile dieser Wähler wieder der SPD zugewandt und die sozialdemokratischen Wahlsiege der neunziger Jahre ermöglicht.

Ideen und Galionsfiguren gäbe es genug

Die SPD war in den neunziger Jahren bei den Erkenntnissen, der Programmatik und den politischen Initiativen für diese "weichen" Themen führend. Und es war auch die SPD, die die "Galionsfiguren" für diese Themen hatte und bis heute hat: Ernst Ulrich von Weizsäcker, Hermann Scheer, Michael Müller und andere. Aber diesen Personen fällt es angesichts der Art und Weise, wie die SPD mit ihren Themen umgeht, zunehmend schwer, Zustimmung für die Partei zu erreichen. Es sind vor allem Spitzenpolitiker der SPD, die den rot-grünen Wechselwählern zunehmend das Gefühl vermitteln, mit ihren Themen bei der SPD derzeit nicht aufgehoben zu sein. Dieses Gefühl bestätigen ihnen sozialdemokratische Abgeordnete, Minister, Ministerpräsidenten und leider auch der Bundeskanzler in letzter Zeit mit leichtfertigen Äußerungen fast täglich.

Bei den Bürgerrechten und beim Datenschutz sind die Augenblicke viel zu selten, in denen sich sozialdemokratische Innenminister den zum Teil systemverändernden Hardliner-Positionen der konservativen Kontrahenten klar entgegenstellen. Stattdessen wird all zu oft ein öffentlicher Wettkampf mit CDU und CSU darüber aufgeführt, wer der "härteste Sheriff in der Stadt" ist. Diese Auseinandersetzung kann die SPD nicht gewinnen. Es verfestigt sich in der Öffentlichkeit zunehmend die Erkenntnis, dass die Pole in einem solchen Rechtsstaatsdialog die CDU/CSU auf der einen und die Grünen auf der anderen Seite sind. Ein klares bürgerrechtliches und rechtsstaatliches Profil der SPD hingegen geht mehr und mehr verloren.

Honoriert wird letztlich nicht der im Hinterzimmer ausgehandelte Kompromiss, sondern die klare Positionierung, auch wenn man mit einer solchen klaren Haltung im Vermittlungsausschuss gegebenenfalls einmal scheitert. So werden auch in der aktuellen Zuwanderungsdebatte öffentlich nicht etwa Otto Schily und die SPD als diejenigen angesehen, die schließlich den Durchbruch zu einem modernen Zuwanderungsrecht geschafft haben, sondern irrtümlich die Grünen. Diese Debatte wird uns in den kommenden Monaten in den beschriebenen Milieus noch ordentlich zu schaffen machen.

Die SPD wäre gut beraten, eine eigene rechtsstaatliche Strategie zu verfolgen: Konsequentes Vorgehen gegen den Bruch von Regeln, aber auch konsequenter Schutz des Bürgers vor dem Staat - einem Staat, der seinen Bürgern im Grundsatz vertraut, statt ihnen überall mit präventiver Überwachung zu begegnen, wie es sich Beckstein & Co. erträumen. Warum thematisiert die SPD die abstrusen Vorstellungen von CDU/CSU zum Thema nicht einmal durch eine Regierungserklärung des Bundeskanzlers, die deutlich macht, welch unterschiedliche Auffassungen wir Sozialdemokraten und die Konservativen vom Menschen und von einer freien Gesellschaft haben? Damit würden wir auch für die "linke Mitte" wieder an Profil gewinnen.

Wie der SPD die Erkenntnis abhanden kam

Fortschritte im Umwelt- und Verbraucherschutz bringen Veränderungen mit sich. Das kann niemand bestreiten. Veraltete Technologien müssen durch neue ersetzt werden, veraltete und bedenkliche Produkte verschwinden zugunsten anderer Produkte vom Markt. Diese Innovation bedeutet Veränderungen bei Arbeitsplätzen, sie hat aber auch Deutschland immer stark gemacht. Ohne strenge Abgasgrenzwerte würden etwa die Motoren europäischer Autos längst in den Billiglohnländern hergestellt. Stattdessen liefern heute deutsche Zulieferer die notwendigen High-Tech-Komponenten an alle europäischen Hersteller. Und ohne die hohen EU-Umweltstandards - gerade auch von Deutschland entscheidend mitbestimmt - würden die neuen Mitgliedsstaaten der EU die Technologie ihrer Kraftwerke, Industrieanlagen und Klärwerke, die sie für die in den Beitrittsverträgen vereinbarte Modernisierung brauchen, kaum in Deutschland kaufen.

Diese Erkenntnis, von der SPD früher einmal mit dem Slogan "Arbeit und Welt" zusammengefasst, scheint der SPD heute weithin abhanden gekommen zu sein. Neue Schritte im Umwelt- oder Verbraucherschutz verkommen in den Reden sozialdemokratischer Topleute in der Regel zu angeblichen Wettbewerbsverzerrungen und vermeintlichen Belastungen für die Konjunktur.

Der konsequente Ausbau der erneuerbaren Energien könnte ein faszinierendes Kernprojekt der deutschen Sozialdemokratie sein. Hier sind Umweltschutz, Industriepolitik und Entwicklungshilfe optimal in einem einzigen Thema gebündelt. Die auf Einladung des Bundeskanzlers durchgeführte große Konferenz Renewables 2004 in Bonn hat gezeigt, wie positiv das Thema in der Öffentlichkeit besetzt ist. Schon heute sichert der beschlossene Ausbau der erneuerbaren Energien 130.000 Arbeitsplätze in Deutschland, unser Land ist zum Weltmarktführer geworden, unsere teure und gefährliche Importabhängigkeit von Energieträgern sinkt schrittweise. Mit Hermann Scheer, Präsident von Eurosolar und Träger des alternativen Nobelpreises, hätte die SPD genau jenen notwendigen Vorzeigepolitiker, der unsere Partei glaubwürdig mit diesem Thema verbinden könnte.

Mit "Ja, aber..." gewinnt man keine Wahlen

Und was passiert in der öffentlichen Wahrnehmung? Bundeswirtschaftsminister Wolfgang Clement spricht gerne vor allem über die angeblichen Kosten des Ausbaus der erneuerbaren Energien. Der nordrhein-westfälische Energieminister Axel Horstmann wiederum hält es für notwendig, in jeder Rede zu behaupten, die Windenergie werde "überfördert". Während in immer mehr Ländern der Welt das maßgeblich von Sozialdemokraten geprägte Modell der deutschen Förderung erneuerbarer Energien kopiert wird, gefallen sich führende Sozialdemokraten in ihren "Ja, aber..."-Statements: Man sei ja für den Ausbau, aber... Das Projekt wird zerredet, die "Argumente" von RWE, E.on & Co. werden unkritisch nachgeplappert - und die Fans der erneuerbaren Energien auf diese Weise in Scharen zu den Grünen getrieben, ohne dass zugleich wenigstens die Gegner ökologischer Politik für die SPD gewonnen würden.

Völlig überflüssigerweise wird von führenden Teilen der SPD ein vermeintlicher Gegensatz zwischen den erneuerbaren Energien und der Modernisierung der fossilen Kraftwerke aufgebaut, statt beides zusammen zu positiven Projekten der Sozialdemokratie zu machen: Die SPD sollte in Deutschland für eine schnelle und das Klima schützende Modernisierung der Kohlekraftwerke eintreten und damit zugleich helfen, dass diese Technik weltweit verkauft werden kann. Und die SPD sollte geschlossen dafür eintreten, die erneuerbaren Energien so auszubauen, dass sie noch in diesem Jahrhundert den gesamten Energiebedarf sauber decken und dadurch gleichzeitig eine große Anzahl von Arbeitsplätzen in Deutschland schaffen können. Für solche Ziele kann man Menschen gewinnen - nicht für Bremserpositionen, nicht als Hüter schwindender Strukturen, nicht als "Ja, aber..."-Sager.

Die "weichen" Themen sind knallhart

Warum sind so viele sozialdemokratische Abgeordnete sofort auf Anti-Öko-Kurs, wenn wie beim Klimaschutz oder beim Hochwasserschutz Unternehmen oder Betriebsräte vermeintliche Belastungen heraufbeschwören? Warum sind wir nicht mehr bereit, auch in den Wahlkreisen für unsere umweltpolitischen Ziele zu stehen? Es ist diese deutlich zu spürende Mentalität weiter Teile der sozialdemokratischen Führung, "weiche" Themen angesichts wirtschaftlicher Probleme nicht mehr ernst zu nehmen, die uns Sozialdemokraten derzeit Wähler gleich scharenweise an die Grünen verlieren lässt. Fast 40 Prozent der Wähler, die bei der Europawahl von der SPD zu den Grünen gewechselt sind, haben Meinungsforschern gegenüber die Umweltpolitik als Grund genannt.

Oft hat man nach Terminen im Kanzleramt, in den Staatskanzleien und Wirtschaftsministerien den Eindruck, dass dort die Positionen der Wirtschaftsverbände und Großunternehmen zu den "weichen" Themen im Maßstab eins zu eins übernommen werden. Und deren Interessen sind meist gegen die Wünsche der "linken Mitte" gerichtet. Da in der Koalition am Ende ein Kompromiss erreicht werden muss, erscheinen die Sozialdemokraten als die Bremser, während die Grünen ehemals gemeinsame Ideen wenigstens zum Teil durchsetzen können.

Dafür drei Beispiele, die eigentlich besonders geeignet für sozialdemokratische Projekte wären, für die SPD derzeit aber Verliererthemen sind: Erstens ein bundesweites Informationsfreiheitsgesetz, zweitens die Frage von Softwarepatenten sowie drittens ein wirkliches Anti-Diskriminierungsgesetz.

Keinen begeistern, viele abschrecken

Erstens: Deutschland ist - neben Serbien und der Schweiz - einer der letzten Staat in Europa, die kein Informationsfreiheitsgesetz besitzen. Obwohl wir auf der Ebene einzelner Bundesländer positive Erfahrungen mit Informationsfreiheitsgesetzen gemacht haben, folgen die fachlich zuständigen Bundesminister der SPD den Einflüsterungen der Wirtschaftsverbände und Großunternehmen, solch ein Gesetz werde schlechtere Wettbewerbsbedingungen für Deutschland zur Folge haben. Deswegen vertreten sozialdemokratische Politiker auch hier wieder einmal eine "Ja, aber ..."-Strategie, die keinen begeistert, aber viele abschreckt.

Stattdessen sollte sich die SPD bei der Formulierung eines Informationsfreiheitsgesetzes an die Spitze der Bewegung setzen. Die Freiheit, sich über alle relevanten staatlichen Vorgänge zu informieren, wenn dadurch nicht die Rechte anderer tangiert werden, passt ideal zu den sozialdemokratischen Grundwerten von Freiheit und Emanzipation. "Mehr Demokratie wagen" hat die SPD dies Anfang der siebziger Jahre genannt. Diesen Mut sollten Sozialdemokraten wieder öffentlich zeigen und bewerben. Das Forcieren einer solchen Regelung wäre für die SPD ein absolutes Gewinner-Thema!

Zweitens: Die Einflüsterer der Wirtschaftsverbände und Großunternehmen bringen die SPD allzu oft dazu, die Interessen der Großunternehmen sogar gegen jene der mittelständischen Unternehmen zu unterstützen, obwohl der Mittelstand viel mehr Arbeitsplätze schafft als die Großunternehmen. Ein negatives Paradebeispiel dafür ist seit 1998 die Rolle der sozialdemokratischen Justizminister beim Thema der Softwarepatentierung. Die großen Unternehmen wie Microsoft, Oracle und SAP wollen unbedingt die Vereinfachung der Patentierung von Software in Europa erreichen, da sie mit ihren ausgebauten juristischen Abteilungen daraus immense wirtschaftliche Vorteile ziehen würden. Die gesamte mittelständisch geprägte Unternehmensriege aus der Softwarebranche und anderen Wirtschaftsbereichen, die viel Informationstechnologie einsetzen, befürchtet dagegen völlig zu Recht massive Geschäftsbehinderungen, das Absinken der Innovationsgeschwindigkeit und die Gefährdung der Open-Source-Bewegung, von der man sich ein Gegengewicht zum Microsoft-Monopol erhofft.

Mit der offenen Software-Welt auf Kriegsfuß

Die SPD hätte mit Jörg Tauss wiederum eine Galionsfigur für die Anhänger einer offenen Software-Welt mit vielen kleinen, innovativen Unternehmen zu bieten. Aber die Glaubwürdigkeit der SPD wird völlig untergraben durch die massive Unterstützung der Bundesregierung in den Gremien der EU für eine erleichterte Patentierbarkeit von Software. Die Fachforen im Internet und die E-Mail-Postfächer bei Fachpolitikern der SPD quellen über von Ankündigungen, deswegen von SPD zu Grün zu wechseln. Hier sollte die SPD deshalb schnell und gründlich ihre Haltung korrigieren. Offene Standards, die weitest mögliche Vermeidung von Softwarepatentierung und die dadurch mögliche Stärkung der jungen, kreativen und kleinteilig geprägten deutschen Softwarebranche wären wichtige Argumente zugunsten der SPD in den stetig wachsenden großstädtischen Wählerschichten mit solch einem wirtschaftlichen Hintergrund.

Drittens: Auch beim Thema Anti-Diskriminierung bringen die schon seit der vergangenen Legislaturperiode andauernden Verhakelungen keine positiven Effekte für die Wählbarkeit der SPD in rot-grünen Milieus. Anti-Diskriminierung ist kein Thema für stigmatisierte Minderheiten. Sie steht auch nicht im Gegensatz zu dem Grundsatz von Vertragsfreiheit und Privatautonomie - jedenfalls in keinem unauflösbaren. Sie ist ein sozialdemokratisches Thema, das im Übrigen auch enge Bezüge zur Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit in unserem Land hat.

Von den Grünen siegen lernen

Die SPD ist derzeit auf der Suche nach Projekten, mit denen sie für die Wähler wieder attraktiver werden kann. Die genannten Beispiele, die durch zahlreiche ähnliche Projekte ergänzt werden können, bestechen auch dadurch, dass sie praktisch ohne Belastung der öffentlichen Haushalte zu verwirklichen sind. Es ist keine Frage des Geldes, es ist eine Wertediskussion, eine Programmdiskussion. Wir plädieren dafür, dass die SPD in ihren Inhalten und ihrem Auftreten wieder urbaner und fortschrittlicher werden muss. Dieser Modernisierungsbedarf trifft nicht die jeweiligen Fachpolitiker - die sind auf der Höhe der Zeit. Er betrifft aber die Breite der Partei, und die Spitzen der Partei müssen zu diesen Projekten stehen, für sie bei jeder Gelegenheit werben.

Wir können uns die Grünen des Jahres 1999 zum Vorbild nehmen. Damals war die Partei existenziell bedroht. Sie erlebte verheerende Wahlniederlagen und verfehlte reihenweise die Fünf-Prozent-Hürde. Die Grünen entschieden sich dafür, den Disput in den eigenen Reihen zu führen, öffentlich aber bei einer Handvoll von Themen geschlossen und entschlossen aufzutreten. Bei jeder Gelegenheit wird diese Profilbildung verfolgt. Die SPD muss nicht nur von diesem Prinzip lernen, sie muss den Grünen dieses Profil in einigen Themenfeldern wieder streitig machen.

Eines ist klar: Dieses Werben um die Wählerinnen und Wähler der "linken Mitte" ist keine Alternative dazu, diejenigen zurückzugewinnen, die von der SPD in das Lager der Nichtwähler gewechselt sind - es muss zusätzlich stattfinden. Die SPD muss sich der Diversifizierung ihrer Wählerschichten stellen. Das ist möglich und bietet große Chancen. Denn die Wähler der "linken Mitte" sehen sich zwar selbst keineswegs als Opfer der Modernisierung, aber sie haben ein feines Gespür dafür, wie wichtig soziale Gerechtigkeit für den Zusammenhalt einer Gesellschaft ist. Sie sind für die solidarische Finanzierung der Gesellschaft zu gewinnen. Diese "linke Mitte" steht der sozialdemokratischen Idee von Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit näher als der grünen Idee, wird aber derzeit von der Lustlosigkeit der SPD bei den "weichen" Themen massiv abgeschreckt.

Die SPD kann sich die Mehrheiten in den Städten zurückholen. Aber wenn das gelingen soll, muss sich die Partei wieder geschlossen und verstärkt um die vermeintlich "weichen" Themen kümmern. Dieser Appell richtet sich vor allem an die Spitzenpolitiker der SPD.

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