Unsere Freiheit muss verteidigt werden

Carlo Strenger beklagt, die westliche Linke sei nicht mehr bereit, selbstbewusst für ihre ureigenen aufklärerischen Werte zu kämpfen

Mit seinem Essay Zivilisierte Verachtung will der Psychologieprofessor Carlo Strenger nicht nur den Westen auf zwei Gefahren für die Freiheit aufmerksam machen, sondern auch einen Beitrag zu ihrer Verteidigung leisten. Die erste Gefahr bestehe darin, dass sich der Westen an seine Freiheit gewöhnt habe und nicht mehr bereit sei, sich für sie einzusetzen. Die zweite Gefahr gehe vom globalen Terrorismus aus – eine Gefährdungsquelle, die durch die Maßnahmen zur Abwehr terroristischer Angriffe zusätzlich verstärkt werde.

Kämpfen Linke noch für die Freiheit?

Strenger liefert in seinem Buch eine informierte und lesenswerte Argumentation. Die Vielfalt der Beispiele, Theorien und Narrative, auf die er verweist, verhindert jedoch Ausführungen, die in die Tiefe gehen. Gelegentlich mangelt es an einer klaren und stringenten Verwendung von Begriffen, ganz zu schweigen von eindeutigen Definitionen. So verweist Strenger etwa immer wieder auf die Idee der Toleranz, ohne jedoch das zugrundeliegende Konzept eindeutig zu bestimmen. Dies ist deswegen problematisch, weil Strengers Verwendung des Begriffs stark an eine Erlaubnis-Konzeption erinnert, in der die Mehrheitsgesellschaft Minderheiten nur unter bestimmten Bedingungen toleriert – nämlich solange die Minderheit die Autorität der Mehrheit nicht infrage stellt.

Die Problemanalyse, dass die west­liche Linke nicht bereit sei, leidenschaftlich für die Verteidigung der eigenen Werte gegenüber anderen Kulturen und Wertvorstellungen einzutreten, ist sicherlich zutreffend. Für Strenger liegt hier ein gravierendes Problem, dessen Ursache er in der „Ideologie der politischen Korrektheit“ verortet. Deren Grundprinzipien seien die Gleichberechtigung sämtlicher Kulturen, Glaubenssysteme und Lebensformen sowie das Verbot, diese moralisch oder erkenntnistheoretisch zu kritisieren. Für problematisch hält er die politische Korrektheit, weil sie dazu beigetragen habe, dass die europäische und nordamerikanische Linke ihre eigenen Werte nicht selbstbewusst genug verteidige. Stattdessen plage sie sich mit Schuldgefühlen im Hinblick auf ihre eigene Vergangenheit. Ungerechtfertigt ist diese Haltung laut Strenger nicht – im Gegenteil, er verurteilt die Gräueltaten des Westens. Jedoch verbindet er dies mit dem Wunsch, der Westen möge seine Errungenschaften mit umso mehr Leidenschaft und Verve verteidigen.

Konzepte verachten, nicht Menschen

Dafür sei eine Rückbesinnung auf das Projekt der Aufklärung notwendig – besonders auf die Maxime, nichts und niemanden von Kritik auszunehmen. Daraus ergebe sich eine Praxis der „zivilisierten Verachtung“ – eine Haltung, die Glaubenssätze, Verhalten und Werte verachtet, die irrational, unmoralisch, inkohärent oder unmenschlich seien. Voraussetzung hierfür ist Strenger zufolge, dass solche Urteile im Rahmen verantwort­licher Meinungsbildung getroffen werden und sich die Verachtung ausschließlich auf die Konzepte bezieht, nicht jedoch auf die Menschen, die diese vertreten.

Wird das die Attentäter beeindrucken?

Dabei erscheint die Wortwahl, die er für die von ihm geforderte Haltung wählt, unnötig militant. Warum muss es denn gleich die „Verachtung“ einer Überzeugung sein? Reicht nicht auch die Zurückweisung, Ablehnung oder gar Missbilligung? Verachtung geht stets mit einer vollständigen Entwertung der anderen Position einher und stellt, selbst wenn sie wohlübergelegt sein sollte, eine Handlung mit weitreichender Konsequenz dar.

Die Schärfe des Begriffs will Strenger womöglich durch das Adjektiv „zivilisiert“ abgeschwächt und präzisiert wissen. Diese Kombination führt jedoch zu neuen Problemen für die Argumentation des Autors: Beschwört man nämlich die Zivilisation herauf, muss man deren Gegenteil ebenfalls mitdenken. Neben der „zivilisierten Verachtung“ müsste es also auch eine unzivilisierte, eine quasi „barbarische Verachtung“ geben. Wer aber übt diese barbarische Verachtung aus – und was bedeutet es, Verächter dieser Art zumindest implizit als Barbaren zu kennzeichnen? Es hebt diejenigen, die zivilisierte Verachtung praktizieren auf eine andere, den „barbarischen Verächtern“ überlegene Stufe. Zur Verteidigung der eigenen Argumentationslinie mag dies hilfreich sein, ein friedliches Miteinander in der Gesellschaft ist so wohl kaum möglich.

Aber selbst wenn man mit Strengers Diagnose übereinstimmt, bleibt unklar, wie genau nun mittels zivilisierter Verachtung die westlichen Werte verteidigt werden könnten. Besonders wenn Strenger Beispiele wie die Fatwa gegen Salman Rushdie oder die Anschläge auf die Zeitschrift Charlie Hebdo thematisiert, wird deutlich, dass er die Freiheit nicht nur gegen die Behauptung der Überlegenheit anderer Kulturen oder Werte verteidigen, sondern sie in der Tat gegen gewalttätige Angriffe schützen möchte. Doch hätten sich die Attentäter von Paris etwa von ihren Anschlägen abhalten lassen, wenn nur die westliche Linke voller Stolz und Leidenschaft zur Verteidigung ihrer ­Werte bereit gewesen wäre?

Auch der Autor muss Kritik aushalten

Strengers Plädoyer dafür, wohlüberlegte und gut argumentierte Positionen zu vertreten, die nicht einfach auf unbewiesenen, vermeintlich unumstößlichen Glaubenssätzen religiöser oder sonstiger Natur beruhen, ist allemal unterstützenswert. Auch die Forderung, dass wir alle lernen müssen, Kränkungen hinzunehmen, es zu ertragen, wenn eigene Überzeugungen in der Öffentlichkeit ins Lächerliche gezogen werden, ist unerlässlich in einer Gesellschaft, die die Meinungsfreiheit hochhalten will. Dass jedoch das Konzept der zivilisierten Verachtung das richtige Vehikel für die Durchsetzung dieser Forderungen ist, muss bezweifelt werden. In jedem Fall wird Strenger begründete Kritik an seinem Konzept aushalten müssen – genau die Praxis also, die er mit seinem Buch wiederbeleben will.«

Carlo Strenger, Zivilisierte Verachtung: Eine Anleitung zur Verteidigung unserer Freiheit, Berlin: Suhrkamp Verlag 2015, 104 Seiten, 10 Euro

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