Unser größter Sieg: Die völlige Sozialdemokratisierung der Union

Wer die Blaupause des Leipziger Programms der CDU über die Politik der Großen Koalition legt, stellt fest: Überall hat sich sozialdemokratische Politik durchgesetzt - zum Nutzen unseres Landes. Ihre Erfolge in sieben Jahren Rot-Grün und vier Jahren Großer Koalition muss die SPD selbstbewusst vertreten. Sonst sinkt ihre Glaubwürdigkeit ins Bodenlose

Unser größter Erfolg der vergangenen elf Jahre ist die nahezu vollständige Sozialdemokratisierung der Union. Dies war auch ein Grund für unseren bisher größten Misserfolg bei den Bundestagswahlen am 27. September 2009: Die SPD besaß kein „Alleinstellungsmerkmal“ mehr. Wer die Blaupause des Leipziger Parteitags der CDU über die Politik der Großen Koalition legt – angefangen von der Finanzpolitik über die Bildungs- bis zur Familienpolitik –, wird keinerlei Schnittmengen erkennen können. Überall hat sich sozialdemokratische Politik durchgesetzt.

Wähler und Wählerinnen hatten daher die Wahl zwischen einer unions-sozialdemokratischen und einer SPD-sozialdemokratischen Politik. Sie haben sich mehrheitlich für unions-sozialdemokratisch entschieden – oder für angeblich neoliberal. Denn auch die Vermutung, mit Angela Merkel und Guido Westerwelle kehre die „soziale Kälte“ ein, wird weitgehend ins Leere gehen: Sozialdemokratisches Gedankengut hat längst auch in der FDP ihren festen Platz. Die SPD steht also vor der schwierigen Aufgabe, gegen eine sozial-liberale Koalition mit einigen konservativen Einsprengseln (Stichwort Betreuungsgeld) und ein paar neoliberalen Zutaten (Stichwort Gesundheitspolitik) zu opponieren. Letztere zu entlarven, wird nicht reichen, um Profil zu gewinnen.

Auch wird die Strategie nicht aufgehen, sich an die Linkspartei anzubiedern, substanzlose Koalitionsspielereien zu betreiben oder um die linken Nischen zu konkurrieren. Primär müssen wir klären, wer wir sind und welche ureigenen politischen Ziele wir haben. Erst in einem zweiten Schritt geht es darum, mit wem wir unsere politischen Ideen durchsetzen wollen. Alles andere würde unseren endgültigen Abschied als Volkspartei bedeuten und unsere Glaubwürdigkeit ins Bodenlose sinken lassen. Stattdessen müssen wir selbstbewusst die Erfolge von sieben Jahren Rot-Grün und vier Jahren Großer Koalition vertreten. Dazu gehören auch weite Teile der ungeliebten Agenda 2010.

Gleichzeitig müssen wir ohne Anbiederung kritikfähig und änderungsbereit gegenüber von uns zu verantwortenden Fehlentwicklungen sein. Die Bilanz der Agenda 2010 ist überwiegend positiv. Dennoch brauchen wir eine breite, kontroverse Diskussion darüber, warum das in der Sache richtige Zusammenlegen von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe den Betroffenen Angst macht und als ungerecht empfunden wird. Als Ergebnis dieser Diskussion müssen konkrete Projekte für die nächsten vier Jahre und darüber hinaus auf den Weg gebracht werden.

Vor allem arbeitslose Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, die vorher lange erwerbstätig waren, empfinden die Agenda 2010 als ungerecht. Sie wollen nicht mit denjenigen gleichgestellt werden, die noch nie erwerbstätig waren, sie haben Angst davor, „aufs Amt“ zu müssen und ihre Verhältnisse offen zu legen. Vor allem haben sie – teilweise unberechtigt – Angst davor, große Teile ihrer Altersvorsorge aufbrauchen zu müssen, bevor sie Arbeitslosengeld II bekommen.

Mit der Vorsorge tun sich viele schwer

Zunehmend kritisiert wird die Agenda aber auch von denen, die noch nie gearbeitet haben, obwohl sie nach der Reform samt und sonders andere, meist bessere, Bedingungen vorfanden als zuvor. Seitdem ist jeder renten-, kranken- und sozialversichert, es besteht ein Anspruch auf Arbeitsvermittlung und Fördermaßnahmen, die Bedarfssätze wurden gegenüber der Sozialhilfe erhöht. Im Gegenzug wird aber auch erwartet, dass man sich sein Geld einteilt und zum Beispiel für die Reparatur der Waschmaschine oder den neuen Wintermantel Vorsorge betreibt. Hiermit tun sich viele schwer. Ferner ist klar, dass beide Gruppen nicht mit Bedarfssätzen für Kinder zurecht kommen können, da diese mit der Lebenswirklichkeit nichts zu tun haben. Leider wird darüber wieder einmal das Bundesverfassungsgericht entscheiden und nicht die Politik.

Vor diesem Hintergrund gewinnt die Idee eines existenzsichernden, bedingungslosen Grundeinkommens (oder Bürgergeldes), anrechenbar auf Erwerbs-, Kapital-, Renten- und sonstige Einkommen, an Charme. Dies würde nicht zuletzt das bundesdeutsche Unterhaltsrecht revolutionieren und endlich auch das Ehegattensplitting überflüssig machen. Der Gang „aufs Amt“ wäre für die Nicht-Erwerbstätigen überflüssig. Ich weiß, dass nicht wenige dieses Konzept für Spinnerei halten, aber zunehmend mehr Menschen in allen Parteien betrachten das bedingungslose Grundeinkommen als realistische Vision, weshalb wir in der SPD Position dazu beziehen sollten.

Auch bei einem bedingungslosen Grundeinkommen bleibt das Ziel erhalten, Vollbeschäftigung zu erreichen. Deshalb müsste eine solche Maßnahme durch ein Projekt des vorsorgenden Sozialstaates flankiert werden, der die Integration aller durch Teilhabe an allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens gewährleistet: dem wirtschaftlichen wie dem kulturellen, dem sozialen wie dem politischen. Ein vorsorgender Sozialstaat, der das zivilgesellschaftliche Engagement fördert und auf Bildung und lebenslanges Lernen setzt. Ein vorsorgender Sozialstaat, der Armutsbekämpfung endlich nicht mehr mit Erhöhung von Transferleistungen gleichsetzt, sondern die Befähigung der Menschen zu einem selbstbestimmten Leben zum Ziel hat. Eine laute und kontroverse Diskussion über diese beiden Elemente eines künftigen Sozialstaats würde uns voranbringen. Denn die SPD war immer dann interessant – auch für die Wählerinnen und Wähler –, wenn sie sich in der Sache gestritten hat, wenn es ihr um etwas ging.

Wenn wir im Sinne Willy Brandts „links und frei“ sein wollen, dann müssen wir in seinem Sinne wieder „mehr Demokratie wagen“. Auch in Zeiten der Terrorismusgefahr dürfen wir uns nicht von den Grundsätzen eines freiheitlichen Staates verabschieden. Datenschutz, der zunehmend überwachte gläserne Mensch und vor allem die immer niedrigere Wahlbeteiligung zeigen: Als zweites großes sozialdemokratisches Projekt brauchen wir eine Wiederbelebung der Demokratie, eine „Demokratie-Reha“. Stichpunkte dafür sind nicht nur Volksinitiative, Volksbegehren und Volksentscheid auf Bundesebene, sondern auch Mitentscheidungsmöglichkeiten bei Kandidatenaufstellungen, Panaschieren und Kumulieren auch bei Bundestagswahlen und vieles mehr.

Die Volksparteien Union und SPD erreichen noch 23 beziehungsweise 16 Prozent der Wahlberechtigten. Wir sind nicht mehr weit entfernt von Zuständen, wie sie José Saramago in seinem Buch Stadt der Sehenden beschrieben hat – es ist also höchste Zeit zu handeln. Wir in der SPD verfolgen das Ziel, das Maß an sozialer und materieller Sicherheit zu schaffen, ohne das Freiheit nicht entstehen kann. Und das Maß an bürgerlicher Freiheit zu erreichen, ohne das Demokratie nicht gelingen kann. «

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