Unser Ausland

Vom Versuch, deutschen Fernsehzuschauern internationale Politik nahezubringen

Morgens um acht schlägt die Stunde der Wahrheit. Auf dem Bildschirm bauen sich gezackte Linien auf. Rot steigt zunächst und fällt dann ab, gelb dümpelt vor sich hin, grün zittert hin und her, blau fällt am Anfang und steigt dann. Blau - das sind wir.

Die farbigen Linien zeigen, wer am Vortag was im deutschen Fernsehen gesehen hat. Was war interessanter: der Spielfilm bei Pro7, Columbo bei RTL, Monitor in der ARD oder unser ZDF-auslandsjournal? Wer hat im Laufe der Sendung gewonnen, wer verloren? Marktforschung, auf die Minute genau. Ermittelt von der Gesellschaft für Konsumforschung für alle deutschen Sender - die gültige Währung der Branche.

Die gezackten Linien füllen sich mit Leben, wenn die Fernseh-Macher abgleichen: Was haben wir in der Minute gesendet, in der die Quote steigt? Was, als sie gesunken ist? Auf den einzelnen Beitrag genau lässt sich so feststellen, welches Thema die Zuschauer fesselt. Oft stimmen die Linien mit den Programmabläufen verblüffend überein: Zugewinne mit Beginn der Nachrichtensendungen, ein Werbeblock - und die Kurve fällt.

Über die Monate hinweg erlaubt uns das beim ZDF-auslandsjournal eine kühne Einschätzung - nämlich, welche Vorgänge im Ausland die Deutschen interessieren, wie politisch es sein darf, wie unterhaltsam es sein muss. Wie schneiden außenpolitische Themen im Vergleich zur Innenpolitik ab, wie groß ist das Interesse, das die neue "Berliner Republik" an Europa und an der Welt hat?

Manches ist ernüchternd. Eine exklusive Reportage aus dem Iran. Studenten erzählen zum ersten Mal offen vor der Kamera, warum sie protestieren. Sie riskieren viel damit. Unser Team hat Tage gebraucht, sie zu diesen Aussagen zu bewegen. Der Staat verfolgt Kritiker. Die Studenten erzählen klar und verständlich. Unsere Kamera fängt Bilder von Protesten ein, die näher dran und eindringlicher sind, als das, was Nachrichtenagenturen bis dato geliefert haben. Journalistisch ist der Beitrag eine Perle. Die Redaktion ist stolz, ihn im Programm zu haben. Das Thema ist aktuell. Das Thema ist relevant. Aber: Das Thema ist dem Publikum herzlich egal. Während der Sieben-Minuten-Reportage schalten fünfhunderttausend Zuschauer um. Die blaue Linie fällt. Die rote Linie steigt. Monitor darf sich freuen.

Ausland hat es nicht leicht im Fernsehen. Seit die Deutschen immer mehr die Welt bereisen, nimmt der Reiz der Exotik auf dem Bildschirm ab. Zudem gibt es immer mehr Probleme vor der Haustür: Warum sich ein Bild von der Arbeitslosigkeit in Argentinien machen, wenn man in Dortmund gerade selbst den Job verloren hat? Andere Probleme haben sich dagegen erübrigt: der Kalte Krieg zum Beispiel. Die Integration östlicher Staaten in die Nato und die EU ist an seine Stelle getreten. Das ist wichtig, aber für Fernsehzuschauer ist es nicht immer so spannend wie Columbo.

Ausland interessiert, das zeigt die Marktforschung, wenn es aktuell und packend daherkommt: der Kosovo-Krieg in Sondersendungen, die Krise in Timor in den Nachrichten. Allerdings, auch das vermitteln unsere gezackten farbigen Linien genau, darf die Krise nicht allzu lange andauern. Die Einschaltzahlen sinken dann, das Interesse erlahmt schnell. Ein paar Tage, selten ein paar Wochen, dann muss der nächste Reiz her.

Fernsehmacher (und wahrscheinlich auch andere Vermittler politischer Prozesse) machen sich da wenig vor: Der eigene Bauch sagt, wann man sich langweilt, welche Themen gehen und welche nicht. Und tatsächlich, die Marktforschung bestätigt es jeden Morgen aufs Neue: Der Absturz von John F. Kennedy Jr. - die Quoten steigen binnen Minuten; Friedensverhandlungen zwischen Israelis und Palästinensern - zu abstrakt, zu weit weg, zu wenig Emotionen, zu oft gesehen: Die Linie fällt. Die Fernbedienung ist immer zur Hand. Jeder ist sein eigener Programmdirektor.

Hintergründe zu vermitteln, sich Zeit zu nehmen, internationale Zusammenhänge darzustellen und den Ursachen von Krisen auf den Grund zu gehen - das ist die Herausforderung, vor der außenpolitische Fernsehmagazine in Deutschland stehen. Den Spagat schaffen zwischen komplexen Themen und den Sehbedürfnissen der Zuschauer, zwischen Aufklärung und Unterhaltung, zwischen Programmauftrag und Quote.

Das ZDF sendet sein auslandsjournal im Hauptabendprogramm, jeden Donnerstag um 21.15 Uhr. Ein Statement des Senders. Nicht ohne Grund verzichten schließlich kommerzielle Stationen darauf, originär außenpolitische Magazine überhaupt anzubieten. Unterhaltung verspricht dort offenbar mehr Erfolg. Die prime time im ZDF ist deshalb besonderer Ansporn für die Redaktion und die Auslandskorrespondenten, jedes Mal möglichst viele Zuschauer für die relevanten Vorgänge auf dem Globus zu interessieren.

In den vergangenen Monaten ist das immer besser gelungen, nicht zuletzt dank der farbigen Linien der Marktforschung. Das Rezept: Akzeptanz durch Penetranz. Soll heißen: Die Sendung wird so gebaut, dass der Zuschauer eine klare Erwartungshaltung aufbauen kann, die Woche für Woche konsequent befriedigt wird.

Die Redaktion hat das Profil der Sendung geschärft. Keine Ein- oder Zwei-Minutenberichte wie in den Nachrichten, sondern sieben- bis achtminütige Reportagen, um sich zu unterscheiden. Ruhige und eindringlich erzählte, exklusive Geschichten inmitten der allgemeinen Bilderflut. Zugespitzte Magazin-Beiträge mit Ecken und Kanten. Die Redaktion versucht, jedes noch so abstrakte Thema zu personalisieren. Protagonisten, die den Zuschauer mit auf die Reise nehmen. Und wann immer möglich, auch die Relevanz für das deutsche Publikum deutlich machen: Belgische Dioxineier landen auf hiesigen Tellern, unsichere Autobahntunnel in Österreich gefährden deutsche Urlauber auf ihrer Reise in den Süden.

Offenbar, auch das zeigt die Marktforschung, ist der Zuschauer bereit, sich auf das Ausland einzulassen, wenn nur die Mischung stimmt. Wenn das auslandsjournal mit einem starken emotionalen Thema beginnt, bleiben danach viele Zuschauer bei politischen Inhalten dran. Beiträge über das dramatische Erdbeben in der Türkei bringen vier Millionen Menschen am 19. August dazu, das auslandsjournal einzuschalten. Anschließend informieren sich noch über dreieinhalb Millionen über den Kampf der russischen Armee im Kaukasus gegen islamische Rebellen. Ein Erfolg für Quote und Qualität!

Allerdings, eines muss auch über die Sehgewohnheiten der Deutschen gesagt werden. Die Marktforschung kann sie nicht immer genau vorhersagen. Manchmal ist der Zuschauer nicht so vordergründig, wie die Fernsehmacher glauben. Schockierende Bilder sind nicht automatisch ein Quotenerfolg.

Ein Beispiel: Im August hat das auslandsjournal sich in einem Beitrag der schlimmen Zustände bei Tiertransporten in Europa angenommen. Heimlich gemachte Aufnahmen, erschütternde Bilder, die zeigen, was Tiere auf dem langen Weg in die Schlachthäuser alles ertragen müssen, trotz verschärfter Richtlinien innerhalb der Europäischen Union. Ein anrührendes Thema, ein Verbraucherthema, ein politisches Thema. Die Presse hat den Film vorab umfangreich angekündigt. Und doch schalten mit Beginn des Beitrags fast eine Million Zuschauer ab. Offenbar geht ihnen das Elend der Tiere so nahe, dass sie es nicht ertragen können, es sich anzusehen.

Ein anderes Mal sind die Zuschauer politisch interessierter als von der Redaktion angenommen. So hat das auslandsjournal etwa einen Beitrag über die Energieversorgung in der Ukraine gesendet vor dem Hintergrund des Streits in Deutschland um Kredite für dortige Atomkraftwerke. Sieben Minuten sachliche Information, sorgfältig recherchiert, ruhig erzählt vom Moskauer Korrespondenten. Die Redaktion hat das Thema gemacht in dem Bewusstsein, dass man das wohl machen müsse, weil es relevant und aktuell sei und in das Profil der Sendung passe - wo sonst bekommen Zuschauer schließlich solche Hintergründe? Aber kaum jemand hat erwartet, dass das Thema in Bottrop, Husum oder Erfurt ein Hit würde. Zu weit weg, zu wenige Bezüge zum Alltag in Deutschland. Notwendig und verdienstvoll, aber ein "Kopfthema". Und dann das: Über drei Millionen Zuschauer gucken sich das Stück an. Von Minute zu Minute schalten mehr Menschen zu. Der "Bauch" der Journalisten lag daneben.

Eine Überraschung, die Mut macht. Ecken und Kanten können sich immer wieder inmitten der durchgetesteten Programme durchsetzen.

So bleibt es also spannend, morgens um acht nach der Sendung, wenn die gezackten Linien auf dem Bildschirm erscheinen.

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