Ungleich, ungerecht, ineffizient

Das deutsche Bildungssystem gleicht soziale Ungleichheit nicht aus, sondern verstärkt sie gezielt. Die Bürger finden das mehrheitlich sogar gerecht - für eine Gesellschaft des 21. Jahrhunderts ist dieses Gleichheitsparadox zerstörerisch

Das Bildungssystem ist nirgends in so großer Verwirrung wie bei der Frage der Gerechtigkeit. Jedermann hat in seinem Alltagswissen gespeichert, dass Schulen gerecht sein müssen. Alle sollen in der Schule die gleichen Chancen haben. Das ist so etwas wie ein Gemeinplatz, eine selbstverständliche Wahrheit. Aber sieht es in der Wirklichkeit nicht ganz anders aus? Sehen wir uns ein Phänomen an, das so prominent wie beispielhaft für Gleichheit und Gerechtigkeit in der Bildung ist: den Protest gegen Studiengebühren.

Zu den Ritualen im Bildungswesen gehört es, dass Studierende gegen die Einführung des Bezahlstudiums demonstrieren. Studiengebühren seien ungerecht. Sie erhöhten die Ungleichheit im Bildungswesen. Sie verletzten, ja gefährdeten das Recht auf Bildung. So verkünden es die Transparente der Studierenden. Diese Argumente werden bis weit in Parteien und Publizistik geteilt – obwohl sie geradezu blödsinnig sind. Es ist anhand der sozialen Lagen im Bildungswesen nicht nur falsch zu behaupten, Studiengebühren verletzten das Recht auf Bildung. Es ist ein gesellschaftlicher Skandal, dass sich ausgerechnet jene Gruppe ungleich behandelt fühlt, die die größten Bildungsprivilegien genießt. Dabei gibt es im Bildungssektor andere Gruppen, die wirklich benachteiligt werden.

Die Studenten sind nur ein Ausschnitt ihrer Alterskohorte. In Deutschland kann lediglich eine Minderheit ein Studium aufnehmen. Gerade einmal 40 Prozent erhalten dazu das Recht. Die Hochschulreife kann auch nur auf bestimmten Schulen erworben werden. Die Auswahl für diese Schulen wird sehr früh in der Bildungsbiografie vorgenommen. Formal erfolgt sie nach Leistung, aber alle wissen, dass die soziale Herkunft den Ausschlag gibt. Die Sozialerhebungen des Studentenwerks bestätigen die soziale Schieflage an den Hochschulen eindrucksvoll. 36 Prozent der Studierenden stammen aus der hohen sozialen Herkunftsgruppe, 23 Prozent aus der höheren. Das heißt: Fast zwei Drittel der Studenten kommen aus Akademikerhäusern. Die Schönen und Reichen der Nation genießen an den Hochschulen das Recht auf Bildung also in vollen Zügen – und sie tun das obendrein praktisch gratis. Die Hochschulen werden zu einem überwältigend großen Anteil aus Steuern, also von allen gesellschaftlichen Gruppen finanziert. Nutzen dürfen die Beletage des Bildungssystems aber nur bestimmte Gruppen. Das ist ungerecht.

Ähnlich unfair geht es in den unteren Stockwerken des Bildungssystems zu. In Sonderschulen, eigentlich für behinderte Kinder errichtet, sammeln sich überproportional viele sozial Benachteiligte und Zuwandererkinder. Von den 420.000 Schülern sind mehr als 60 Prozent wegen sozialer und Lernauffälligkeiten in „Förder“-Schulen gelandet. Es herrscht dort nicht nur „pädagogische Friedhofsruhe“ (Hans Wocken), sondern auch Berechtigungslosigkeit: Etwa 80 Prozent der Schüler erhalten in Sonderschulen gar keinen Abschluss.

Ironischerweise entsandten die Vereinten Nationen einen Sondergesandten in die deutschen Sonderschulen, um die Lage vor Ort zu erkunden. Vernor Muñoz Villalobos, hoher Mitarbeiter des UN-Menschenrechtskommissars, schrieb später in seinen Bericht, dieser spezielle deutsche „Bildungs“-Zweig sei mit den Menschenrechten nicht vereinbar. Bitte zügig abschaffen! Muñoz betonte in seinem Deutschlandbericht, die Ungerechtigkeit hänge mit der Struktur des Schulsystems zusammen: „Ich glaube, dass das gegliederte System und die Art der Aufteilung der Schüler soziale Ungleichheit betont.“ Ungleichheit erzeugt Ungerechtigkeit, könnte der Lehrsatz heißen, den man  aus dieser Bildungspraxis in Sonderschulen ableiten kann.

Niemand kämpft für die Sonderschüler

Die Gegenüberstellung von Hoch- und Sonderschulen mag plakativ sein, gerechtfertigt ist sie allemal. Denn in beiden Fällen wird das „Recht auf Bildung“ bemüht. Hier die Studenten, die Inhaber besonderer Rechte sind – und dennoch massenhaft gegen die angebliche Verletzung ihres Rechts auf Bildung demonstrieren. Dort die Sonderschüler, deren Menschenrechte tatsächlich in Gefahr sind – und dennoch steht niemand auf, um für sie zu kämpfen. Über dieses Missverhältnis kann man sich echauffieren. Zugleich verbirgt sich dahinter aber auch ein Phänomen: Warum gehen objektiv Privilegierte auf die Straße und werden dafür auch noch beklatscht? Und wie kann es sein, dass gleichzeitig die Rechtlosen und Minderberechtigten trotz Beistandes der Vereinten Nationen in der Gesellschaft nur zögerlich Anerkennung für ihre Position finden? Das Gefühl für Gleichheit und Gerechtigkeit in der Gesellschaft ist verschoben. Dies gilt nicht nur im Hinblick auf Bildung, aber in diesem Bereich ist das Bewusstsein dafür, was gerecht ist, besonders eigentümlich ausgeprägt.

Das deutsche Schulsystem sortiert Kinder aus

Vielleicht kann man es so sagen: Die Bürger bringen ihr Alltagswissen über eine gerechte und gleiche Schule nicht mit den tatsächlichen Zielen und Wirkungen des Bildungssystems zusammen. Die Pisa-Studien der OECD ergeben seit 2001 beharrlich das gleiche Ergebnis: Das deutsche Bildungssystem ist besonders ungerecht. Dennoch halten die Bürger ausgerechnet dieses System mehrheitlich für gerecht. Das bestätigte auch eine Studie der Berliner Humboldt-Universität für die Zeitschrift GEO. Demnach halten 40 Prozent der Deutschen das Bildungssystem für gerecht – „obwohl es im internationalen Vergleich als extrem unfair dasteht“.

Sieht man sich näher an, wie das deutsche Bildungssystem aufgebaut ist, nach welchen Prinzipien es Berechtigungen vergibt und wie es mit Ungleichheit umgeht, so kann einem schwindelig werden. Selbstverständlich haben sich Schulen und Hochschulen auf vielerlei Art und Weise fortentwickelt. Die Rohrstock- und Drillschule ist einer Schule gewichen, in der es verboten ist, Kinder zu schlagen. In den sechziger und siebziger Jahren gab es einen Bildungsaufbruch. Und heute halten sich an den Gymnasien, je nach Bundesland, bis zu 50 Prozent eines Jahrgangs auf; in den 1880er Jahren waren es in Preußen nur mickrige drei Prozent. Kurz: Vieles ist anders und besser geworden.

Und dennoch blieb ein Muster des 19. Jahrhunderts bis heute unangetastet: Es gibt in Deutschland nach wie vor geteilte Bildungsrechte. Nicht jeder erhält die gleichen Start- und Bildungschancen. Der Staat unterrichtet seine künftigen Bürger nach ganz unterschiedlichen Lehrplänen: Sonder- und Hauptschüler lernen anders und weniger als Realschüler, diese wiederum weniger als Gymnasiasten. Die daraus resultierenden Rechte und Chancen sind, wie wir gesehen haben, dramatisch unterschiedlich.

Nun lässt sich absolute Gleichheit bei den Startchancen nicht herstellen, das ist geradezu unmöglich. Aus den jeweiligen gesellschaftlichen Lagen heraus ergeben sich „feine Unterschiede“, wie dies der Soziologe Pierre Bourdieu ironisch formulierte. Kate Pickett und Richard Wilkinson kommen in ihrer Metastudie Gleichheit ist Glück zu dem Ergebnis, „die Familie ist der entscheidende Faktor für gute schulische Leistungen“. Die beiden Autoren tendieren sogar zu der Auffassung, die Schule und das Bildungssystem seien nicht mehr als eine Art Reparaturwerkstatt für gesellschaftliche Ungleichheit. Dies widerspricht allerdings Erkenntnissen aus Studien (die sie übrigens selbst präsentieren), wonach unterprivilegierte Kinder durch intelligente Förderung im Bildungssystem später höhere Einkommen erzielen können. Der Staat kann solche Unterschiede also nicht vollkommen ausgleichen. Aber wenn er ein demokratischer Staat sein will, muss er alles unternehmen, um die Differenzen zu verkleinern oder mindestens nicht größer werden zu lassen.

Das deutsche Schulsystem tut aber genau das Gegenteil. Es sortiert die Kinder bereits ab dem zehnten Lebensjahr auf Schulen, die den soziologischen Schichten dann unterschiedlich relevantes Wissen vermitteln. Mit anderen Worten: Über das Schulsystem verstärkt der Staat gezielt die soziale Ungleichheit. Es gibt für diesen staatlichen Skandal eine Vielzahl an verlässlichen empirischen Daten. Nur die besonders gravierenden seien hier benannt.

Fast ein Viertel der 15-Jährigen kann nicht lesen

In Gymnasien und Hochschulen konzentrieren sich die Angehörigen der höheren gesellschaftlichen Schichten. Die Hauptschulen hingegen sind das Sammelbecken der Kinder von Arbeitslosen, Ungelernten und Einwanderern geworden. Der Anteil an so genannten Risikoschülern – das sind 15-Jährige, die praktisch nicht sinnvoll lesen können – ist in diesen Gruppen enorm hoch. Ihre Zukunfts- und Teilhabechancen sind in allen Lebensbereichen deutlich geringer. Diese Sortierung ist nicht etwa Zufall, sondern ganz offenkundig der Zweck des Bildungssystems.

Die empörendste Zahl ist vielleicht diese: Wenn das Kind eines Arbeiters exakt die gleichen kognitiven Leistungen erbringt und den gleichen Intelligenzquotienten aufweist wie ein Akademikerkind, ist dennoch die Wahrscheinlichkeit, dass es auf ein Gymnasium überwiesen wird, fünfmal geringer als für das Kind des Akademikers. Dieser Wert widerspricht den Zielen einer gerechten Gesellschaft fundamental. Und er ist auch ein grober Verstoß gegen die Idee einer meritokratischen Gesellschaft, die darauf angewiesen ist, möglichst alle Talente zu erkennen und zu fördern und die Besten für ihre Weiterentwicklung auszuwählen. Kurz gesagt: Das deutsche Schulsystem ist ungleich, ungerecht und undemokratisch.   

Aber es regt sich vergleichsweise wenig Protest dagegen. Nach der ersten Pisastudie empörten sich sehr viele darüber, dass Deutschland abgeschlagen auf Platz 32 im internationalen Schülerranking gelandet war. Aber nur wenige bemerkten das eigentliche Problem: Fast ein Viertel der 15-Jährigen kann praktisch nicht lesen. Und in den Hauptschulen reichen die Raten der Risikoschüler bis an die 90-Prozent-Marke heran. Das ist eine verheerende Bilanz. Der Staat schafft ein Schulsystem, in dessen unterster Schublade neun von zehn Kindern im Alter von 15 Jahren praktisch nicht lesen können. Die besten Bildungsforscher des Landes warnen vor den „Marienthal“-Schulen, den Schulen der Hoffnungslosigkeit. Denn dort entstehen differenzielle Lernmilieus – und es herrschen für deren Schüler viel schlechtere Entwicklungsbedingungen als an anderen Schulen. Dies alles ist staatlich bekräftigte und erzeugte Ungleichheit.

Warum bleibt der Aufstand aus?

Warum bleibt der gesellschaftliche Aufstand dagegen aus? Wie kann es sein, dass in manchen Städten die Bürger sogar gegen die Auflösung der Hauptschulen demonstrieren? Dass sie Hauptschulen mit „Scheißehaufen“ vergleichen? Weil es in Deutschland kaum ein Bewusstsein für eine demokratische Schule gibt. Das scharf gegliederte preußische Schulwesen, Leitbild für die anderen deutschen Länder, ist nie erfolgreich infrage gestellt worden. Alle Versuche, es 1809 (Wilhelm von Humboldt), 1848 (Paulskirche), 1880 (Gymnasialstreit), 1919 (Einführung der gemeinsamen Grundschule), 1949 (SBZ und amerikanische Truppen) oder in den siebziger Jahren (Bildungsexpansion) abzuschaffen, endeten in hässlichen innenpolitischen Schulkriegen. Eine Schule, die alle Schüler gemeinsam bis zur achten oder neunten Klasse besuchen, ist in anderen Ländern eine demokratische Selbstverständlichkeit. In Deutschland wird sie bis in unsere Tage als eine „Einheitsschule“ gebrandmarkt. „Einheitsschule bedeutet Gleichmacherei“, sagte etwa der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Jürgen Rüttgers (CDU) noch in diesem Jahr. Das Zitat offenbart, dass in Bildungsfragen ein fundamentales Missverständnis über Gleichheit und Gerechtigkeit herrscht.

In Deutschland gilt, dass es gerade dann gerecht zugeht, wenn ungleiche Bildungsverhältnisse herrschen. Gehen hingegen alle in ein und dieselbe Schule, wird dies als Unrecht angesehen. Das Wort Einheitsschule gefällt nicht nur Rüttgers. Es hat einen absolut abschreckenden Effekt, deswegen eignet es sich ja so gut als Kampfbegriff, mit dem sich Bürger aufbringen lassen. Auch der Terminus Gesamtschule hat, von wenigen Städten mit erfolgreichen Schulen dieser Art abgesehen, einen negativen Beiklang.

Dieser Republik fehlt eine demokratische Schulstunde Null. Ein Neustart, ein Reboot, der das Bewusstsein dafür schärft: Kinder mit zehn Jahren auf Schulen mit unterschiedlichen Lernprogrammen zu verteilen ist ein Unding. So etwas tut man nicht. Man perforiert eine Gesellschaft nicht im Alter von zehn Jahren in ein Oben und Unten. Die Alliierten haben in Deutschland die Demokratie eingeführt. Aber ihr Re-education-Programm ist ausgerechnet bei der Bildung gescheitert: Eine demokratische Schule haben sie nicht errichten können. Die Briefe des amerikanischen Oberbefehlshabers Lucius D. Clay nach Washington atmen ab 1949 den Geist zunehmender Verzweiflung: Diese Deutschen wollen gar keine demokratische Schule, schreibt er sinngemäß. Man müsste ihnen die Gesamtschule aufzwingen, also mit militärischer Gewalt durchsetzen. Aber das ginge ja nicht.

Nur noch 6.000 Stimmen bis zur Zukunft

Im 19. Jahrhundert hat der Staat in Deutschland einen Pakt mit dem Bürgertum geschlossen: „Wenn ihr keine Revolution macht, dann schenke ich euch eine Schule, die zum Studium führt und in die ausschließlich eure Kinder dürfen: das Gymnasium.“ Wenn der Staat diesen Pakt aufkündigt, wenn er den privilegierten Zugang zum Gymnasium angreift, dann macht das Bürgertum eine Revolution. So geschieht es gerade in Hamburg, wo der Senat eine sechsjährige Grundschule einführen will. Nur dass die Revolution mit den Waffen des 21. Jahrhunderts gefochten wird, einem Volksentscheid, der das entsprechende Schulgesetz aufheben soll.

Was kann man also tun? Wie kann es trotzdem weiter gehen? Zum einen muss man zur Kenntnis nehmen, dass es die skizzierte Gleichheitsanomalie gibt. Schnelle und einfache Veränderungen der Haltung, dass eine gleiche Schule eine ungerechte Schule ist, sind nicht ohne weiteres zu haben. Zum anderen hat sich die Lage dennoch verändert. Die spezielle deutsche Schulgliederung ist extrem ineffizient. Eine Exportnation wie die deutsche kann sich ein Schulsystem, das ein Fünftel seiner Absolventen als Bildungsverlierer entlässt, schlicht nicht leisten. Schon gar nicht unter den Bedingungen eines rasanten technologischen Fortschritts und eines dramatischen demografischen Wandels. Hinzu kommt: Das Bildungssystem ist nicht nur undemokratisch und ungerecht – es ist auch extrem ineffizient. Obwohl die Kultusminister seit Jahren Millionensummen in die Hauptschulen investieren und deren Klassen immer kleiner machen, gelingt es ihnen nur marginal, die Zahl der Schulabbrecher zu senken.

Bildungsforscher wie Andreas Schleicher von der OECD sagen knapp: Man kann mit einem Bildungssystem aus dem 19. Jahrhundert im 21. Jahrhundert keinen Blumentopf mehr gewinnen. Er meint damit, dass eine Schule mit einem ständischen Grundmuster nicht in der Lage ist, genug kreative Bürger für eine technologieorientierte Exportnation zu mobilisieren. Sieht man sich das Schulsystem näher an, so bestätigt sich das: Die Idee, die Schüler nach vorgefertigten Begabungen fix ausbilden zu können, ist fehlgeschlagen. Idealtypische Haupt- und Realschüler sowie Gymnasiasten gibt es nicht. Genau betrachtet leidet dieses System an etwas, das es gar nicht haben möchte: an Gleichmacherei. Denn in den drei Schultypen werden ja vermeintlich homogene Schüler sortiert – damit man sie im Gleichschritt laufen lassen kann.

Die Republik steht an einem Scheitelpunkt der Geschichte. Früher gewann ein Mann wie Jürgen Rüttgers Wahlen mit Angstgemälden von Gleichmacherei haushoch. Heute gewinnt er sie nur noch hauchdünn. Zuletzt im Mai 2010 mit einem Vorsprung von 6.000 Stimmen vor Parteien, die einen grundlegenden Umbau des Schulsystems befürworten. Das bedeutet: Wir sind nur noch 6.000 Stimmen von der Zukunft entfernt. «  

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