Über Polizei und Gewalt

Die Rolle der Polizei in der Gesellschaft hat sich stark verändert. Längst nicht mehr so selbstverständlich wie früher kann sie mit Bewunderung und Anerkennung rechnen. Einst geltende Normen stehen infrage. Warum eine gesellschaftliche Debatte über legitimes polizeiliches Handeln und seine Regeln in unserer Demokratie überfällig ist

Das Thema Polizei und Gewalt ist in Deutschland in den vergangenen Jahren immer mal wieder in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt. Spätestens seit dem eskalierenden Großeinsatz gegen die Gegner von „Stuttgart 21“ im Herbst 2010 wird öffentlich verstärkt über die Verhältnismäßigkeit von Polizeieinsätzen diskutiert und die von der Polizei ausgehende Gewalt hinterfragt. Dass in Hamburg kürzlich ein „Gefahrengebiet“ ausgerufen wurde, löste sogar eine Debatte über die Konsequenzen polizeilicher Maßnahmen für den demokratischen Rechtsstaat aus.

Kein Zweifel: Demokratisch fundierte Polizeiarbeit ist von mehreren Widersprüchen geprägt, im Kleinen wie im Großen. Ihr grundlegendes Dilemma besteht darin, dass Polizisten und Polizistinnen, um Frieden zu stiften, das Gleiche tun müssen, was für den Unfrieden verantwortlich ist – nämlich Gewalt anwenden.

Die Gewalt des Staates darf dabei den engen Rahmen der Legalität nicht verlassen. Ob sie ihn doch verlässt, lässt sich faktisch erst im Nachhinein feststellen. Es ist durchaus möglich, dass Legalität und Legitimität auseinanderdriften: So kann die Polizei auch für den legalen Einsatz von Gewalt kritisiert werden, wenn dieser der Gesellschaft als unnötig oder unverhältnismäßig erscheint. Polizisten müssen zwar gewaltfähig, dürfen aber nicht gewaltaffin sein. Das ist auf abstrakter Stufe einfacher zu lösen, als auf der Handlungsebene. Denn Polizisten bringen sich notwendigerweise mit dem Verbrechen in Kontakt, dürfen sich von ihm aber nicht infizieren lassen. Die Gefahr, dass sie sich dabei kontaminieren, ist aber in einigen Einsatzbereichen extrem hoch, zumal dann, wenn der Arbeitskontext keine alternativen Erfahrungen zulässt. Die große Herausforderung für die Organisation Polizei besteht deshalb darin, den normativen „Korridor“ zu markieren, in dem Polizeigewalt funktional tauglich und ethisch legitimierbar ist.

Auf der konkreten Handlungsebene kommt Gewalt nicht ohne Aggressivität aus

In der Polizeitheorie und auch in der polizeilichen Praxis wird eine affirmative Beziehung zur Gewaltausübung quasi ausgeblendet. Theoretisch wird Staatsgewalt (potestas) ohne Emotionen, ohne Aggressivität ausgeübt – sine ira et studio in jeder Hinsicht, also ohne Parteilichkeit und ohne „Zorn“. Sie heißt dort auch nicht Gewalt, sondern „unmittelbarer Zwang“. Doch auf der Handlungsebene kommt Gewalt nicht ohne Aggressivität aus. Diese ist sogar die Voraussetzung, um Staatsgewalt in konkrete Handlungen zu übersetzen. Eine aggressive Grundhaltung bereitet aber Schwierigkeiten, wenn sie den Kontext verlässt, in dem Aggressivität noch erlaubt und funktional erforderlich ist. Wird die Gewaltausübung habitualisiert und zu einem Teil der eigenen Identitätskonstruktion, dann werden Polizisten in einem Konflikt Teil des Problems und sind nicht mehr Teil der Lösung. Wenn die Beamten (und wenigen Beamtinnen) aus dem Sollen ein Wollen machen, unterscheidet sie nichts mehr von ihren aggressiven Klienten und „potestas“ wird zu „violentia“, also zur illegitimen, persönlichen, auf Verletzung ausgerichteten, schädigenden Gewalt.

Ähnliches gilt für die Achtung von Menschenrechten: Natürlich muss die Polizei Menschenrechte aktiv schützen. Aber damit ist es nicht getan, denn um dies zu bewerkstelligen, muss sie manchmal notwendigerweise in andere Menschenrechte eingreifen. Das unterscheidet sie von fast allen anderen staatlichen Institutionen. Als Monopolistin der Staatsgewalt darf sie Freiheitsrechte einschränken und Gewalt anwenden – aber sie darf dabei keine Fehler machen. Macht die Polizei bei der Anwendung von Gewalt doch Fehler, reicht es nicht, diese damit zu erklären, dass Fehler nun einmal passieren, wo Menschen arbeiten. Das kann ein Hersteller von Babynahrung auch nicht sagen, wenn ein Glas verunreinigt ist.

Für die Arbeit an existenziellen Themen – wie dem Eingriff in die körperliche Unversehrtheit durch Gewalt – gelten einfach besondere Regeln, und das bereitet der Polizei momentan besondere Schwierigkeiten. Die Betonung der Opferrolle von Polizisten betrachte ich als ein Ausweichen vor der dringenden Frage nach den Regeln von Gewaltanwendung. Dabei fangen für eine „reflektierte Praxis der Polizei“ hier die interessanten Fragen an: Nach welchen ethischen Prinzipien gehen Polizisten vor, wenn sie Gewalt anwenden? Wie definieren sie die situative Angemessenheit ihrer eigenen Gewalt? Wann definieren sie Reaktionen auf ihr Handeln als gewalttätig und warum?

Man wird die Verhaltensweisen in so genannten Übergriffssituationen, etwa die obstruktive Haltung vieler Polizisten nach ungerechtfertigter Gewaltanwendung, nur verstehen können, wenn man ihre Bedeutung im Alltag versteht. Denn im Ausnahmefall gelten keine anderen Regeln, sondern die Alltagsregeln werden auch dann angewendet, allerdings dramatisch überstrapaziert. Ich halte beispielsweise wenig von der These des Korpsgeistes, aber sehr viel von der Annahme des „Schutzes der eigenen Gefahrengemeinschaft“: Polizisten sagen nicht deshalb gegen Kollegen nicht aus, weil sie Polizisten sind, sondern weil sie zusammen arbeiten. Wir wissen in Deutschland aber immer noch sehr wenig über die Regeln der „Binnenkohäsion“ (und deren Veränderungen) in der Vollzugspolizei.

Was „gute“ Polizeiarbeit ausmacht, ist ebenfalls weithin unklar. So existieren jenseits der Legaldefinitionen im Recht und in der Verfassung keine allgemeinverbindlichen Standards im Sinne von Wertmaßstäben für polizeiliche Handlungen. Die Organisation selbst versucht mit Leitbildern ein transzendentales Gerüst für die Polizei zu erstellen; die Transzendenz verkümmert aber oft genug zur managerialen Corporate-Identity-Strategie. Diese erweist sich im Alltag als wenig brauchbar. Deshalb ergänzen die Polizisten an der Basis diese Orientierungen durch eigene Handlungsmuster, und manchmal ersetzen diese die Leitbilder sogar.

Der Nutzen von »street cops« für den demokratischen Alltag

Leitbilder sind stets Ausdruck einer Unternehmenskultur, bezogen auf die Polizei spreche ich von „Polizeikultur“. Ihre Leitbilder spielen eine Rolle, wenn es darum geht, die Idee demokratisch verankerter staatlicher Herrschaft formal auszugestalten. Dies würde aber nicht funktionieren, wenn sie nicht durchbrochen und gestützt würden durch nichtbürokratieförmige Handlungsmuster der street cops (besonders durch deren Tugenden, wie Solidarität und Tapferkeit, oder deren Berufsehre, die sich in den Handlungsmustern ebenfalls widerspiegelt).

Der amerikanische Terminus street cop lässt sich nicht ohne Weiteres ins Deutsche übersetzen. Gemeint sind Beamte mit unmittelbaren und dauerhaften Publikumskontakten. Sie legen, aus welchen Gründen auch immer, unmittelbar „Hand an Menschen“. Für die bürokratische Organisation und die Publikumsorientierung des Gewaltmonopols erweist sich diese „Polizistenkultur“ zwar insgesamt als obsolet und dysfunktional, gleichwohl ist sie für dessen Durchsetzung in bestimmten Konstellationen nützlich und manchmal auch notwendig. Hier zeigt sich ein institutionelles Arbeitsbündnis zwischen Polizei(führungs)- und Polizistenkultur. Die Handlungs-muster der street cops sind nicht immer und nicht notwendigerweise menschenfreundlich und humanistisch korrekt. Allerdings ermöglichen sie viele alltagstaugliche Routinen, die Polizisten etwa vor Überlastung schützen und pragmatische Antworten auf eine diffuse Nachfrage bieten.

Die politisch geprägte Polizeikultur und die alltägliche Polizistenkultur haben zudem einige gemeinsame Berührungspunkte: In beiden Kulturbereichen geht es um Fragen der Ethik beziehungsweise der Legitimation von Sicherheit und Ordnung; in beiden Bereichen steht das Verhältnis der Polizisten untereinander und das Selbstverständnis der Organisation im Mittelpunkt; auf beiden Ebenen wird die Beziehung des Einzelnen zu seiner Aufgabe thematisiert.

Erklärte Leitbilder und tatsächliche Handlungsmuster

Diese gemeinsamen Ebenen der Relevanz werden jedoch unterschiedlich ausgefüllt: Die Leitbilder vermitteln universelle Werte und eine offensive, demokratisch durchdrungene Beziehung zur Öffentlichkeit. Dagegen grenzen sich die Handlungsmuster gerade ab, sie führen einen Abwehr- und keinen Verständigungsdiskurs. Bei den Leitbildern fällt der positive und offensive Charakter auf, es stehen Innovation, partnerschaftliche Kommunikation und konstruktive Zusammenarbeit im Vordergrund. Die Handlungsmuster hingegen legen nahe, sich nicht „in die Karten“ schauen zu lassen und dafür zu sorgen, dass die Grenze zwischen dem verlässlichen sozialen Nahraum der Kollegen und dem „Rest der Welt“ sicher bleibt. In den Leitbildern erscheint der Polizist als ein freundlicher, unvoreingenommener, diplomatisch versierter, kommunikativer und ausgeglichener, selbstbewusster Mensch, der gerne mit anderen Menschen vorurteilsfrei in Beziehung tritt. Die Handlungsmuster jedoch legen nahe, die Klientel distanziert und skeptisch bis argwöhnisch zu betrachten, sich nicht naiv zu zeigen und sich vor der Gegenseite zu schützen, so gut es geht.

Die Polizeikultur mit ihren Leitbildern und die Polizistenkultur mit ihren Handlungsmustern entsprechen den Grenzhütern zweier Grundverständnisse beziehungsweise Handlungslogiken in der Polizei. Sie bewerten die Polizeiarbeit aus unterschiedlichen Perspektiven und kommen deshalb zu ziemlich disparaten Bewertungen der sozialen Wirklichkeit und der polizeilichen Aufgabe: Während sich die Leitbilder danach richten, was politisch gewünscht und korrekt ist, orientieren sich die Handlungsmuster eher an den praktischen Erfahrungen und den realen Bedürfnissen der „handarbeitenden“ Polizisten sowie an deren Bild von Gesellschaft.

So fühlen sich viele Polizeiangehörige auf der Ausführungsebene selbst nur als kleine Rädchen in der Organisation und im Betrieb der Bürokratie – oft genug gekränkt und frustriert, nicht ernst- oder wahrgenommen. Ihre Vorstellungen von richtiger Polizeiarbeit werden von den Vorgesetzten nicht immer geteilt, ihre Gerechtigkeitsvorstellungen stoßen bisweilen auf Unverständnis, wenn sie die eigenen Reihen verlassen. Deshalb suchen sie emotionale Bestärkung und Harmonie (manchmal auch eine „heile Welt“) im Innern der „Polizeifamilie“. Beides erfahren sie durch die Bezugnahme auf ihresgleichen, durch ihre Solidarität in der Gefahrengemeinschaft, durch das gemeinsame Wissen von den Schattenseiten der Gesellschaft, vom Bösen, von allem, was einem „guten Leben“ entgegensteht. Dies ist auch das affektive Einfallstor der Polizeigewerkschaften: Sie bedienen ein nostalgisch-folkloristisches Polizeiverständnis, das es in der kalten Welt der Rechner nicht gibt, nach dem sich aber viele sehnen. Auf den Punkt gebracht heißt das: Die Gewerkschaften stillen die Sehnsucht nach einer (be)schützenden Gemeinschaft Polizei, wodurch wiederum die positiv besetzte Bezeichnung „Schutzmann“ eine doppelte Bedeutung entfaltet, nämlich die eines Polizisten, der schützt, der aber auch durch die Gemeinschaft „geschützt“ wird.

Die cop culture richtet sich also an der „gefühlten“ Gerechtigkeit (Legitimität) aus, Polizeikultur hingegen am Recht (Legalität). Beides ist meistens kongruent, doch geraten Polizisten immer wieder in Grenzsituationen, in denen eines von beiden fehlt. Dann setzt sich in der Regel das Recht durch. Manchmal können aber auch die Gerechtigkeitsempfindungen von Polizisten gegen das Recht dominant werden. Diese Konstellationen führen dann zu delinquentem, mindestens deviantem Handeln, zum Beispiel wenn Polizisten es als recht und billig erachten, Obdachlose an den Stadtrand zu fahren und dort auszusetzen. Etwas zugespitzt lässt sich der Unterschied zwischen Leitbildern und Handlungsmustern wie folgt benennen: Leitbilder werden veröffentlicht, leiten aber nicht zwingend das polizeiliche Handeln in prekären Situationen an. Handlungsmuster dagegen leiten das polizeiliche Handeln an, werden aber nicht publik gemacht.

Der öffentliche Diskurs über die Polizei bezieht sich deshalb vor allem auf die uniformierte Schutzpolizei, die uns in Gestalt von Polizisten im Streifendienst oder in geschlossenen Einheiten begegnet. Die Kriminalpolizei, polizeiliche Auslandsmissionen oder die Kultur in supranationalen Polizeiagenturen sind hingegen nur selten Thema, weil sich deren Zusammenhänge häufig anders zeigen und auch anders diskutiert werden müssen. Somit dominiert die Arbeit der Schutzpolizei den öffentlichen Diskurs über Gewalt von und an der Polizei.

Polizisten in einer Gesellschaft, die Normen infrage stellt

In der Frage der Gewalt von und an der Polizei ähneln sich Polizeikultur und Polizistenkultur auch am meisten. Beiden Kulturen ist beispielsweise gemein, dass Gewalt externalisiert und auf die anderen, den Gegner projiziert wird, wodurch das eigene Potenzial und die eigene Beteiligung an der Gewaltdynamik strategisch ausgeblendet beziehungsweise nicht reflektiert wird.

Vermutlich ist die Angst in der Gesellschaft vor der Polizei geringer geworden und wahrscheinlich sind Angstfreiheit und Gehorsamsverweigerung gegenüber staatlichen Autoritäten ebenfalls Zutaten für das Zustandekommen von Gewalt gegen Polizeibeamte. Zusätzlich entsteht aus Angstfreiheit in einigen Fällen Auflehnung, und die ist in ihrer praktischen Darstellung für rechtschaffende Polizisten nur schwer auszuhalten, etwa in Form von Beleidigungen, die in bestimmten Szenen sich selbst und der Polizei gegenüber an der Tagesordnung sind. Das kann man zwar beklagen, aber es handelt sich nicht um Gewalt im Sinne des Strafgesetzbuches und auch nicht im Sinne der Polizeilichen Kriminalstatistik.

Vieles ist für Polizisten in der Kommunikation mit der Klientel schwer zu ertragen, gerade für junge Beamte und gerade für solche, die in Verhältnissen der Normenanerkennung aufgewachsen sind. Sie stoßen heute oft auf Menschen, die sich nicht mehr fraglos der Normen-Nomenklatur der Polizisten beugen, sondern dieser ihre eigenen Vorstellungen vom Umgang miteinander entgegenhalten. Eine vorläufige Erklärung könnte folgendermaßen lauten: Gewalt wird häufig als Metapher für eine Vielzahl von Anpassungskonflikten im Verhältnis von Polizei und Gesellschaft benutzt. Die Arbeit der Polizei findet heute im kulturellen Rahmen von Individualisierung und persönlicher Entfaltung (inklusive der damit korrespondierenden Artikulationslust) statt, während man es früher eher mit einer Orientierung an Kollektivinteressen und Anpassung zu tun hatte. Auch Individualisierungstheoretiker vor und nach Ulrich Becks Diagnose der „Risikogesellschaft“ legen nahe, dass es früher eine höhere gesellschaftliche Bereitschaft zur Normenanerkennung und Normenbefolgung gab, woraus die komplementäre Haltung der Polizei erwuchs, Normen durch Belehrung zu demonstrieren und mithilfe von Sanktionsdrohungen durchzusetzen.

Heute erleben wir in Deutschland dagegen eine Gesellschaft, in der Normen zunehmend infrage gestellt und neu ausgehandelt werden. Das Selbstbewusstsein des Bürgers als Souverän ist gestiegen, oft bis zur Unfähigkeit zur Selbstkritik und manchmal mit deutlicher Tendenz zur Hybris und zur Egomanie. Darauf hat die Polizei bislang keine gute Kommunikationsstrategie entwickelt, sondern bezeichnet Aufmüpfigkeit ab einer gewissen Grenze als „Gewalt“. Besonders die Schutzpolizisten nehmen seismografisch genau wahr, dass sich etwas verändert im Umgang mit ihrer Klientel. Für sie wird die Arbeit schwerer, weil sie auf die Veränderung der Kommunikation weniger gut vorbereitet worden sind als auf den Umgang mit physischer Gewalt. Sie erleben beispielsweise, dass sich Passanten einmischen, wenn sie eine Person kontrollieren, und dass diese fragen, warum die Polizisten das machen und ob sie es dürfen. Diese Haltung kann schnell als Unbotmäßigkeit aufgefasst werden und in eine Eskalationsspirale führen.

Wenn wir die zur Verfügung stehenden Daten und Statistiken sorgfältig interpretieren, zeigt sich, dass nicht die Gewalt exorbitant gestiegen ist, sondern dass die Gewaltwahrnehmung und -sensibilität zugenommen haben. Gewalt ist für die meisten Menschen eigentlich tabuisiert und wird nur noch als Medienkonserve konsumiert. Findet sie real und brutal statt, ist das Entsetzen groß und wir finden, dass die Gewalt dramatisch zugenommen hat. Das tut sie ausweislich der Polizeilichen Kriminalstatistik zwar faktisch nicht, was aber real gestiegen ist, betrifft die Anzahl der Kameras auf Bahnanlagen und die Zahl der Handykameras, die alles Mögliche aufzeichnen. Daraus folgt etwas, das man das „Smartphone-Paradox“ nennen kann: Es werden immer weniger Gewalttaten immer öfter fotografiert und aufgenommen, wodurch der Eindruck entsteht, dass immer mehr passiert. Tatsächlich sind nur mehr Bilder im Umlauf.

Heute wird schon freches Lachen als Gewalt empfunden

Im Übrigen wird heute als Gewalt schon empfunden, was früher noch keine Gewalt war: die Beleidigung, die Geringschätzung, Verhöhnung, Nichtbefolgung von Anweisungen, das freche Lachen, das Hinspucken, das Weggehen, das Anschreien. Mobbing, Bossing, Stalking – alles ist Gewalt geworden. Früher wurde auf solche Ausdrucksformen von Geringschätzung vielleicht eher mit Gewalt reagiert, ohne es jedoch so zu benennen. All diese Tatbestände sind bitter für die Betroffenen, keine Frage. Aber mit der medialen Inszenierung von vielerlei Unbill ist eben auch eine inflationäre Nutzung des Gewaltbegriffs verbunden. Hinzu kommt, dass viele der früher gepflegten informellen Reaktionen auf Verstöße heute nicht mehr funktionieren. Denn früher war physische Gewalt im Berufsalltag vieler Polizisten selbstverständlich. Die „Ohrfeige aus erzieherischen Gründen“ wurde nicht nur von vielen Polizisten als selbstverständliche Ressource angesehen, sondern offenbar auch von vielen so Behandelten. Man kann sagen, dass eine deutliche Verschiebung der Gewalt vom Dunkelfeld ins Hellfeld stattgefunden hat. Das gilt für die Gewalt gegen die Polizei ebenso wie für die Gewalt durch die Polizei, die sich auch deutlich „offizialisiert“ hat.

Wenn man der obigen These zustimmt, dass wir in einem Übergang von der Normenanerkennungs- zur Normenaushandlungsgesellschaft sind, dann korrespondiert dieser Prozess aufseiten der Polizei mit einem „Formenwandel des Polizierens“, den man grob als Übergang vom physischen zum psychischen Polizieren bezeichnen kann. Die Klage über zunehmende Gewalt ist unter anderem auch deshalb so heftig, weil die Polizeikultur die Tatsache der Gewalt im Polizeiwesen nicht mehr so ohne Weiteres akzeptiert. Die körperliche Konfrontation findet zwar weiterhin statt, aber insgesamt richtet sich der polizeistrategische Überbau an einer subtileren Durchsetzung des staatlichen Gewaltmonopols aus. Gewalt ist für die Polizei keine selbstverständliche Ressource mehr, sondern ultima ratio; man handelt umsichtiger, abhängiger von den öffentlichen Reaktionen auf polizeiliches Fehlverhalten, kommunikativer, insgesamt reaktions- oder folgensensibler und schätzt das Risiko stärker ab.

Die größte Sorge bereitet aggressive Kommunikation

Bezeichnenderweise herrscht in der Ausbildung der Polizisten nach wie vor das Paradigma der Normenanerkennung vor. Auch wenn alle Ausbildungs- und Lehrpläne mittlerweile „Kommunikationstraining“ enthalten, werden Szenarien, in denen Normen neu ausgehandelt werden müssen, nicht sehr tiefgehend behandelt. Nach wie vor dominiert in der Ausbildung und in den Köpfen der meisten Auszubildenden eine Haltung, die mit der Logik des Rechts unmittelbar verknüpft ist und die an seine friedenstiftende Funktion glaubt. Doch ist das (Straf- oder Ordnungswidrigkeiten-)Recht nicht für alle zwischenmenschlichen Konflikte die geeignete Schiedsinstanz. Oft argumentieren Polizeibeamte mit ihrer Klientel noch in einem „rationalen Modus“, wo es denen schon längst um die Darstellung ihrer „Respektabilität“ geht. Eine Studie des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen zur Gewalt gegen Polizeibeamte aus dem Jahr 2010 dokumentiert zwar eine Verlagerung und Formveränderung von Gewalt, relativiert aber die Daten so erheblich, dass sie als Beleg für einen erschreckenden Gewaltanstieg nicht taugen. Selbst die polizeiinternen Lagebilder kommen zu ähnlichen Ergebnissen. Insgesamt kann man durchaus sagen, dass es nicht die physische Gewalt ist, die den Polizisten die größte Sorge bereitet, sondern die aggressive Kommunikation seitens der Bevölkerung, mit der es die Polizei zu tun hat.

Statt nun aber froh darüber zu sein, dass die „harte“ Gewalt weniger wird, und statt an neuen Formen der Kommunikation zu arbeiten, erweitern besonders die Polizeigewerkschaften das Gewaltverständnis und nennen bereits das Fotografiertwerden einen Akt des „nicht-tätlichen Angriffs“, mithin der Gewalt – so ein Gutachten des Kieler Psychologie-Professors Thomas Bliesener für die Polizei Nordrhein-Westfalen aus dem Jahr 2013. Darin wird zur subjektiven Gewalterfahrung von Polizisten auch die Tatsache gezählt, dass man bei einer dienstlichen Handlung fotografiert wird. Zweifelsohne ist das ein Belastungsfaktor, aber ist es wirklich Gewalt? Mit einem derart erweiterten Gewaltbegriff konnte die Gewerkschaft der Polizei (GdP) Nordrhein-Westfalen dann auch behaupten, dass mehr als 80 Prozent der Polizisten schon einmal Gewalterfahrungen gemacht haben, wenn man Beleidigungen mit einberechne.

Zusammengefasst haben wir es also nicht mit einem dramatischen Anstieg der Gewalt und auch nicht mit einer Brutalisierung der Gesellschaft zu tun. Im Gegenteil: Die Sensibilität für Gewalt steigt an, gleichzeitig findet ein Entfremdungsprozess zwischen der Polizei und ihrer Klientel statt. Das Hauptproblem ist also nicht die Gewalt, sondern die Erreichbarkeit der Klientel und die Verständigung über Konventionen, also darüber, „was sich gehört“. Es wäre schon viel geholfen, wenn man „Gewalt“ mit „Kommunikation“ ersetzen würde; wenn man, statt neue Ausrüstung oder Gesetze zum Schutz der Polizisten zu fordern, darüber nachdenken würde, wie ein besserer Kontakt mit der zugegebenermaßen häufig schwierigen Klientel möglich ist. Aber dafür werden im Moment keine Ressourcen aktiviert.

Die goldenen Zeiten sind vorbei. Und »golden« waren sie auch nicht

Was sagt dies über gegenwärtige und zukünftige Polizeiarbeit aus? Die Stilisierung von Polizisten zu bloßen Opfern von Gewalt bleibt eine zwar gut gemeinte, aber dennoch kontraproduktive Zuschreibung, die auf Mitleid zielt. Im Zentrum der Selbstzuschreibung von street cops steht weiterhin etwas „Heroisches“, für das sie im Idealfall Bewunderung, mindestens aber Anerkennung erwarten (was oft mit „Respekt“ verwechselt wird, aber das ist ein anderes Thema). Das polizeilich-gesellschaftliche Dilemma dieser Tage besteht darin, dass Polizisten gleichzeitig als Vertreter des staatlichen Gewaltmonopols und als verletzbare Menschen erscheinen. Mit der Darstellung als „bloßer“ Mensch (beispielweise in der Kampagne der Jungen Gruppe der GdP unter dem Motto „Auch Mensch“) wird nicht nur ein klassischer Inter-Rollen-Konflikt deutlich, sondern auch eine Reduzierung der staatlichen Autorität. Das Mitleid überträgt sich in der Regel nämlich ebenso auf das, was der „menschelnde“ Polizist repräsentiert – den Staat. Ein bemitleidenswerter Staat ist aber gewiss kein Bild, das zu Selbstvertrauen und „professioneller Ruhe“ beiträgt.

Der Sublimierungsprozess der Polizeiarbeit hat viel Gutes gestiftet, denn er hat gezeigt, dass die große Wertschätzung der Institution Polizei in der Bevölkerung nicht aus dem martialischen Gebrauch ihrer Eingriffsbefugnisse herrührt, sondern aus dem Verzicht darauf. Wertschätzung ist etwas anderes als Angst. So können andere Nationen zwar auf eine machtvollere Polizei zurückgreifen, diese besitzt aber meist ein katastrophales Ansehen in der Bevölkerung und ihr Erfolg beruht allein auf Furcht. Gleichwohl hat der Konsens über eine verbesserte Polizeiarbeit nicht alle Bürger mitgenommen und auch nicht alle Polizisten. Viele Praktiker (und ihre Berufsvertreter) hängen noch immer nostalgisch einem Stadium hinterher, in dem „das Wort des Schutzmanns noch etwas gegolten hat“. Ob das je gestimmt hat, wage ich zu bezweifeln. Und selbst wenn: Diese „goldenen“ Zeiten sind endgültig vorbei und eine andere Gesellschaft ist nicht in Sicht. Von „der Gesellschaft“ in diesem Punkt eine Veränderung zu erwarten, ist entweder völlig naiv oder populistisch. In beiden Fällen offenbart sich jedoch ein höchst lückenhaftes Verständnis der sozialen Wirklichkeit – und von der Rolle der Polizei. Wir tun gut daran, sie an dieser Stelle nicht auf sich alleine gestellt sein zu lassen, sie aber auch nicht machen zu lassen, was sie will. Dafür ist ein Austausch über legitimes polizeiliches Handeln und seine Regeln in der Demokratie unabdingbar.

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