Über den Kapitalismus hinaus

Unter den Oppositionsparteien im Bundestag vertrete die Linkspartei.PDS den größten Veränderungsanspruch, schreibt JAN KORTE. Dabei wolle die Linkspartei keine "bessere sozialdemokratische Partei" werden, sondern ein eigenes linkes Profil herausarbeiten

Als die PDS nach den Bundestagswahlen 2002 nur noch zwei Bundestagsabgeordnete stellte, schien das Ende einer parlamentarischen Kraft links von der SPD besiegelt. Schlagartig wurde der PDS klar, dass sich ihr angestammtes Milieu im Osten mehr und mehr auflöst, während es nicht einmal ansatzweise gelungen war, im Westen Fuß zu fassen. Auch kleinere Erfolge etwa bei der hessischen Kommunalwahl 2001 konnten darüber nicht hinwegtäuschen. Die Situation schien ausweglos: Auf dem Geraer Parteitag im Herbst 2002 wurde zunächst eine inhaltliche Wende nach links außen vollzogen, und die konzeptionelle Schwäche der PDS trat deutlich sichtbar zu Tage. Kurz: Die PDS hatte rasch ihre Funktionszuweisung verloren.

Im Jahr 1994 war mit dem Slogan „Veränderung beginnt mit Opposition“ noch alles so klar gewesen. Die Sozialisten beschränkten sich im Bundestag auf die Oppositionsrolle, und von den Wählerinnen und Wählern wurden sie eben dafür gewählt. Doch spätestens mit den Regierungsbeteiligungen in Sachsen-Anhalt, Berlin und Mecklenburg-Vorpommern hätte die Partei eine Festlegung treffen müssen, wie denn Veränderungsimpulse auch anders in die Gesellschaft gegeben werden können und welche Schritte dafür parteiintern notwendig sind.

Erst mit der weiteren Abkehr der Sozialdemokratie von originärer Politik für Arbeitnehmerinteressen erhielt die PDS eine neue Funktionszuschreibung. Das zeigte sich in erster Linie im Wahljahr 2004 bei den ostdeutschen Landtagswahlen, vor allem in Brandenburg, aber auch bei den Wahlen zum Europäischen Parlament, in das die PDS gestärkt einzog. Außerdem gewann die zwischenzeitlich in Linkspartei.PDS umbenannte Partei bei der Bundestagswahl endlich auch im Westen beträchtliche Stimmenanteile und blieb dort nur sehr knapp unter fünf Prozent. Bezeichnenderweise konnte die Linke erstmals weit in das Arbeitnehmer- und Nichtwählerlager eindringen. Die PDS hatte bis dato – außer in einigen Städten des Ruhrgebietes wie zum Beispiel Oberhausen – in erster Linie in universitär geprägten Stadtgesellschaften wie Marburg oder in Stadteilen wie Hannover-Linden nennenswerte Stimmenanteile auf einem insgesamt niedrigen Niveau erreichen können.

Über das parlamentarische System hinaus

Die Linkspartei.PDS hat mit dem Ergebnis der vergangenen Bundestagswahl den vierten Platz im bundesdeutschen Parteienspektrum einnehmen können, den es jetzt zu verteidigen gilt. Im Gegensatz zu den anderen Oppositionsparteien kommt der Linkspartei eine besondere Rolle zu: Die Linke wird sich in der laufenden Legislaturperiode nicht darauf beschränken können, die Große Koalition mit alternativen Vorschlägen, Anfragen oder Initiativen zu konfrontieren. Sie muss gleichzeitig einen Prozess der Parteibildung stemmen. Das Votum der über vier Millionen Wähler, die ihr Kreuz bei der Linken machten, lässt der ehemaligen PDS und der WASG im Prinzip nicht die Wahl, ob die Parteien fusionieren oder nicht. Nur noch das Wie steht zur Debatte – mit Deadline Sommer 2007.

Gleichzeitig versucht die Linkspartei, die Frage zu beantworten, wie Veränderung gestaltet werden kann. Dabei bewegt sie sich in einem „strategischen Dreieck“, dem selbst auferlegten Spannungsverhältnis zwischen Regieren, Opponieren und außerparlamentarischer Opposition. Sie ist also als kleinste der Parteien zugleich diejenige mit dem größten Veränderungsanspruch. In diesem strategischen Dreieck sollen zum einen Reformalternativen aufgezeigt werden, die über den Kapitalismus hinausweisen. Gleichzeitig sollen dort, wo die PDS Regierungsverantwortung trägt, kleinteiligere Reformprojekte realisiert werden, die beispielsweise die von uns sozial wie ökonomisch für falsch erachteten Maßnahmen der Hartz IV-Gesetze für die Betroffenen erträglicher machen. Und schließlich hoffen in der Linkspartei viele auf eine große, machtvolle außerparlamentarische Bewegung, in der sie gerne über das parlamentarische System hinaus agieren würden.

Kompatibel mit den Protesten auf der Straße

Die Frage, ob eine Partei wirklich an allen drei beschriebenen Ecken handeln kann und sollte, wurde meines Erachtens bislang noch nicht eindeutig beantwortet. Zwar konnte die Linke vor allem im Jahr 2004 davon profitieren, dass ihre klare Ablehnung der Hartz-Gesetze mit den breiten Protesten auf der Straße kompatibel war. Dieser Umstand trug im Jahr 2004 zu den bemerkenswerten Erfolgen vor allem in Brandenburg, Thüringen und bei der Europawahl bei. Klar ist aber auch, dass die PDS damals nicht in der Lage gewesen wäre, derartige Wahlergebnisse in erster Linie aus eigener Kraft zu organisieren. Sie profitierte vielmehr von äußeren Einflüssen, namentlich der Schwäche der SPD. Die Abkehr der Sozialdemokratie von traditionellen Positionen – stichwortartig seien Hartz IV, Rente mit 67 oder die Mehrwertsteuererhöhung genannt – hinterlässt eine Lücke in der politischen Landschaft, die die Linkspartei zu schließen versucht.

Die Linkspartei will dabei keine bessere sozialdemokratische Partei werden, sondern arbeitet ein eigenes linkes Profil heraus. Bezogen auf die „außerparlamentarische Ecke“ des strategischen Dreiecks bedeutet das: Die Bundestagsfraktion will Gruppen als Ansprechpartnerin zur Verfügung stehen, die sie als Teile sozialer Bewegungen identifiziert hat. Die Linke im Bundestag hat erkannt, dass sie eine parlamentarische Kraft sein muss, die sich kritisch mit Positionen der zahlreichen außerparlamentarischen Akteure auseinandersetzt und deren Positionen sie in die parlamentarischen Auseinandersetzungen überführt.

Die zweite Ecke des Dreiecks, das Agieren als Opposition im Bundestag, gestaltet sich mit der Großen Koalition wesentlich einfacher. Hier sind die Grenzen klar gezogen und anders als bei den sozialen Bewegungen herrscht Klarheit über die Akteure. Der Koalitionsvertrag von Union und SPD ist ein Generalangriff auf den Sozialstaat. Breite Teile der Bevölkerung sehen sich als Verlierer von Reformen oder haben Angst, künftig auf der Verliererseite zu stehen. Die Linke füllt eine Lücke in den Debatten des Bundestages, die sich in den letzten Jahren in erster Linie um die Haushaltssanierung drehten. Nicht ohne Grund drängte sich dabei der Verdacht auf, die Konsolidierung erfolge eben nicht auf Kosten der Leistungsfähigen, sondern auf Kosten von Rentnern, Arbeitslosen, sozial Benachteiligten. Die Linkspartei setzt dem eine „neue soziale Idee“ (so der Slogan für die Bundestagswahl 2005) entgegen. Das funktioniert, wie sich schon im Laufe des Wahlkampfes zeigte. Die Linke kommunizierte einfach nachvollziehbare Alternativen zum Sozialabbau: Mindestlohn, Bildungsreform, Lehrstellenumlage und Grundsicherung. Vor allem der Mindestlohn wurde von der SPD noch im laufenden Wahlkampf aufgegriffen und spielt daher bis heute eine Rolle.

Der Nutzwert in der Marktlücke

An dieser Stelle wird der Nutzen einer Opposition im Bundestag links von der SPD deutlich: Die Linke trägt Debatten in das Parlament, die von keiner der anderen Parteien bedient werden. Während sich die SPD beim Werben um die „Neue Mitte“ konservativen Positionen der Union angenähert hat und die Grünen sich als zwar ökologisch gefärbte, aber dennoch wirtschaftsliberale Kraft gerieren, bleibt für die Linke eine Art Marktlücke, in der sie als soziales Korrektiv agieren kann. Das hätte theoretisch zwar schon bei der Bundestagswahl 2002 funktionieren können. Aber erst die Kooperation mit der WASG erlaubte es der Partei, sich in der Bundesrepublik als eine gesamtdeutsche Kraft aufzustellen und nicht allein als Vertreterin ostdeutscher Interessen zu erscheinen.

Befördert wurde dieser Imagewandel nicht zuletzt durch die beiden linken Galionsfiguren Gregor Gysi und Oskar Lafontaine, die den Nutzwert der Linkspartei in der Marktlücke glaubhaft vermitteln konnten. Diese Funktionszuweisung wird die Linke mit ihrer Oppositionsarbeit im Bundestag weiter ausbauen. Im Parlament stehen folglich für die Linke derzeit nicht theoretische Fragen nach Parteikonstellationen im Mittelpunkt. Das Ziel ist, soziale und solidarische Alternativen im Parlament und in der Öffentlichkeit hörbar zu machen und damit einen Politikwechsel hin zu sozialer Gerechtigkeit, mehr demokratischer Teilhabe, friedlicher Konfliktlösung und ökologischer Nachhaltigkeit zu befördern.

Dürfen Sozialisten Kompromisse schließen?

Die dritte Ecke, in der die Linkspartei handelt, ist oft Anlass für erbitterte Auseinandersetzungen auf Parteitagen: das Regieren. Die Linkspartei muss einen Lernprozess noch nachvollziehen, den andere Parteien, allen voran die Grünen, längst abgeschlossen haben: In Regierungskoalitionen ist nicht das Parteiprogramm Grundlage von Politik, sondern ein Koalitionsvertrag, der auf zahlreichen Kompromissen fußt. Das Handeln der Regierungssozialisten vor allem in Berlin ist aus diesem Grund in der Linkspartei umstritten. Die Erfahrungen der rot-roten Koalitionen werden inzwischen in Debatten unter den Genossen genutzt, um die Praxistauglichkeit der in der Opposition entwickelten Konzepte und Ideen nachzuweisen. So setzte Berlins Sozialsenatorin Heidi Knake-Werner die ablehnende Haltung gegenüber Hartz IV in Regierungshandeln um, indem sie Handlungsspielräume nutzte, die den Bundesländern offen stehen. So konnten in Berlin beispielsweise Zwangsumzüge von Bedarfsgemeinschaften bislang vermieden werden. Gleichzeitig führte die Senatorin nach zähen Verhandlungen mit den Sozialdemokraten in Berlin wieder das Sozialticket ein. Und ein Drei-Euro-Kulturticket erlaubt auch Beziehern des Arbeitslosengeldes II, die Opern, Theater und Museen der Stadt zu besuchen.

Die Rolle des Parlamentarismus diskutieren

Daraufhin gelang es der PDS-Fraktion in der Regionalversammlung Hannover, ihre Forderung nach einem Sozialticket mit dem Berliner Beispiel zu untermauern. Entgegen aller Gewohnheit wurde der Antrag der Linken nicht sofort abgelehnt, sondern spielte in den Debatten eine Rolle und stieß bei anderen politischen Akteuren in der Region wie Kirchen und Sozialverbänden überraschend auf Sympathie und Interesse. Die Linkspartei versucht, sich an diesem Beispiel zu orientieren: erfolgreiche Projekte gezielt zu evaluieren und aus ihnen Cluster zu bilden, die gemeinsam die versprochene neue soziale Idee formieren. Dennoch: Eine linke Partei befreit all dies nicht von der Notwendigkeit, generell über den Sinn und Zweck von Koalitionen und über die Rolle des Parlamentarismus zu diskutieren.

Abgesehen von der inhaltlichen Herausforderung, das Versprechen einer neuen sozialen Idee umzusetzen und damit als sozialstaatliches Korrektiv zu wirken, steht die Linkspartei vor der Aufgabe, ihren eigenen Parteibildungsprozess bis zur nächsten Bundestagswahl verwirklicht haben zu müssen. Bereits 2005 haben die Wähler der Linkspartei einen politischen Kredit gegeben. Sie wählten keine umbenannte PDS, auf deren Listen sich auch Personal der WASG befand, sondern eine geeinte Linkspartei für Ost- und Westdeutschland. Nun erwarten sie völlig zu Recht, dass diese Erwartung von den beiden Parteien erfüllt wird. Die Linkspartei muss also neben dem politischen Alltagsgeschäft mit ihrem Partner Grundsatzdiskussionen führen, die angesichts der Heterogenität der (West-)Linken sicher nicht einfach, aber gleichzeitig spannend werden. Damit gelangen Debatten wieder auf die Tagesordnung, die in der ehemaligen PDS zumindest mehrheitlich abgeschlossen sind – zum Beispiel die Frage, ob Linke sich überhaupt an Regierungen beteiligen dürfen oder sich nicht lieber auf das Verkünden von Wahrheiten beschränken sollten. Diese Verhandlungen können zäh werden. Das zeigt sich nicht nur in Berlin, wo sich die WASG als Projekt gegen die regierende Hauptstadt-PDS gründete.

Mit dem Parteibildungsprozess steht zugleich die Frage im Raum, wie sich die gesamte Linkspartei transformiert und ausrichtet. Beschränkt die Linke sich ausschließlich auf Positionen der Gewerkschaftslinken aus den siebziger Jahren, was manches WASG-Mitglied aus eben diesem Milieu sicher gerne sehen würde? Und gelingt es zusätzlich, ein neues Bild eines libertären Sozialismus zu zeichnen, der nicht nur die sozialen Bürgerrechte als Ankerpunkt politischen Handelns hat? Die Linkspartei muss sich in den kommenden drei Jahren als eine Partei positionieren, die sich nicht nur als Bewahrerin des Sozialstaates sieht, sondern auch als moderne Menschen- und Bürgerrechtspartei. Dies wäre deshalb eine kluge Strategie, weil die Linkspartei nicht nur eine weitere Lücke des politischen Marktes für sich eröffnen würde, sondern darüber hinaus künftig in der Lage wäre, mit einem breiteren Themenspektrum weitere Kreise anzusprechen – und sich in letzter Konsequenz auch von der politischen Entwicklung der Sozialdemokratie abzukoppeln. Sofern die SPD nämlich in der Großen Koalition ihr soziales Gewissen wieder entdecken sollte, würde sich zwar für das Jahr 2009 die Koalitionsfrage zugunsten der Linkspartei anders stellen, jedoch wäre diese in der Wahlkampagne wie in der politischen Auseinandersetzung eines Alleinstellungsmerkmals beraubt. Die Erinnerung an die verpatzte Bundestagswahl 2002 ist noch so frisch, dass die Beschäftigung mit dieser Möglichkeit nicht unterbleiben sollte.

Alles in allem bleibt festzustellen, dass die Linkspartei als linke Oppositionspartei im 16. Deutschen Bundestag einen gewaltigen Brocken wegzuschleppen hat. Sie muss das Versprechen einer neuen sozialen Idee inhaltlich untersetzen. Sie muss ihren Parteibildungsprozess stemmen. Und dabei darf sie die eigene Parteireform nicht verschlafen. Ein gutes Stück Arbeit für 53 Abgeordnete.

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