Timur und sein Trupp

Politik für Kinder und Jugendliche muss sich wieder an Werten orientieren

Eines der in DDR-Zeiten bekanntesten Kinderbücher ist Arkadi Gaidars Erzählung von "Timur und seinen Freunden". Held der Geschichte, die während des Zweiten Weltkrieges in einem Dorf unweit Moskaus spielt, ist der Junge Timur. Gemeinsam mit seinen Freunden organisiert er heimlich und im Verborgenen die ganz praktische Unterstützung für diejenigen, die dringend Hilfe brauchen, weil die Männer im Krieg oder gefallen sind. Deren Häuser werden mit einem roten Stern versehen als sichtbares Zeichen dafür, dass ihre Bewohner unter dem Schutz von Timur und seinem Trupp stehen: Die Jungen und Mädchen sorgen für Brennholz, sie holen Wasser vom Brunnen, sie fangen entlaufene Ziegen wieder ein und ziehen eine Diebesbande entschlossen zur Rechenschaft. Erst nach einer ganzen Reihe von Verwicklungen und falschen Verdächtigungen kommt heraus, wer all das Gute getan hat.


Das ist, bei allem vaterländischen Kriegspathos, eine sehr schöne und vor allem äußerst aufregende Geschichte, und ich war einigermaßen erstaunt, als ich feststellte, dass kaum jemand in den alten Bundesländern dieses Buch kennt, das seit der Wende nicht mehr neu aufgelegt worden ist. Als die PDS vor einigen Jahren erfolgreich mit einem Plakat warb, auf dem nichts weiter stand als "Gysi und sein Trupp", wurde das im Westen von fast niemandem verstanden - im Osten dagegen war jedermann klar, was gemeint war. Zum Plakat selbst sei hier nur am Rande angemerkt, dass es bei näherem Hinsehen in krassem Widerspruch zum Inhalt stand, auf den es sich berief, denn die PDS von Lothar Bisky und Gregor Gysi redet nun wirklich gern und viel in aller Öffentlichkeit über das Gute, was sie zu tun behauptet - ganz im Gegensatz zu Timur und seinen Freunden: Die sind auch deshalb Helden, weil sie Gutes tun, ohne darüber zu reden. Das Problem des Eigenlobes ist natürlich nicht auf die PDS beschränkt. Bei Politikern aller Parteien ist der Spruch "Tu Gutes und rede darüber" durchaus verbreitet. Wer die politischen Akteure deshalb in Bausch und Bogen verdammt, muss sich allerdings die Frage gefallen lassen, wie Politiker in der Mediengesellschaft Einfluss gewinnen und sich erfolgreich für ihre Ziele einsetzen sollen, wenn sie nicht gelegentlich auch öffentlich über das - hoffentlich - Gute reden, das sie tun. Wer zu bescheiden ist, handelt sich heute schnell den Ruf mangelnder Professionalität ein. Wer allerdings das Maß verliert, entlarvt sich in aller Regel als Schaumschläger - und das ist gut so.


Timur und seine Freunde jedenfalls sind keine Schaumschläger. Die von ihnen praktizierte Form der Mitmenschlichkeit gewinnt ihren besonderen Wert aus ihrer Selbstverständlichkeit. Solidarität ist ihnen ein unverzichtbarer gesellschaftlicher Wert. Gaidars Erzählung zeichnet damit ein Idealbild vom "neuen Menschen" in einer neuen Gesellschaft, in der auch schon die Kinder und Jugendlichen Verantwortung für die Gemeinschaft übernehmen und ihren Teil zum Gelingen des Ganzen beitragen. Eine schöne und wünschenswerte Vorstellung.


Wenn heute über Kinder und Jugendliche gesprochen wird, dann geschieht das allerdings häufig unter negativen Vorzeichen. Das ist zum Beispiel dann der Fall, wenn behauptet wird, der Rechtsradikalismus in Ostdeutschland sei eine direkte Folge angeblich übertriebener Sauberkeitserziehung in den Kinderkrippen der DDR. Oder wenn die Jugendlichen pauschal mal als leichtfertige Jung-Konsumenten, mal als Opfer einer kinder- und jugendfeindlichen Gesellschaft rauf- oder runterstilisiert werden.


Solche Pauschalurteile bringen weder die jugend- noch die gesamtpolitische Debatte weiter. Eher sind sie geeignet, den Blick auf die Lebenswirklichkeit der jungen Leute zu verstellen. In der politischen Diskussion und im Feuilleton wird ohnehin allzu häufig über Jugendliche und allzu selten mit ihnen gesprochen. Das mag wohl auch ein Problem der "Berufsjugendlichen" aller Schattierungen sein, die sich in teilweise rührender, teilweise aber auch ausgesprochen peinlicher Weise eines Jargons befleißigen, von dem sie glauben, er träfe die Sprache der Jugendlichen. Jugendkultur in all ihrer Differenziertheit aber zeichnet sich eben dadurch aus, dass sie Kultur der Jugendlichen ist - gut und hilfreich, sie zu verstehen, lächerlich und peinlich, sie sich krampfhaft aneignen zu wollen.


Wirklich weiter hilft nur das offene und ungekünstelte Gespräch, der differenzierte, nicht von Scheuklappen gelenkte Blick auf die Lebenssituation der jungen Leute. Wer das beherzigt, wird mit einer großen Bandbreite von Lebensentwürfen konfrontiert: Man trifft da ebenso auf fröhliche Fünfundzwanzigjährige, die sich erfolgreich selbständig gemacht haben, wie auf die vielzitierten "Verlierer", die keine Chance mehr für sich sehen. Man begegnet erstaunlicher Wachheit, politischer Offenheit und der selbstverständlichen Übernahme von Verantwortung ebenso wie deutschtümelnden Sprüchen und Nazi-Phrasen. Man stößt auf Beispiele von gelebter Solidarität und Mitmenschlichkeit ebenso wie auf abstoßende Karrieregeilheit und schrankenlosen Opportunismus. Kurzum: "Die Jugend" gibt es ebenso wenig wie "die Jugendkultur". Das mag eine banale Feststellung sein, aber dies entspricht der - in Ostdeutschland noch relativ neuen - Pluralität unserer Gesellschaft. Damit sei keineswegs einem "everything goes" in jenem Sinne das Wort geredet, dass es einfach toll ist, wenn mehr oder weniger jeder tun und lassen kann, was er will. Aber ambitionierte Politik hat zunächst die Realität nüchtern zur Kenntnis zu nehmen, bevor sie gesellschaftlich gestalten und damit wertorientiert wirksam werden kann.


Es ist in der Vergangenheit viel über Politikverdrossenheit gesagt und geschrieben worden. Unisono klagen Parteien und Gewerkschaften über fehlenden Nachwuchs und politisches Desinteresse der Jugend. Diese Klage nimmt bisweilen dann leicht tragikomische Züge an, wenn in die Jahre gekommene West-68er und Ost-Bürgerrechtler gleichermaßen darüber lamentieren, wie toll sich ihre eigene Generation engagiert habe und in welch orientierungsloser Apathie im Gegensatz dazu die heutige Jugend doch herumdümple. Dabei vergessen sie die Frage nach den Ursachen der Orientierungslosigkeit. Diese ist zum einen Ausdruck einer früher nicht gekannten Vielfalt unterschiedlicher Orientierungen. Zum anderen ist sie auf eine Vielfalt von Werten zurückzuführen, die anscheinend völlig gleichberechtigt nebeneinander existieren. "Alles so schön bunt hier, ich kann mich gar nicht entscheiden", so hieß das ahnungsvoll bei Nina Hagen, als sie noch von Ost nach West glotzte.
Im Gegensatz zu West-68ern und Ost-Bürgerrechtlern haben die Jugendlichen kaum noch etwas, an dem sie sich abarbeiten könnten.

Welche Werte sollen sie als falsch oder richtig identifizieren? Welchen Leitbildern sollen sie nacheifern, welche Autoritäten sollen sie anerkennen oder ablehnen? Unsere Gesellschaft, so hat es den Anschein, hat die Beliebigkeit zum Fixstern erhoben. Aber kostenlos ist auch die nicht zu haben. Was zählt, ist Geld, denn das muss man haben, um in der schönen bunten Warenwelt mitspielen zu dürfen. Hast Du was, kannst Du was, bist Du was; hast du nichts, kannst Du nichts, bist du nichts. Drei Streifen, Adidas - zwei Streifen, Caritas. So hieß das früher auf den Schulhöfen. Heute muss es Nike sein, morgen ist irgend etwas anderes "in". Wer nicht "in" ist, ist "out", und wer über einen längeren Zeitraum hinweg "out" ist, ist irgendwann "megaout". Es kostet Geld, "in" zu sein, es kostet noch mehr Geld, "in" zu bleiben. Die Kinder- und Schulpsychologen haben Konjunktur. Für Versager gibt es in diesem Spiel keinen Platz.


In einem Grußwort für eine Veranstaltung der Deutschen Lufthansa war vor einiger Zeit Folgendes zu lesen: "Die Industriegesellschaft ist im Umbruch, Globalität nicht mehr Vision, sondern bereits täglich erlebbare Realität. Globalität überwindet Zeit und Raum. Die 24-Stunden-Gesellschaft ist logische Konsequenz. Das führt dazu, dass wir noch länger, flexibler und immer weniger zu festen Zeiten arbeiten werden."
Was hier eingefordert wird, ist nicht mehr und nicht weniger als die totale Anpassung des Menschen an eine sich rasant entwickelnde Industriegesellschaft. Angesichts des euphorischen Untertons, der dabei mitschwingt, sei die Frage erlaubt, wo die 24-Stunden-Menschen für diese 24-Stunden-Gesellschaft eigentlich herkommen sollen. Wer soll diesen Druck eigentlich aushalten können? Liegt der Sinn des Lebens denn wirklich in einer totalen Verfügbarkeit? Dass auch nur ein größerer Teil von Menschen diesen Anforderungen genügen kann, darf bezweifelt werden.


Viele der Jugendlichen, mit denen ich in meinem Schleusinger Jugendzentrum rede, haben Angst vor einem solchen Gesellschaftsentwurf. Gleichzeitig haben sie Angst davor, dass man ihnen diese Angst anmerken könnte, denn Angst gilt als ein Zeichen von Schwäche. Diese Jugendlichen wissen zumeist nur wenig über abstrakte Gesellschaftsentwürfe. Von dem, was Globalisierung, was industrieller Wandel eigentlich bedeuten, haben sie in der Regel allenfalls eine vage Vorstellung. Was sie sehr genau kennen, sind die Konsequenzen. Denn die verspüren sie am eigenen Leibe: Leistungsdruck in der Schule und Konkurrenz bei der Suche nach einem Ausbildungsplatz gehen nicht selten einher mit dem Wegdrücken genau der Phantasie und Kreativität, die später im Berufsleben von ihnen eingefordert werden. Arbeitslosigkeit und Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes kennen sie aus ihren eigenen Familien oder aus dem Freundes- und Bekanntenkreis zur Genüge. Stolz und Selbstbewusstsein sind von gedemütigten Vätern und Müttern nur schwer zu erlernen.


Es war zeitweise sehr beliebt, dieses Gefühl des Verlustes von sozialer Wärme als ein typisch ostdeutsches und damit als ein Randphänomen einzustufen. Nach dieser Lesart war der Versorgungsstaat DDR so allumfassend und die Selbstverantwortung seiner Bürgerinnen und Bürger zwangsläufig so gering ausgeprägt, dass die mit der Wende errungene Freiheit erst mühsam erlernt werden musste. Zum einen wurde damit den Ostdeutschen soziale Kompetenz weitgehend abgesprochen, zum anderen erklärte man damit soziale Wärme und Freiheit indirekt zu unversöhnlichen Gegensätzen und denunzierte damit beide Begriffe gleichermaßen. Das mag den Verfechtern dieser kruden These nicht bewusst gewesen sein. Ihnen kommt jedoch zweifellos das Verdienst zu, die Bedeutung von sozialer Wärme im Osten wie im Westen wieder ins öffentliche Bewusstsein gerückt zu haben, wenn auch unter negativen Vorzeichen.


Es ist grundsätzlich wohl unbestritten, dass der durch die Vereinigung der beiden deutschen Staaten ausgelöste gesellschaftliche Umbruch die Menschen in Ostdeutschland unter einen erheblichen Anpassungsdruck gesetzt hat, dessen Folgen noch immer kaum abzusehen sind. Der gleichzeitige, fast vollständige Zusammenbruch der vorhandenen industriellen Strukturen und die damit einhergehende Arbeitslosigkeit haben tiefe Spuren in der Psyche der Betroffenen hinterlassen. Aber diese Massenarbeitslosigkeit wird zu Recht längst nicht mehr als eine ostdeutsche Besonderheit angesehen. In den Vordergrund ist die Debatte um die Globalisierung und ihre Folgen auf den gesamtdeutschen Arbeitsmarkt und die Arbeitswelt schlechthin getreten. Anpassung an die Bedürfnisse der Wirtschaft wird längst nicht mehr nur den Ostdeutschen abgefordert - immer häufiger ist das Argument zu hören, in Ostdeutschland habe in der Phase des radikalen Umbruchs eine grundsätzlich positive Entwicklung bereits stattgefunden, die im Westen nachvollzogen werden müsse.


Wer die sozialen Folgen dieser Sonderentwicklung im Osten auch nur halbwegs nüchtern analysiert, kann das, zumindest in dieser Form, kaum für wünschenswert halten. Wenn die Politik nicht unter erheblichem finanziellen Einsatz in Ostdeutschland massiv mit Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und Subventionen interveniert hätte, wäre es dort längst zu einer unkontrollierbaren sozialen Katastrophe gekommen. Damit ist der Beweis erbracht, dass der Markt allein es eben nicht richtet. Dennoch wird von den Neoliberalen unverdrossen der mehr oder weniger vollständige Rückzug des Staates als Wundermittel bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit angepriesen. Da wird die grundsätzlich richtige Forderung nach der Übernahme von mehr Selbstverantwortung umgemünzt in die Forderung, sich von einer angeblichen "Vollkasko-Mentalität" zu verabschieden.


Das alles ist den wenigsten Jugendlichen bewusst. Aber eines lernen sie alle sehr schnell: Dass sie sich nach der Decke strecken müssen, wenn sie auch nur den Hauch einer Chance haben wollen. "Wir tun alles für den Job" - so titelte neulich eine große deutsche Frauenzeitschrift eine Reportage über "Die neue Power-Generation". In der Tat sind der Mut und das Engagement vieler junger Leute zu bewundern.


Bis heute erhalten längst nicht alle eine solche Chance. Gerhard Schröder hat in seiner Regierungserklärung völlig zu Recht die Frage gestellt, wie "unsere jungen Menschen unsere Gesellschaft und unsere Zukunft gestalten" sollen, "wenn wir ihnen nicht einmal die Möglichkeit geben, für sich selbst zu sorgen". Wenn heute zwanzig Prozent der Jüngeren mit dem Gefühl des Scheiterns leben, dann ist das mehr als nur ein Alarmsignal. Deshalb war es so wichtig und richtig, dass die neue Bundesregierung mit dem Sonderprogramm zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit entschlossen gegen diesen gesellschaftlichen Skandal vorgegangen ist. Und deshalb ist es gut, dass das Sonderprogramm allen Sparzwängen zum Trotz fortgesetzt wird.


Aber auch eine noch so erfolgreiche Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit allein wird das Dilemma eines alle menschlichen Maßstäbe sprengenden Leistungs- und Anpassungsdrucks mit seinen sichtbaren und absehbaren Folgeschäden kaum lösen können. Wohlgemerkt: Gegen Leistung und Leistungsbereitschaft an sich soll nichts eingewendet werden, erst recht nichts gegen das wichtige Prinzip eines lebenslangen Lernens im Sinne permanenter Weiterbildung. Der kritische Punkt ist aber genau dann erreicht bzw. überschritten, wenn die Forderung nach Flexibilität und Eigeninitiative umschlägt in eine grundsätzliche Überforderung. Wenn nur noch geldwerte Leistung zählt, zählt alles andere nichts mehr. Die daraus resultierende innere Ödnis und Leere wird gefüllt mit bunten Bildern aus der Glotze und ohrenbetäubender Musik. Ansonsten ist Action angesagt, Action um jeden Preis, bis das Bungee-Seil reißt. Wer dem Druck nicht standhält, antwortet auf seine Weise. Nichts wert zu sein, nicht gebraucht zu werden, das kann niemand auf Dauer ertragen. Die einen suchen die Schuld für das persönliche Scheitern ausschließlich bei sich selbst und reagieren mit Rückzug und Depressionen bis hin zur völligen Apathie; die anderen finden sich Sündenböcke und toben ihre Wut und Aggression an ihnen aus. Beides ist das totale Gegenteil der Übernahme von Verantwortung für sich selbst und für die Gesellschaft. Solidarität und Gemeinsinn können in solchem Boden kaum wurzeln.


Es geht nicht darum, einem allgemeinen Kulturpessimismus zu frönen. Es gilt, den Anfängen zu wehren, denn - so formulierte es Bundeskanzler Gerhard Schröder vor dem Deutschen Bundestag - "eine frustrierte Jugend - das haben wir oft genug bitter erfahren müssen - kann zu Extremismus, zu Hass und auch zu Fremdenfeindlichkeit verführt werden. Das müssen wir miteinander mit aller Kraft verhindern." Es geht um einen Gesellschaftsentwurf, der die Herausforderungen der Globalisierung nicht mit hilflos platten Forderungen nach Anpassung beantwortet; es geht um wirkliche, wahrhaftige Erneuerung, die auf Grundwerten fußt. "Fairness, soziale Gerechtigkeit, Freiheit und Chancengleichheit, Solidarität und Verantwortung für andere: diese Werte sind zeitlos", so steht es im Schröder-Blair-Papier. Bei der Eröffnung des ersten gesamtdeutschen Bundestages im Jahr 1990 sagte Willy Brandt: "In der modernen Demokratie muss Solidarität verstanden werden als Verpflichtung der Stärkeren gegenüber den Schwächeren".


Die Meßlatte ist gesetzt für eine wertorientierte Politik, die den Anspruch aufrechterhält, in der Demokratie gesellschaftliche Wirklichkeit im Sinne des Gemeinwohls zu gestalten und eine gerechte Teilhabe aller zu ermöglichen. Die Mechanismen des Marktes selbst ermöglichen kein menschenwürdiges Leben. Wesentliche Fragen, wie die nach den Lebensbedingungen unserer Kinder, nach dem Schutz der Natur und damit also nach den Überlebensperspektiven für zukünftige Generationen können nur durch bewusst gesetzte, an Werten orientierte politische Rahmenbedingungen beantwortet werden. Politik mit solchem Selbstverständnis moderiert gesellschaftliche Prozesse und bezieht die Betroffenen in die Gestaltung bewusst ein. Sie wagt mehr Demokratie und behauptet ihren Vorrang gegenüber der Ökonomie, anstatt sich deren vielzitiertem "Terror" zu beugen. Das Phänomen der Globalisierung zwingt uns keineswegs, alles Politische dem Gesetz des Weltmarktes auszuliefern. Solche Preisgabe von Gestaltungsvermögen - und damit der Demokratie selbst - käme einem Selbstmord aus Angst vor dem Tode gleich. Damit wäre jede Debatte über Politikverdrossenheit obsolet.
Eine Politik dagegen, die sich zu unverzichtbaren Grundwerten bewusst bekennt, wird das Vertrauen auch und gerade der jungen Leute zurückgewinnen. Denn die junge Generation von heute ist nicht weniger solidarisch als die Generationen vor ihr, und sie hat ebenso viele Ideale. Es lohnt sich, diese Ideale zur Kenntnis und ernst zu nehmen und sie sich entfalten zu lassen. Mit bloßen Appellen an das Gute im Menschen ist es jedenfalls nicht getan. Solche Appelle werden immer dann sinnlos verhallen, wenn sie in der erlebten Wirklichkeit keine Konkretisierung finden. Identifikation mit unserer Verfassung, demokratische Beteiligung, Solidarität und Gemeinsinn kann man immer nur einfordern von denjenigen, die an sich selbst verspüren, dass sie diesem Staat, dieser Gesellschaft nicht gleichgültig sind. Das sei all denjenigen ins Stammbuch geschrieben, die vorgebliche Tugenden wie eine Monstranz vor sich hertragen und von jungen Leuten einfordern, während sie selbst offen oder verdeckt eine gnadenlose Ellenbogengesellschaft vorleben. Hinter solcher Heuchelei verbirgt sich ein Weltbild, das Ernst-Ulrich von Weizsäcker nicht ohne Grund auf dem Evangelischen Kirchentag als "Sozialdarwinismus" gebrandmarkt hat.


Es gibt eine Alternative. Es gibt die Chance, die Jugend für die Idee einer offenen, freiheitlichen, sozialen Demokratie zu begeistern: ein Staat, der nicht bevormundet, sondern Garant der Freiheit ist, der Chancen und Perspektiven eröffnet. Bildungsstätten, die jedermann zugänglich sind. Soziale Sicherungssysteme, die als Solidargemeinschaften bei Krankheit und Not und über einen gerechten Generationenvertrag im Alter ein Leben in Würde ermöglichen. Eine Gesellschaft, in der es sich lohnt, Verantwortung für andere zu übernehmen.


Im Alltag muss erfahrbar sein und bleiben, was Timur am Ende seiner Geschichte widerfährt, als zu ihm gesagt wird: "Du hast immer an andere Menschen gedacht und hast Dich um sie gekümmert. Sie werden dir jetzt gleiches mit gleichem vergelten."


Dieser Grundsatz ist so einfach, aber es scheint so schwer, ihm allgemeine Geltung zu verschaffen. Eine lohnende Aufgabe für die Politik ist das allemal. Wenn uns das gelingt, müssen wir um die Zukunft unserer Gesellschaft nicht bangen.

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