Technisches Versagen

Schon lange bevor irgendein Plakat gedruckt wurde, war die Kampagne der SPD bereits am Ende, der Kandidat beschädigt und frustriert, die Basis demotiviert - und das Kanzleramt verloren. Wie um Himmels willen war das möglich?

Ein Flugzeugabsturz hat nie nur eine Ursache. Viele kleine technische Probleme – die vereiste Düse des Geschwindigkeitsmessers, der Ausfall gleich mehrerer Kontrollinstrumente sowie Panikhandlungen – führen zum Abriss der Strömungslinie und unausweichlich in die Katastrophe. Äußere Wettereinflüsse sind so gut wie nie Ursache des Unglücks. Sie lassen nur bereits vorhandene Mängel unter hoher Belastung ihren schrecklichen Kreislauf entfalten.

Die SPD-Kampagne 2012/2013 stürzte völlig ohne äußere Einflüsse ab. Sie brauchte keinen Gegner und keine politischen Herausforderungen, an denen sie hätte zerbrechen können. Sie brauchte nur sich selbst und eine Vielzahl kleiner Mängel, um unter dem gewaltigen Druck einer Bundestagswahl zu zerbersten.

Der Kampf ums Kanzleramt ist eine unglaubliche Belastungsprobe. Die Spitzenakteure sind unter permanentem Stress, es geht um Präzision in der Strategie, um Geschwindigkeit und um ein Team, das sich gegenseitig blind vertraut. Auch noch um 0.35 Uhr muss ein möglicherweise gefährlicher Tweet eingeordnet und müssen Maßnahmen ergriffen werden. Ein Brand ist vor dem Entstehen zu löschen. Um das zu leisten, braucht es glasklare Verantwortlichkeiten. Genau hier aber hat die SPD ein strukturelles Problem, völlig unabhängig von den handelnden Akteuren.

Die fehlkonstruierte Partei

Bis Ende 1999 lag die Wahlkampforganisation der SPD in den Händen des Bundesgeschäftsführers, der dem Parteivorstand zuarbeitete. Der Posten des Generalsekretärs wurde erst für Franz Müntefering geschaffen, da Bundeskanzler Gerhard Schröder den Parteivorsitz von dem flüchtigen Oskar Lafontaine übernehmen musste und einen engen Vertrauten in der Parteizentrale benötigte. Müntefering wollte aber nicht auf den Posten des Bundesgeschäftsführers zurück, den er schon einmal hatte. Sondern er wollte mehr Eigenständigkeit und Legitimation. Kurzum: Die Stelle des Generalsekretärs wurde auf einen Mann maßgeschneidert, der das unbedingte Vertrauen des Parteivorsitzenden genoss und darüber hinaus die Organisation von Macht für den entscheidenden Faktor zwischen Sieg und Niederlage hielt. Zudem scharte er mit Matthias Machnig, Karl-Josef Wasserhövel und Michael Donnermeyer ein begnadetes Team um sich. Seither gibt es einen Generalsekretär, der vom Bundesparteitag gewählt wird und ein eigenes Machtzentrum bildet. Diesem Machtzentrum kommt in Zeiten der Opposition eine besondere Bedeutung zu, denn es ist neben dem Parteivorsitz und dem Fraktionsvorsitz die dritte, sichtbarste Rolle auf Bundesebene. Eine Position, die dem innerparteilichen Proporz und dem freien Spiel der Mächte ausgesetzt ist.

Zwei Voraussetzungen müssen für die Besetzung des Generalsekretariats nicht zwingend erfüllt sein: Man braucht weder das Vertrauen des Vorsitzenden, noch Wahlkampferfahrung. Es ist gut, wenn man beides hat – aber es gehört nicht zur Stellenausschreibung. Heute versteht die SPD das Generalsekretariat auch nicht mehr als unterstützendes, sondern als kontrollierendes Amt neben dem Parteivorsitzenden. Das kann man so wollen. Aber es ist ein Problem. Denn treten Konstellationen ein, in denen der Generalsekretär und der Parteivorsitzende nicht perfekt harmonieren, führt das zu Lagerbildungen im Haus. Dann kann in einer Zentrale, die für nichts anderes geschaffen wurde, als Macht für die Partei zu organisieren, ein Klima des Misstrauens und der gegenseitigen Lähmung entstehen.

Eine präventive Strategie gab es nicht

In einer bereits instabilen Konstellation können zusätzliche Akteure weiter zur Schieflage beitragen. Zum Beispiel, wenn ein Kanzlerkandidat ohne eigene Macht im Haus und ohne eingespieltes Team die Bühne betritt – und das auch noch zu einem Zeitpunkt, an dem offenbar niemand mit ihm gerechnet hat. Das hat nichts mit den faktisch handelnden Personen zu tun. Diese Konstellation ist ein Konstruktionsfehler, der nur dann überdeckt wird, wenn alle Akteure zufällig perfekt harmonieren. Ein in der Politik sehr seltener Fall. Den Stresstest eines Bundestagswahlkampfes kann ein solches Konstrukt überhaupt nicht bestehen – und hat es seit dem Abgang von Schröder/Müntefering auch nicht mehr.

Seit Juli 2011 bildete Peer Steinbrück gemeinsam mit Frank-Walter Steinmeier und Sigmar Gabriel die neue Troika, aus deren Mitte im Januar 2013 nach der Wahl in Niedersachsen der Kanzlerkandidat ernannt werden sollte. Von den dreien war Peer Steinbrück als einfacher Abgeordneter der einzige ohne substanziellen Stab um sich herum. In der Parteizentrale wurde keine der drei möglichen Kandidaturen konsequent vorbereitet, weil die intensive Beschäftigung mit einem der drei Kandidaten sofort zu Spekulationen über eine Vorentscheidung geführt hätte. So gab es, als am 28. September 2012 überstürzt die Kanzlerkandidatur Peer Steinbrücks verkündet wurde, keinen Fahrplan für diese Kandidatur, kein feststehendes Team, keinen Medien-Roll-Out für die nächsten Tage und vor allem keine Strategie. Vorbereitet war nur eine Kampagne, die leidlich auf jeden der drei passen könnte – also eigentlich auf keinen. Nun war die Verkündung überstürzt, aber dass es einer der drei werden würde, war lange klar. Es wäre dringend geboten gewesen, besonders für den organisatorisch am schwächsten aufgestellten Kandidaten wichtige Fragen im Vorfeld zu klären. Dass er von der Linkspartei als „Mann der Agenda 2010“ gebrandmarkt werden würde und interessierte Medien sich auf seine hohen Nebeneinkünfte stürzen würden, um einen Keil in die Anhängerschaft der SPD zu treiben, war offensichtlich. Es gab aber vorab keine Aufarbeitung dieser Schwachstellen und damit auch keine präventive Strategie.

An genau an diesem Punkt nahm die Katastrophe mit jener tödlichen Präzision ihren Lauf, der zum Absturz führen sollte. Denn ohne diese Anfangsfehler keine wochenlange Debatte über Vortragshonorare, daraus resultierend kein Interview zum Kanzlergehalt, in dessen Folge kein medialer Aufschrei über den Preis einer Flasche Pinot Grigio, kein Wellenschlagen zu Clowns und Berlusconi – und am Ende auch kein Mittelfinger. Man kann das unter dem Motto „Hätte, hätte, Fahrradkette“ als etwas nun eben nicht mehr Änderbares abtun. Wichtig aber ist, dass man das sehr wohl ändern kann. Nein, dass man es ändern muss. Denn es wird wieder genau so kommen – in spätestens vier Jahren. Die Organisationskraft der SPD ist dauerhaft in Gefahr, wenn das Machtzentrum nicht gut aufgestellt ist. Lange bevor irgendein Plakat gedruckt wurde, war diese Kampagne schon am Ende, der Kandidat dauerhaft beschädigt und frustriert, die Partei demotiviert und das Kanzleramt verloren.

Politik hatte keinen Raum mehr in dieser Kampagne. Die eigentliche Aufgabe des Kandidaten, der Partei wieder die dringend benötigten Wähler aus der Mitte zuzuführen, war unmöglich geworden. Man war nicht mehr in der Lage, eigene Themen zu setzen oder gar die Regierung in Bedrängnis zu bringen, sondern nur noch mit Schadensbegrenzung befasst. Kurz vor dem Aufprall gelang es dem Piloten noch einmal, die Maschine hochzuziehen und seine fliegerischen Künste zu demonstrieren. Damit glückte immerhin noch eine Bruchlandung. Aber eine Katastrophe war es dennoch. Denn noch im Juni 2012 war Merkels Koalition in Umfragen auf gerade einmal 39 Prozent gekommen, eine mög­liche Koalition von SPD und Grünen auf 45 Prozent. Der Abstand zwischen SPD und CDU/CSU hatte damals ganze 2 Punkte. Wie war es dann möglich, dass die Union 15 Monate später mit sagenhaften 15,8 Prozent Vorsprung durchs Ziel gehen konnte – dem größten Abstand zur SPD seit 1957? Nun, es gibt sie nicht, die eine Ursache.

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