Talkin' 'bout A Revolution

Manche sagen: Nach Fukushima wird nichts mehr so sein wie bisher. Aber das ist Unfug. Dasselbe war schon nach den Terrorangriffen am 11. September 2001 zu hören.

Manche sagen: Nach Fukushima wird nichts mehr so sein wie bisher. Aber das ist Unfug. Dasselbe war schon nach den Terrorangriffen am 11. September 2001 zu hören. Seither hat sich wahrhaftig vieles geändert – aber das Meiste ging für die meisten Menschen doch ungefähr so weiter wie zuvor. Tatsächlich verrät der Topos des Nichts-wird-mehr-so-sein vor allem oberflächliche Reflexion. Nicht einzelne Ereignisse, und seien sie auch noch so einschneidend, verändern den langfristigen Gang der Welt, sondern die Heraufkunft neuer historischer Gesamtlagen und die Weise, in der Gesellschaften diese neuen Lagen verarbeiten.

Im 19. Jahrhundert war die neue historische Großlage die nationalstaatlich verfasste Industriegesellschaft, im 20. Jahrhundert kamen (unter schweren Geburtswehen, mit Rückschlägen und längst nicht überall) Demokratie und Sozialstaat hinzu. Das war der Bezugsrahmen, in dem sich die großen politischen Bewegungen – in der Bundesrepublik: Sozialdemokratie, Christdemokratie und Liberalismus – bewegten und begriffen. Teils waren sie aus dieser Großlage hervorgegangen, teils hatten sie diese mit erschaffen, teils prägten sie wenigstens maßgeblich deren Fortentwicklung: „Soziale Marktwirtschaft“ (Adenauer/Erhard), „Mehr Demokratie wagen“ (Brandt/Scheel) oder „Dritter Weg“ (Blair/Schröder) – das sind Chiffren für mutige, notwendige, teilweise visionäre Revisonen von Orthodoxien, die mit veränderten Wirklichkeiten nicht mehr in Einklang standen. Diesen Aufbrüchen war jedoch sämtlich eines gemeinsam:  Sie bewegten sich, bei aller konzeptioneller  Radikalität, innerhalb des bestehenden industriegesellschaftlichen Bezugsrahmens. Sie strebten Veränderungen und Verbesserungen an, wiesen aber über den als vorgegeben angenommenen Kosmos nicht hinaus.

Inzwischen – und dafür ist Fukushima eher Symptom als Auslöser oder gar Ursache – ist es der industriegesellschaftliche Bezugsrahmen selbst, der nicht mehr zur Wirklichkeit passt. In seinem neuen Buch Die Ära der Ökologie beschreibt der Historiker Joachim Radkau die Ökologie als das „Signum unseres Zeitalters“. „Was früher die soziale Frage war, ist heute die ökologische Frage“, ergänzt der christdemokratische Vordenker Warnfried Dettling. Und in der Tat: Wir stehen an der Schwelle zu einem neuen Zeitalter mit neuen Prioritäten, einer grundsätzlich anderen globalen Konstellation. Bis 2050 wird die Weltbevölkerung auf neun Milliarden Menschen angewachsen sein, entsprechend steigen der Bedarf an Nahrungsmitteln und der Verbrauch endlicher Ressourcen. Dass wir derzeit die Abenddämmerung des fossilen Zeitalters erleben, ist eine ebenso schlichte Tatsache wie der Klimawandel mit seinen schon heute wirksamen ökonomischen, sozialen und politischen Folgen.

Natürlich hören unsere Gesellschaften nicht sogleich auf, industrielle Gesellschaften zu sein. Erst recht wäre es verrückt, die neue Konstellation als „Rückkehr“ in vorausgegangene agrarische Welten frei von Industrie und Technologie zu imaginieren. Im Gegenteil: Überhaupt nur mit ebenso klug entwickelter wie angewandter Industrie und Technologie werden wir in unserem Jahrhundert über die Runden kommen und – beispielsweise – neun Milliarden Menschen zugleich ernähren können. Für die SPD muss das zum zentralen Thema werden. Dennoch, so viel steht fest: Die alte Konstellation mit ihren gewohnten Koordinaten und Narrativen kommt nie wieder. Im neuen Zeitalter sind die alten Parteien auf einem Ozean von neuen Problemen, Erwartungen und Symbolen unterwegs, für den sie vorerst weder Kompass noch Karten besitzen. Sie müssen lernen, auf diesem Meer zu navigieren. Sonst droht der Schiffbruch.

Tobias Dürr, Chefredakteur

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