Stuttgart 21 demnächst in jedem Dorf?

Vor allem im Zuge der Energiewende kommen auf Deutschland enorme beteiligungspolitische Herausforderungen zu. Soll die infrastrukturelle Erneuerung der Republik gelingen, müssen Politik und Verwaltung neue Wege gehen, um Bürger umfassend in Entscheidungsprozesse einzubeziehen

Die deutschen Bürger machen mobil. Sie protestieren gegen Stromtrassen und Flughäfen, Windparks und Autobahnen. Selbstbewusst fordern sie Politik und Verwaltung heraus, ihre Sorgen, Nöte und Wünsche ernst zu nehmen. Der Ruf nach mehr Beteiligung und Mitsprache wird immer lauter. Gezielt suchen die Bürger nach Beteiligungsformen, über die sie bei konkreten Anliegen mitwirken können. Eine repräsentative Umfrage der Bertelsmann Stiftung ergab, dass sich 81 Prozent der Deutschen mehr Beteiligungs- und Mitsprachemöglichkeiten wünschen. Bei Infrastrukturvorhaben fordern sogar 89 Prozent mehr Informationen zu Planung und Umsetzung von den verantwortlichen Behörden. Nicht zuletzt kommt der wachsende Bedarf an Mitbestimmung in der steigenden Zahl von Bürgerbegehren, Bürgerentscheiden, Volksbegehren und Volksentscheiden zum Ausdruck.

Mitreden will vor allem die gebildete Mittelschicht

Dabei interessieren sich die Bürger umso mehr für Entscheidungsprozesse, je näher ein Thema an ihrer eigenen Lebenswirklichkeit liegt. Wenn es um Projekte in der eigenen Region geht, wünschen sich über 90 Prozent der Befragten mehr Mitsprachemöglichkeiten. Stehen Vorhaben im eigenen Bundesland zur Debatte, sind es noch knapp 73 Prozent. Handelt es sich um ein anderes Bundesland, fordern nur noch 17 Prozent mehr Beteiligung.

Die Gruppe derjenigen, die sich an direktdemokratischen Verfahren beteiligen, ist bemerkenswert homogen: An vorderster Front von Bürgerprotesten und Beteiligungsprozessen stehen nicht „Hans und Lieschen Müller“, sondern Bildungsbürger aus der Mittelschicht, die über (Wissens-)Ressourcen verfügen, politisch oder zivilgesellschaftlich engagiert sind und eine gewisse Affinität für neue Kommunikationskanäle mitbringen. Schnell erlangen sie Fachkenntnisse, die vormals Behörden und Experten vorbehalten waren. Und sie sind in der Lage, Anhänger zu mobilisieren.

Das setzt Politik und Verwaltung unter wachsenden Druck: Einerseits müssen sie bei Infrastrukturvorhaben hohen verwaltungsrechtlichen Anforderungen gerecht werden, andererseits sollen sie ausreichend Raum für die vielfältigen Wünsche der Bürger schaffen und diese berücksichtigen. Aber wenn sich Behörden formaljuristisch korrekt verhalten, empfinden die Menschen das nicht automatisch als legitim. Im Gegenteil: Ziehen sich die Behörden auf reine Verwaltungsakte zurück, fühlen sich die Bürger nicht selten zusätzlich dazu angespornt, zu protestieren und Klagen einzureichen.

In Anbetracht dieses Spannungsverhältnisses verwundert es, dass die Vorbilder für gut funktionierende Bürgerbeteiligung rar sind und die Liste an Vorzeigeprojekten kurz bleibt. Warum wird Bürgerbeteiligung bei Infrastrukturprojekten nur so zögerlich in die Tat umgesetzt? Und welche Bedingungen müssen erfüllt sein, damit sie gelingt?

Unverständnis zwischen Bürgern und Verwaltung

Klar ist: Treffen Bürger und die Verwaltung aufeinander, regiert oft Unverständnis. Wo auf der einen Seite individuelle Motive und Interessen das Handeln prägen, geht die andere Seite nach vorgeschriebenen Abläufen und Gesetzen vor. Formelle Planungs- und Genehmigungsverfahren zielen in erster Linie darauf ab, Rechtmäßigkeit sicherzustellen, gesetzliche Vorgaben zu prüfen und Ansprüche unmittelbar Betroffener zu schützen. Hingegen sehen es die Behörden nicht als ihre vordringliche Aufgabe an, die breite Öffentlichkeit zu informieren und beschränken die Beteiligung der Bürger oft nur auf ein Mindestmaß.

Ein weiterer Grund dafür, dass viele Infrastrukturvorhaben konfliktträchtig sind, liegt in den hochkomplexen und lang andauernden Planungs- und Genehmigungsverfahren. Bis die ersten Bauarbeiten beginnen, können bei einem Autobahnprojekt dreißig Jahre vergehen. Selbst ein weitgehend problemloses Vorhaben wie der Bau der Autobahn A 38 benötigte von der Bedarfsplanung bis zur Einweihung fast zwanzig Jahre. Die Gründe für diesen langen Zeithorizont sind sowohl die verschiedenen Rechtsebenen von EU, Bund und Ländern, die den Prozess beeinflussen, als auch die Tatsache, dass bei den Planungen und Entscheidungen unzählige Akteure aus mehreren politischen und administrativen Ebenen mitmischen.

Beim Bau der A 38 waren nicht weniger als zwölf verschiedene Ministerien, Behörden und Gerichte sowie eine Vielzahl von Trägern öffentlicher Belange beteiligt, darunter Behörden der Bundes-, Landes- und Kreisebene, Wirtschafts- und Umweltverbände sowie Rettungsdienste. Allein die Bedarfsplanung, das Raumordnungs- und das Planfeststellungsverfahren umfassten im konkreten Fall 27 Prozessschritte. Erschwerend kommt hinzu, dass der Mangel an Information, Transparenz und Kommunikation das Misstrauen der Bürger fördert. Denn schnell entsteht der Eindruck, die Bauträger hätten etwas zu verbergen oder würden Informationen gar vorsätzlich manipulieren.

Deutschland einig Nimbyland

Es ist die Bundespolitik, die grundlegende Entscheidungen über große Infrastrukturvorhaben trifft. Für die Behörden steht dann nur noch das „Wie“ im Zentrum ihrer Arbeit. Und die Bürger kommen häufig erst im letzten Schritt zu Wort, wenn das Projekt schon weitgehend durchgeplant ist. Dadurch kann die befremdliche Situation entstehen, dass sie mit den Folgen von jahrzehntealten Entscheidungen konfrontiert werden, über die sie nach heutigem Verständnis nur unzureichende Informationen erhalten haben. Kein Wunder, wenn dann bestenfalls noch minimale Entscheidungsspielräume bestehen.

Häufig prägen konkurrierende Ziele und widerstreitende Interessen die Konflikte um überregional bedeutsame Infrastrukturprojekte, wobei die Interessen der Bürger vor Ort nicht immer mit dem Gemeinwohl identisch sind. Grundsätzlich stimmt eine Mehrheit der Bürger dem Ausbau erneuerbarer Energien zu. Aber sobald Projekte in unmittelbarer Nähe verwirklicht werden sollen, verwandelt sich Zustimmung oft in Ablehnung – das so genannte Not-in-my-backyard-Phänomen. Das ist nicht erstaunlich, denn die Betroffenen müssen nicht selten mit drastischen Folgen leben wie sinkenden Immobilienwerten, Gesundheitsbelastungen und dem Verlust von Lebensqualität. Ein Interessenausgleich oder gar eine Konsenslösung, mit der alle Parteien zufrieden sind, ist in solchen Situationen kaum zu erreichen.

Konflikte um Infrastrukturprojekte werden üblicherweise lokal ausgetragen. Häufig bildet sich eine charakteristische Frontstellung heraus: Die Interessen der Gegner stehen im Vordergrund und werden von einer zugespitzten Berichterstattung befeuert. Betroffene und Naturschutzverbände schließen sich zusammen, um mit viel Energie und Ausdauer für die Verhinderung zu werben. Je anspruchsvoller das Engagement, desto ungleicher ist die Gesamtbevölkerung repräsentiert. Das bedeutet: Ressourcenarme Gruppen mit ihren Interessen sind weniger gut vertreten als ressourcenstarke Gruppen. Kaum präsent sind hingegen diejenigen Bürger, die nur indirekt von einem Vorhaben betroffen sind oder die davon profitieren würden, aber auch Interessengruppen, die das Projekt ebenfalls befürworten. Diese Akteure scheuen konfliktreiche und moralisch aufgeladene öffentliche Diskussionen und verlassen sich auf das formelle Verfahren. Zugleich lassen sich Politiker der Bundes- und Landesebene, die seinerzeit über den Bedarf entschieden haben, vor Ort häufig nicht blicken. Durch diese Schieflage der Repräsentation vor Ort fehlt es an ausgewogenen Informationen für die Meinungsbildung. In ergebnisoffenen Prozessen kann diese ungleiche Repräsentation dazu führen, dass sich die Partikularinteressen einzelner Gruppen durchsetzen.

Worin bestehen angesichts dieser schwierigen Rahmenbedingungen die Chancen von Bürgerbeteiligung? Indem lokales Wissen und die Weisheit der Vielen genutzt werden, können qualitativ bessere, innovative und kreative Lösungen erzielt werden, die auf größere Akzeptanz stoßen. Auch lassen sich Widerstände und Konfliktpotenziale frühzeitiger erkennen. Erfolgreiche Beteiligung führt häufig zu einer höheren Identifikation der Bürger mit dem Projekt und schafft Vertrauen zwischen allen Beteiligten.

Um diese positiven Effekte zu erzeugen, muss Bürgerbeteiligung einige Anforderungen erfüllen. Obwohl es keine Patentrezepte gibt, gilt der Dreiklang: frühzeitig, kontinuierlich und transparent. Die Beteiligung muss zugeschnitten sein auf die Situation vor Ort, die jeweilige Planungsphase und den Gestaltungsspielraum. Zudem müssen die Ziele des Beteiligungsprozesses klar sein. Denn es macht einen Unterschied, ob man nur informieren oder mit den Bürgern konkrete Handlungsoptionen erarbeiten will. Geht es um das „Ob“ oder das „Wie“? Je nach Rahmenbedingungen und Ressourcen sind passende Formate und Methoden anzuwenden.

Vor diesem Hintergrund erscheinen fünf konkrete Empfehlungen für Bürgerbeteiligung bei Infrastrukturprojekten plausibel.

Verlässlichkeit und Transparenz

Bürgerbeteiligung darf erstens kein schmückendes Beiwerk sein, sondern muss als ernst gemeintes Verfahren durchgeführt werden. Denn die Bürger merken schnell, wenn sie nur pro forma beteiligt werden. Deshalb ist rechtzeitig offen zu legen, was noch verhandelbar ist. Politik und Verwaltung sollten einen Beteiligungsprozess nur planen, wenn sie wirklich dahinter stehen. Wirksame Beteiligung muss ehrlich, verbindlich und verlässlich sein. Das setzt die Offenheit aller Akteure voraus – auch aufseiten der Bürgergruppen. Entscheidend ist, dass der Prozess eine Win-win-Perspektive für alle eröffnet.

Zweitens sollten die Behörden es als ihre Bringschuld ansehen, Bürger kontinuierlich, über alle Planungsstufen hinweg, gründlich und verständlich zu informieren. Die gesetzlich vorgeschriebenen Pflichtinformationen allein, wie beispielsweise die Planauslegung im Rathaus oder die Ankündigung einer Anhörung im Amtsblatt, sind nicht mehr zeitgemäß.

Infrastrukturvorhaben werden erfahrungsgemäß in jeder Planungsphase von den Gegnern mit der „Ob“-Frage konfrontiert. Die Bürger müssen daher jederzeit nachvollziehen können, warum das Projekt erforderlich ist, welche Entscheidungen wer, wann und wie getroffen hat und welche Verbindlichkeit diese haben. Kurzum: Die Projekte müssen transparent sein. Nur so kann eine faktenbasierte Diskussion entstehen. Dabei hat sich die Einbindung neutraler Moderatoren und unabhängiger Experten als sinnvoll erwiesen. Sie werden als glaubwürdig wahrgenommen und tragen dazu bei, dass Fakten und nicht Emotionen den Dialog bestimmen. Außerdem gilt es, neben Printprodukten weitere Informationswege wie Online-Plattformen zu nutzen.

Politik und Verwaltung haben es in der Hand

Drittens sind Bürgerdialoge und Bürgerbeteiligungen so zu organisieren, dass Beteiligungsgerechtigkeit entsteht. Beispielsweise müssen beim Bau einer Umgehungsstraße betroffene Befürworter, die sich Lärmentlastung erhoffen, ebenso gehört werden wie Gegner, die für den Erhalt ihrer Lebensqualität am Stadtrand kämpfen. Auch diejenigen, die sich von der Ortsumgehung kürzere Reisezeiten versprechen, müssen einbezogen werden. Durch die Aktivierung von Bürgern jenseits der unmittelbar Betroffenen und der ressourcenstarken „üblichen Verdächtigen“ besteht die Chance, die Vor- und Nachteile besser abzuwägen und das Gemeinwohl zur Grundlage von Entscheidungen zu machen. Die Aktivierung unterrepräsentierter Gruppen, beispielsweise Jugendlicher oder sozial Schwacher, kann über niedrigschwellige Angebote oder eine Zufallsauswahl erreicht werden. Zudem müssen die Anliegen der Bundes- und Landesebene durch deren Vertreter vor Ort eingebracht werden.

Viertens sollten die Bürger bei besonders konfliktträchtigen Projekten unbedingt ergebnisoffen an der „Ob“-Frage und der Diskussion über Alternativen beteiligt sein. Einen neuen Weg, Information, Dialog und direktdemokratische Verfahren zu kombinieren, beschritten die Verantwortlichen zum Beispiel bei einem am 22. September 2013 durchgeführten Bürgervotum über den Bau einer Umgehungsstraße in Waren an der Müritz. Ein solches Vorgehen bedeutet jedoch keineswegs, dass Politik und Verwaltung auf ihre Steuerungsmacht verzichten müssen.

Fünftens benötigt die flexible, an lokale Gegebenheiten angepasste informelle Bürgerbeteiligung klare und verbindliche Schnittstellen, über die ihre Inhalte in das formelle Verfahren einfließen. Durch eine gesetzliche Regelung sollte auch die Finanzierung informeller Verfahren sichergestellt werden. Zudem hat es sich für die Akzeptanz der Bürger als wichtig erwiesen, Mindeststandards für die Qualität von Information, Dialog und Beteiligung einzuhalten.

Diese Vorschläge können zu einem modernen Rollen- und Aufgabenverständnis in Verwaltung und Politik beitragen, bei dem Kommunikation und Beteiligung als selbstverständliche Elemente von Planung angesehen werden. Ziel muss es sein, eine neue Beteiligungskultur mit hohen Qualitätsstandards und eine auf Kooperation mit den Bürgern ausgerichtete Verwaltungspraxis aufzubauen, die den gestiegenen Bedürfnissen an Mitwirkung und Teilhabe entspricht und einen verlässlichen Rahmen schafft.

Gerade auch im Zuge der Energiewende kommen große beteiligungspolitische Herausforderungen auf uns zu. Denkbar sind zwei Szenarien: Entweder professionalisieren wohlorganisierte „Wutbürger“ ihre Protestaktivitäten weiter und in jedem Dorf entsteht ein kleines Stuttgart 21, oder aber die Bürger werden repräsentativ beteiligt und können ihre Meinungen und ihr Wissen einbringen. Politik und Verwaltung haben es in der Hand, die Weichen in die richtige Richtung zu stellen.

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