Steinbruch für die Arbeitswelt von morgen

Sven Rahner hat Gespräche mit Menschen geführt, die über die Zukunft der Arbeit im 21. Jahrhundert nachdenken

Wer in den vergangenen Wochen einem Mitarbeiter des Autobauers Daimler eine E-Mail geschrieben hat, bekam möglicherweise eine ungewöhnliche Antwort: „Vielen Dank für Ihre Nachricht. Sie wurde gelöscht.“ Was wie eine Provokation klingt, ist die neueste Idee von Unternehmensleitung und Betriebsrat, um die Angestellten vor Überlastung zu schützen. „Unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sollen sich im Urlaub erholen und keine geschäftlichen E-Mails lesen“, sagt der Arbeitsdirektor von Daimler Wilfried Porth. Um den Stau im elektronischen Postfach zu verhindern und den Mitarbeitern einen entspannten Start mit leerem Schreibtisch nach den schönsten Wochen des Jahres zu ermöglichen, wurde der Anwesenheitsassistent „Mail on Holiday“ entwickelt. In diesem Sommer konnten ihn – freiwillig und von der Unternehmensführung nicht erfasst – erstmals alle rund 100 000 Daimler-Beschäftigten in Deutschland nutzen. „Das ist eine emotionale Entlastung“, ist Porth überzeugt.

Wer kürzer arbeitet, arbeitet effektiver

Auch Mats Pilhem will für Entlastung sorgen. „Wer kürzer arbeitet, arbeitet besser und effektiver“, ist der Stadtrat von der linken Vänsterpartiet aus dem schwedischen Göteborg sicher. Er hat durchgesetzt, dass 30 Mitarbeiter eines kommunalen Altenheims ein Jahr lang nur sechs statt acht Stunden am Tag arbeiten – bei vollem Lohnausgleich. Danach will Pilhem Bilanz ziehen. Der Stadtrat hofft, dass die Kurzarbeiter seltener krank werden. Langfristig könnte Göteborg also sogar sparen, wenn die städtischen Angestellten für ihr Geld kürzer arbeiten. Denn kürzer bedeutet nicht zwangsläufig weniger. Nach sieben Stunden Arbeit sei niemand mehr richtig aufmerksam und jeder werde automatisch langsamer, ist der Stadtrat überzeugt. „Wir glauben, es ist Zeit, dem Sechs-Stunden-Tag eine echte Chance zu geben.“

Die beiden Beispiele zeigen: Es ist etwas in Bewegung in der Arbeitswelt.

Nachdem jahrzehntelang der Acht-Stunden-Tag und die Fünf-Tage-Woche als Maß aller Dinge galten, wird das Verlangen nach flexibleren Arbeitszeitmodellen stetig größer, rückt die Ausbalancierung von Arbeit und Freizeit bei immer mehr Menschen in den Vordergrund. „Die Arbeitswelt ist im Umbruch“, so der Politikwissenschaftler Sven Rahner. „Wissenschaftliche Beobachter sprechen von einer ‚Zeitenwende auf dem Arbeitsmarkt‘ oder einem ‚Strukturbruch der Industriemoderne‘‚, inmitten derer wir uns befinden.“ Was werden die Ergebnisse dieses Prozesses sein? Und was bedeuten sie für die Arbeitnehmer und damit auch für die Gesellschaft?

Sven Rahner hat sich auf die Suche nach Antworten begeben, wie die Arbeitswelt der Zukunft aussehen könnte. Im Rahmen seiner Dissertation zum Thema Fachkräftesicherung hat er Protagonisten unterschiedlicher Bereiche getroffen, die mit ihren Ideen und Vorstellungen die Arbeitswelt von morgen entscheidend prägen könnten. Für Rahner sind sie die „Architekten der Arbeit“.

Teilweise stundenlang hat er mit ihnen gesprochen – mal von Angesicht zu Angesicht, mal per Videokonferenz. 18 dieser Gespräche sind nun als Buch erschienen. Rahners Gesprächspartner reichten vom Soziologen Richard Sennett bis zum Investigativ-Journalisten Günter Wallraff, von der früheren Siemens-Arbeitsdirektorin Brigitte Ederer bis zum ehemaligen SPD-Arbeitsminister Franz Müntefering. So unterschiedlich der Hintergrund der Interviewten auch ist, eines ist ihnen laut Rahner gemein: „Sie wollen nicht alles so lassen, wie es ist. Sie hinterfragen, vergleichen, fordern heraus und versuchen so, neue Denkmöglichkeiten zu erschließen.“

Die Herausforderungen sind bekannt …

Dies trifft freilich nicht auf alle zu. Denn während etwa der amerikanische Arbeitsökonom Richard B. Freeman anregt, Arbeitnehmer zu Kapitaleignern ihres Unternehmens zu machen („Die Arbeitnehmer haben dann mehr als ihre reine Arbeitskraft, sie haben einen Anteil am Betrieb und somit einen gewissen Schutz.“) oder der frühere Telekom-Personalchef Thomas Sattelberger fordert, dass im Unternehmen der Zukunft „zumindest die operativen Führungskräfte von den Mitarbeitern direkt gewählt werden“, verlieren sich andere Gesprächspartner im Ungefähren und Formelhaften.

Bemerkenswert ist, dass die Bestandsaufnahme der derzeitigen Situation auf dem Arbeitsmarkt trotz unterschiedlicher gesellschaftlicher und ideologischer Hintergründe der Interviewten – egal ob Gewerkschafter, Unternehmensvorstand oder Wissenschaftler – weitgehend gleich ausfällt. Der demografische Wandel wird zu einem Mangel an Fachkräften führen, sofern Politik und Wirtschaft nicht gegensteuern. Frauen sind auf den Führungsebenen deutscher Unternehmen noch immer drastisch unterrepräsentiert. Einfache Arbeiten werden sukzessive komplexen Tätigkeiten Platz machen. Arbeitnehmern wird eine ausgewogene Work-Life-Balance immer wichtiger. Und aufgrund der längeren Lebenserwartung wird sich die Lebensarbeitszeit verlängern müssen.

„Es gibt in Deutschland im Hinblick auf die vielfachen Herausforderungen kein Erkenntnisdefizit, sondern ein Handlungsdefizit“, sagt der ehemalige DGB-Vorsitzende Michael Sommer. Und Franz Müntefering sagt: „Das Bewusstsein für die Brisanz der Entwicklung ist vorhanden. Es muss aber auch gehandelt werden.“ Daran hapere es bisher.

 … es muss aber auch gehandelt werden

Den revolutionärsten Handlungsvorschlag der 18 „Architekten der Arbeit“ macht die Vorsitzende der Linkspartei, Katja Kipping. „Eine Gesellschaft, in der nach wie vor das ‚Nadelöhr‘ Erwerbsarbeit zur Sicherung der Existenz und Teilhabe besteht, muss sich Gedanken darüber machen, wie die grundlegende Existenz- und Teilhabesicherung von der Teilhabe an der Erwerbsarbeit entkoppelt wird“, fordert sie. „Wir müssen nicht länger arbeiten, sondern kürzer.“ Kippings Rezept: die Einführung des bedingungslosen Grundeinkommens. „Das Grundeinkommen ist eine Demokratiepauschale, weil es jede und jeden in die Lage versetzt, sich ökonomisch unerpressbar und abgesichert in die Gestaltung der öffentlichen Angelegenheiten einzubringen“, sagt sie. Und weiter: „Das Grundeinkommen ist verbunden mit dem Ausbau und der Demokratisierung der sozialen Sicherungssysteme, also einer Umwandlung des Großteils der sozialen Versicherungen in Bürgerversicherungen, und der schrittweisen Einführung gebührenfreier Zugänge zu gemeinsamen Gütern, zur öffentlichen Infrastruktur und Dienstleistungen.“

Ist also „die Abschaffung jeglichen Erwerbsarbeitszwangs“, wie Katja Kipping ihre Vision für die Zukunft der Arbeit formuliert, die Antwort auf die Herausforderungen der Arbeitswelt? Diese Frage lässt Sven Rahner in seinem Buch bewusst unbeantwortet. Die 18 Experteninterviews mit den Architekten der Arbeit bilden für ihn „ein buntes Mosaik an Positionen, Entwürfen und daraus entstehenden Kontroversen“. Sein Buch versteht er als „Einladung zum Nachdenken und Mitdiskutieren“ und als einen Auftakt für eine breite Debatte in Wissenschaft und Öffentlichkeit. „Rund 40 Jahre nach dem Start des umfangreichen staatlichen Aktionsprogramms ‚Forschung zur Humanisierung des Arbeitslebens‘ (1974 bis 1989) ist es vor dem Hintergrund der vielfachen Erschütterungen unserer Arbeits- und Lebenswelt zweifellos erneut an der Zeit, die Qualität der Arbeit wieder stärker in den Mittelpunkt von Forschungsvorhaben und öffentlichen Debatten zu rücken“, schreibt Rahner. Zugleich fordert er, „dass sich der politische Fokus in der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik in Zukunft von der Begünstigung einzelner Berufsgruppen am Ende der Erwerbsbiografie auf die gezielte Bildungsförderung aller Bevölkerungsgruppen während des gesamten Erwerbsverlaufs verlagert“. Und er plädiert dafür, die Arbeitslosenversicherung hin zu einer Arbeitsversicherung weiterzuentwickeln. Dadurch könne sich der Arbeitsmarkt künftig durch „wiederkehrende Chancen auf unkomplizierte Einstiege, gelingende Umstiege und mögliche Aufstiege“ auszeichnen.

Die ganze Debatte in einem Buch

Derart weitreichende Reformvorschläge äußern Rahners Gesprächspartner leider höchstens verhalten. Die Schlussfolgerungen aus dem Gesagten müssen die Leser selbst ziehen. Ihnen bietet Rahners Buch einen reichhaltigen Steinbruch guter Ideen für eine bessere Arbeitswelt. Einen derart kompakten Überblick über bestehende Ideen und den derzeitigen Stand der Debatte suchte man bisher vergebens. In der Zusammenführung der unterschiedlichsten Positionen liegt der besondere Wert dieses Buches – nicht zuletzt für politische Entscheider. Gerade ihnen wünscht man von Herzen den nötigen Mut, die formulierten Vorschläge in die Tat umzusetzen.

Sven Rahner, Architekten der Arbeit: Positionen, Entwürfe, Kontroversen, Hamburg: edition Körber-Stiftung 2014, 312 Seiten, 16 Euro

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